Fabeln von Gotthold Ephraim Lessing
Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781)
Äsop und der Esel
Das beschütze Lamm
Das Geschenk der Feen
Das Ross und der Stier
Das Schaf
Das Schaf und die Schwalbe
Der Adler
Der Adler und die Eule
Der Adler und der Fuchs (+)
Der Affe und der Fuchs
Der wilde Apfelbaum
Der Bär und der Elefant
Der Besitzer des Bogens (+)
Der Dornstrauch
Die Eiche
Die Eiche und das Schwein
Die Esel
Der Esel und das Jagdpferd
Der Esel mit dem Löwen
Der Esel und der Wolf (+)
Der Fuchs
Der hungrige Fuchs (+)
Der Fuchs und die Larve
Der Fuchs und der Storch
Die Gans
Der Geist des Salomo
Der Geizige
Die Grille und die Nachtigall
Der Hamster und die Ameise
Der Hirsch
Der junge und der alte Hirsch
Der Hirsch und der Fuchs
Die Hunde
Der Löwe und der Hase
Der Löwe und die Mücke
Der Löwe mit dem Esel
Der Löwe und der Tiger
Der Luchs und der Tiger
Der Mann und der Hund
Der Pelikan
Der Phönix
Der Pfau und der Hahn
Die Pfauen und die Krähe
Der Rabe
Der Rabe
Der Rabe und der Fuchs
Der Rangstreit der Tiere
Der Schäfer und die Nachtigal
Die Schwalbe
Die junge Schwalbe
Die Sperlinge (+)
Der Sperling und der Strauß
Der Stier und der Hirsch (+)
Der Strauß
Der Strauß
Der Tanzbär
Der kriegerische Wolf (+)
Der Wolf und das Schaf
Der Wolf und der Schäfer
Der Wolf auf dem Totenbette
Die Traube
Die Wasserschlange (+)
Die Maus
Die Nachtigall und die Lerche
Die Nachtigall und der Pfau
Die Geschichte des alten Wolfs
Die Ziegen (+)
Jupiter und das Schaf
Merops
Minerva
Zeus und das Schaf
Gotthold Ephraim Lessing
Äsop und der Esel
Der Esel sprach zu Äsop:
„Wenn du wieder ein Geschichtchen von mir
ausbringst, so lass mich etwas recht Vernünftiges und Sinnreiches sagen.“
„Dich etwas Sinnreiches!“, sagte Äsop;
„wie würde sich das schicken? Würde
man nicht sprechen, du seiest der Sittenlehrer, und ich der Esel?“
Gotthold Ephraim Lessing
Der Adler
Man fragte den Adler: „Warum erziehst
du deine Jungen so hoch in der Luft?“
Der Adler antwortete: „Würden sie sich, erwachsen, so nahe zur Sonne wagen, wenn
ich sie tief an der Erde erzöge?“
Gotthold Ephraim Lessing
Der Adler und die Eule
Der Adler Jupiters und Pallas Eule stritten.
„Abscheulich Nachtgespenst!“– „Bescheidner, darf ich bitten.
Der Himmel heget mich und dich;
Was bist du also mehr, als ich?“
Der Adler sprach: Wahr ist's, im Himmel sind wir beide;
Doch mit dem Unterscheide:
Ich kam durch eignen Flug,
Wohin dich deine Göttin trug.
Gotthold Ephraim Lessing
Der Adler und der Fuchs
„Sei auf deinen Flug nicht so stolz!“, sagte der Fuchs zu dem Adler.
„Du
steigst doch nur deswegen so hoch in die Luft, um dich desto weiter nach einem
Aas umsehen zu können.“
„So kenne ich Männer, die tiefsinnige Weltweise geworden sind, nicht aus Liebe
zur Wahrheit, sondern aus Begierde zu einem einträglichen Lehramte.“
Gotthold Ephraim Lessing
Der Affe und der Fuchs
„Nenne mir ein so geschicktes Tier, dem ich nicht nachahmen könnte!“, so prahlte
der Affe gegen den Fuchs. Der Fuchs aber erwiderte: „Und du, nenne mir ein so
geringschätziges Tier, dem es einfallen könnte, dir nachzuahmen.“
Schriftsteller meiner Nation! - - Muss ich mich noch deutlicher erklären?
Gotthold Ephraim Lessing
Der Luchs und der Tiger
„Deine Geschwindigkeit und Stärke“, sagte ein Fuchs zu dem Tiger, „möchte ich
mir wohl wünschen.“
„Und sonst hätte ich nichts, was dir anstünde?“, fragte der Tiger.
