Der Essay - Beispiele, Merkmale, Aufbau
Essay
Beispiel für einen Essay
PDF-Arbeitsblatt zum Essay
Der Essay
Im Essay untersucht der Autor gesellschaftliche Phänomene
(soziale Medien, Rechtsradikalismus ...) wissenschaftliche Forschung (Sinn und
Unsinn der Gentechnik ...) und Entwicklungen in der Kultur (Entwicklung der
Pop-Musik in der Sackgasse?). Der Autor setzt sich aus eigener Sicht intensiv
mit dem jeweiligen Thema auseinander. Wissenschaft und Logik stehen dabei nicht
im Vordergrund.
Dies ermöglicht die Betrachtung eines Themas aus verschiedensten Perspektiven.
So kann das Thema "Leistungsbewertung in der Schule" nicht nur aus Sicht von
Bewertungskriterien betrachtet werden, es können hier auch Meinungen und
Aussagen von Schülern, Eltern, Psychologen und Wirtschaftsmanagern in die
Überlegungen einbezogen werden.
Essays wägen oft das Für und Wider
eines Thema gegeneinander ab und stellen auch, manchmal auf amüsante Art und
Weise, rhetorische Fragen.
Unterschied zur Analyse:
Im Essay ist der Autor nicht an wissenschaftliche Vorgehensweisen gebunden.
Beispiel für einen Essay
Alexander von Humboldt.
Als die Zusammenstellung von Briefen und Gesprächen, welche
zwischen Humboldt und Varnhagen gewechselt worden sind, veröffentlicht wurde,
war ihr Eindruck ein tiefgehender. Das Publikum verschlang die Blätter, die ihm
hier geboten wurden, und zwar ein Publikum aus allen Ständen.
Darüber herrschte kein Zweifel, dass mit den so aller Welt zugänglich gemachten
Vertraulichkeiten (denn Geheimnisse waren es nicht) ein Missbrauch getrieben
sei, den nichts entschuldigen könnte. Wir sind durch die Zeitungen daran
gewöhnt, Meinungen, Charaktere und sogar Privatverhältnisse rücksichtslos
öffentlich behandelt zu sehen. Allein dergleichen beleidigt kaum mehr. Jedermann
erkennt den Einfluss der momentanen Erregung. Die sich berührt fühlen, antworten
entweder oder ignorieren den Angriff. Alle Welt aber vergisst bald, was so
gesagt worden ist, und niemand möchte darum auf Pressefreiheit Verzicht leisten
wollen. Wird die Sache zu arg, so kann man sich an die Gerichte wenden. Was aber
soll geschehen, wenn die einschneidenden Äußerungen eines verstorbenen
Staatsmannes, die im geheimsten Gespräch einem anderen Staatsmann gegenüber
getan worden sind, sich plötzlich aufgezeichnet und gedruckt finden?
Denken wir uns eine in bester Eintracht lebende Familie.
Verstimmungen, welche sich in gereizten Worten Luft machen, können auch in ihr
nicht ausbleiben. Sie liegen in der Natur der Menschen und entstehen überall.
Mit der Erregung aber schwindet auch die Erinnerung daran und trotz der bösesten
Reden, die hier oder dort vielleicht gefallen sind, bleibt die allgemeine
Einigkeit und das Vertrauen. Nun plötzlich aber entdeckte sich, nehmen
wir an, es sei eine unsichtbare Hand immer dann tätig gewesen, wenn gerade am
empfindlichsten dieser oder jener sich über Bruder, Schwester, sogar über Eltern
oder Kinder geäußert und all diese Dinge fänden wir aufgezeichnet und gedruckt
vor. Es wäre nicht möglich, ein stärkeres Gift zu ersinnen, um mit einem Schlage
den geschlossensten Kreis zu sprengen. Immer wieder würde jeder neu lesen, in
unvertilgbarer Schrift, was der andere über ihn gesagt, und das Vertrauen fortan
vernichtet sein.
Etwas Ähnliches geschah mit der Herausgabe der Briefe und Gespräche Humboldts.