„Ich wüsste nichts! Auch mein schönes Fell nicht?“, fuhr der Tiger fort. „Es ist
so vielfarbig als dein Gemüt, und das Äußere würde sich vortrefflich zu dem
Innern schicken.“
„Eben darum“, versetzte der Fuchs, „danke ich recht sehr dafür. Ich muss das
nicht scheinen, was ich bin. Aber wollten die Götter, dass ich meine Haare mit
Federn vertauschen könnte!“
Der Mann und der Hund
Ein Mann wurde von einem Hunde gebissen, geriet darüber in Zorn, und erschlug den
Hund. Die Wunde schien gefährlich, und der Arzt musste zu Rate gezogen werden.
„Hier weiß ich kein besseres Mittel“, sagte der Empiricus*, „als dass man ein
Stück Brot in die Wunde tauche, und es dem Hunde zu fressen gebe. Hilft diese
sympathetische** Kur nicht, so ...“ — Hier zuckte der Arzt die Achsel.
„Unglücklicher Jachzorn***!“, rief der Mann; „sie kann nicht helfen, denn ich
habe den Hund erschlagen.“
*Empiricus - Arzt im 2. Jahrhundert n. Chr.
**sympathetisch - mitfühlend
***Jachzorn - Jähzorn
Die Maus
Eine philosophische Maus pries die gütige Natur, dass sie die Mäuse zu einem so
vorzüglichen Gegenstand ihrer Erhaltung gemacht habe.
„Denn eine Hälfte von
uns“, sprach sie,
„erhielt von ihr Flügel, dass, wenn wir hier unten auch
alle von den Katzen ausgerottet würden, sie doch mit leichter Mühe aus den
Fledermäusen unser ausgerottetes Geschlecht wieder herstellen könnte.“
Die gute Maus wusste nicht, dass es auch gestiefelte Katzen gibt. Und so
beruht unser Stolz meistens auf unserer Unwissenheit!
Merops
„Ich muss dich doch etwas fragen“; sprach ein junger Adler zu einem tiefsinnigen
grundgelehrten Uhu. „Man sagt, es gäbe einen Vogel, mit Namen Merops, der, wenn
er in die Luft steige, mit dem Schwanze voraus, den Kopf gegen die Erde gekehrt,
fliege. Ist das wahr?“
„Ei nicht doch!“, antwortete der Uhu; „das ist eine alberne Erdichtung des
Menschen. Er mag selbst ein solcher Merops sein; weil er nur gar zu gern den
Himmel erstiegen möchte, ohne die Erde, auch nur einen Augenblick, aus dem
Gesicht zu verlieren.“
Minerva
Lass sie doch, Freund , lass sie, die kleinen hämischen Neider deines wachsenden
Ruhmes! Warum will dein Witz ihre der Vergessenheit bestimmte Namen verewigen?
In dem unsinnigen Kriege, welchen die Riesen wider die Götter führten, stellten
die Riesen der Minerva einen schrecklichen Drachen entgegen. Minerva aber
ergriff den Drachen und schleuderte ihn mit gewaltiger Hand an das Firmament.
Da glänzt er noch; und was so oft großer Taten Belohnung war, ward des Drachen
beneidenswürdige Strafe.
Die Nachtigall und die Lerche
Was soll man zu den Dichtern sagen, die so gern ihren Flug weit über alle
Fassung des größten Teiles ihrer Leser nehmen? Was sonst, als was die Nachtigall
einst zu der Lerche sagte: „Schwingst du dich, Freundin, nur darum so hoch, um
nicht gehört zu werden?“
Die Nachtigall und der Pfau
Eine gesellige Nachtigall fand, unter den Sängern des Waldes, Neider die
Menge, aber keinen Freund.
„Vielleicht finde ich ihn unter einer andern
Gattung“, dachte sie, und floh vertraulich zu dem Pfaue herab.
„Schöner Pfau! Ich bewundere dich.“ „Ich dich auch, liebliche Nachtigall!“ - -
„So lass uns Freunde sein“, sprach die Nachtigall weiter;
„wir werden uns nicht beneiden dürfen: Du bist dem Auge so angenehm, als ich dem
Ohr.“
Die Nachtigall und der Pfau wurden Freunde.
Der Pelikan
Für wohlgeratene Kinder können Eltern nicht zu viel tun. Aber wenn sich ein
blöder Vater für einen ausgearteten Sohn das Blut vom Herzen zapft, dann wird
Liebe zur Torheit.
Ein frommer Pelikan, da er seine Jungen schmachten sah, ritzte sich mit scharfem
Schnabel die Brust auf und erquickte sie mit seinem Blut.
„Ich bewundere
deine Zärtlichkeit“, rief ihm ein Adler zu,
„und bejammere deine Blindheit.
Sieh doch, wie manchen nichtswürdigen Kuckuck du unter deinen Jungen mit
ausgebrütet hast!“
So war es auch wirklich, denn auch ihm hatte der kalte Kuckuck seine Eier
untergeschoben. — Waren es undankbare Kuckucke wert, dass ihr Leben so teuer
erkauft wurde?
Der Phönix
Nach vielen Jahrhunderten gefiel es dem Phönix, sich wieder einmal sehen zu
lassen. Er erschien, und alle Tiere und Vögel versammelten sich um ihn. Sie
gafften, sie staunten, sie bewunderten und brachen in entzückendes Lob aus.
Bald aber verwandten die besten und geselligsten mitleidsvoll ihre Blicke und
seufzten:
„Der unglückliche Phönix! Ihm ward das harte Los, weder Geliebte
noch Freund zu haben; denn er ist der einzige seiner Art!“
Der Pfau und der Hahn
Einst sprach der Pfau zu der Henne:
„Sieh einmal, wie hochmütig und trotzig
dein Hahn einher tritt. Und doch sagen die Menschen nicht: der stolze Hahn;
sondern nur immer: der stolze Pfau.“
„Das macht“, sagte die Henne,
„weil der Mensch einen gegründeten Stolz
übersieht. Der Hahn ist auf seine Wachsamkeit, auf seine Mannheit stolz! aber
worauf du? — Auf Farben und Federn.“
Die Pfauen und die Krähe
Eine stolze Krähe schmückte sich mit den ausgefallenen Federn der farbigen Pfaue
und mischte sich kühn, als sie genug geschmückt zu sein glaubte, unter diese
glänzenden Vögel der Juno. Sie wurde erkannt, und schnell fielen die Pfaue mit
scharfen Schnäbeln auf sie, ihr den betrügerischen Putz auszureißen.
„Lasset nach!“, schrie sie endlich, „ihr habt nun alle das Eurige wieder.“ Doch
die Pfaue, welche einige von den eigenen glänzenden Schwingfedern der Krähe
bemerkt hatten, versetzten: „Schweig, armselige Närrin, auch diese können nicht
dein sein!“ - und hackten weiter.
Der Rangstreit der Tiere
1.
Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. Ihn zu schlichten, sprach
das Pferd: „Lasst uns den Menschen zu Rate ziehen, er ist keiner von den
streitenden Teilen und kann desto unparteiischer sein.“
„Aber hat er auch den Verstand dazu?“, ließ sich ein Maulwurf hören. „Er braucht
wirklich den allerfeinsten, unsere oft tief versteckten Vollkommenheiten zu
erkennen.“
„Das war sehr weise erinnert!“, sprach der Hamster.
„Jawohl!“, rief auch der Igel. „Ich glaube es nimmermehr, dass der Mensch
Scharfsichtigkeit genug besitzt.“
„Schweigt ihr!“, befahl das Pferd. „Wir wissen schon: Wer sich auf die Güte
seiner Sache am wenigsten zu verlassen hat, ist immer am fertigsten, die
Einsicht seines Richters in Zweifel zu ziehen.“
2.
Der Mensch ward Richter. - „Noch ein Wort“, rief ihm der majestätische Löwe zu,
„bevor du den Ausspruch tust! Nach welcher Regel, Mensch, willst du unsern Wert
bestimmen?“
„Nach welcher Regel? Nach dem Grade, ohne Zweifel“, antwortete der Mensch, „in
welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich seid.“
„Vortrefflich!“, versetzte der beleidigte Löwe. „Wie weit würde ich alsdann
unter den Esel zu stehen kommen! Du kannst unser Richter nicht sein, Mensch!
Verlass die Versammlung!“
3.
Der Mensch entfernte sich. - „Nun“, sprach der höhnische Maulwurf - (und ihm
stimmten der Hamster und der Igel wieder bei) - „siehst du, Pferd? Der Löwe
meint es auch, dass der Mensch unser Richter nicht sein kann. Der Löwe denkt wie
wir.“
„Aber aus besserm Gründen als ihr!“, sagte der Löwe und warf ihnen einen
verächtlichen Blick zu.