Varnhagen war zuletzt noch einer der wenigen gewesen, die die alten Zeiten
durchlebten. Zu ihm kam Humboldt dann und wann und überließ sich dem freien
Ausdruck dessen, was ihn ärgerte, betrübte und belastete. Was in seinen Briefen
steht, ist in geringerem Maße verfänglich, seine mündlichen Äußerungen aber, die
wenn er wieder gegangen war, von Varnhagen notiert wurden, enthalten das für
viele unerträglich Beleidigende.
Der Unterschied zwischen geschriebenen Gedanken und mündlicher Rede ist der,
dass man dort stets etwas weniger zu sagen pflegt als man denkt, hier aber
leicht etwas mehr sagt als man gedacht hat. Dieser Unterschied ist so stark,
dass man sich beim Schreiben immer auf das berufen darf, was man, abgesehen von
den einzelnen Worten, im Ganzen sagen wollte, was zwischen den Zeilen steht. Wer
etwas schreibt, denkt nach und fordert Nachdenken, wer etwas spricht, empfindet
und fordert Empfindung, deshalb braucht er stärkere Akzente. Ich kann einem
Manne schreiben, er gefalle mir nicht, in einer Art dass jeder aus dem Satze
herausliest, ich hätte ihn einen elenden Kerl nennen wollen; dagegen wenn ich
mündlich die schärfsten Ausdrücke gebrauche, bedeuten sie immer nur, dass ich in
einem bestimmten Momente aus einer bestimmten Ursache mich zu diesem oder jenem
Worte hinreißen ließ, das, je durchdringender es klingt, nur die gesteigerte
Leidenschaft, die mich selber beherrschte, zum Ausdruck brachte. Solche
Äußerungen deshalb sind wahr und unwahr zu gleicher Zeit, und derjenige, der ein
gesprochenes Wort hinter dem Rücken dessen, von dem es ausgeht, niederschreibt
und in die Welt schickt, begeht ein Unrecht.
Wenn wir also Humboldts Briefe ohne seinen Auftrag herausgegeben, seine Worte
ohne sein Wissen aufgezeichnet und gleichfalls gedruckt sehen, so fällt diese
Handlung dem allein zur Last, von dem sie ausgeht, und zwar bedarf es hierzu
keines besonderen Verdikts (Urteilsspruch), sondern die Sache richtet sich
selbst. Es gibt ein jedermann bekanntes Gesetz des Erlaubten und des
Nichterlaubten. Wer dagegen fehlt, empfängt dadurch schon, dass er fehlt, seine
Bestrafung und es findet keine Appellation (Anfechtung) statt, denn es existieren
weder Kläger noch Gerichtshof. Kläger ist die vollbrachte Tat selbst und
der Gerichtshof das Gefühl des Publikums.
Jetzt, wo das Buch den Reiz der Neuheit verloren hat, ist es wohl erlaubt, diese
Bemerkungen über sein Erscheinen aufzuzeichnen. Die Heftigkeit des ersten
Urteils hat sich gemildert. Man ist sich bewusst geworden, dass die Angriffe,
die es auf noch unter uns weilende Persönlichkeiten enthält, von diesen
abgeglitten sind, als wären sie nicht geschehen, eine Erfahrung, die noch
überall gemacht wurde, wo gegen lebende Männer auch die schärfsten und sogar die
gerechtesten Dinge gesagt worden sind. Es ist, als könnte an den Menschen, so
lange sie da sind, kein Urteil anderer haften bleiben, es wird wie Kleider
abgetragen und verschwindet. Stattdessen tritt Humboldts Charakter, wie er sich
in den Briefen und Gesprächen zeigt, immer mehr als der eigentliche Inhalt
heraus. Er ist tot. Über ihn beginnt sich ein bleibendes Urteil zu bilden und
die Frage muss beantwortet werden, was für die Anschauung seines innersten
Wesens hier zu gewinnen sei. ...
Quelle: Neue Essays über Kunst und Literatur, Herman Grimm, Berlin 1865.
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