4.
Der Löwe fuhr weiter fort: „Der Rangstreit, wenn ich es recht überlege, ist ein
nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den Vornehmsten oder für den Geringsten;
es gilt mir gleichviel. Genug, ich kenne mich!“ - Und so ging er aus der
Versammlung.
Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger, der ernsthafte Bär, der kluge
Fuchs, das edle Pferd, kurz, alle, die ihren Wert fühlten oder zu fühlen
glaubten.
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene Versammlung am meisten
murrten, waren - der Affe und der Esel.
Der Rabe
Der Fuchs sah, dass der Rabe die Altäre der Götter beraubte, und von ihren
Opfern mit lebte. Da dachte er bei sich selbst: „Ich möchte wohl wissen, ob
der Rabe Anteil an den Opfern hat, weil er ein prophetischer Vogel ist; oder ob
man ihn für einen prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer
mit den Göttern zu teilen.“
Der Rabe
Der Rabe bemerkte, dass der Adler ganze dreißig Tage über seinen Eiern brütete.
„Und daher kommt es ohne Zweifel“, sprach er, „dass die Jungen des Adlers so
scharfsichtig und stark werden. Gut! Das will ich auch tun.“
Und seitdem brütet der Rabe ganze dreißig Tage über seinen Eiern; aber noch hat
er nichts als elende Raben ausgebrütet.
Der Rabe und der Fuchs
Ein Nabe trug ein
Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines
Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort.
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbei
schlich, und ihm zurief: „
Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiters!“ —
„Für wen siehst du mich an?“, fragte der Rabe—
„Für wen ich dich ansehe?“,
erwiderte der Fuchs.
„Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der
Rechte des Zeus auf diese Eiche herab kommt, mich Armen zu speisen? Warum
verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte
Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?“
Der Rabe erstaunte, und freute sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. „
Ich muss“, dachte er,
„den Fuchs aus diesem Irrtume nicht bringen.“ —
Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen, und flog stolz davon.
Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf, und fraß es mit boshafter Freude. Doch
bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu
wirken, und er verreckte.
Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!
Das Ross und der Stier
Auf einem feurigen Rosse floh stolz ein dreuster* Knabe daher. Da rief ein
wilder Stier dem Rosse zu: „
Schande! Von einem Knaben ließ ich mich nicht
regieren!“
„Aber ich“, versetzte das Ross.
„Denn, was für Ehre könnte es mir bringen,
einen Knaben abzuwerfen?“
* dreust - dreist, frech
Das Schaf
Als Jupiter das Fest seiner Vermählung feierte, und alle Tiere ihm Geschenke
brachten, vermisste Juno das Schaf. „
Wo bleibt das Schaf?“, fragte die
Göttin.
„Warum versäumt das fromme Schaf, uns sein wohlmeinendes Geschenk
zu bringen?“
Und der Hund nahm das Wort und sprach:
„Zürne nicht, Göttin! Ich habe das
Schaf noch heute gesehen: Es war sehr betrübt, und jammerte laut.“
„Und warum jammerte das Schaf?“, fragte die schon gerührte Göttin.
„Ich ärmste!“, so sprach es.
„Ich habe jetzt weder Wolle, noch Milch; was
werde ich dem Jupiter schenken? Soll ich, ich allein, leer vor ihm erscheinen?
Lieber will ich hingehen, und den Hirten bitten, dass er mich ihm opfere!“
Indem drang mit des Hirten Gebete, der Rauch des geopferten Schafes, dem Jupiter
ein süßer Geruch, durch die Wolken. Und jetzt hätte Juno die erste Träne
geweint, wenn Tränen ein unsterbliches Auge benetzten.
Das Schaf und die Schwalbe
Eine Schwalbe flog auf ein Schaf, ihm ein wenig Wolle, für ihr Nest,
auszurupfen. Das Schaf sprang unwillig hin und wieder.
„Wie bist du denn nur
gegen mich so karg?“, sagte die Schwalbe.
„Dem Hirten erlaubst du, dass er
dich deiner Wolle über und über entblößen darf; und mir verweigerst du eine
kleine Flocke. Woher kommt das?“
„Das kommt daher“, antwortete das Schaf,
„weil du mir meine Wolle nicht mit
eben so guter Art zu nehmen weißt, als der Hirte.“
Der Schäfer und die Nachtigall
Du zürnest, Liebling der Musen, über die laute Menge des parnassischen
Geschmeißes? — O höre von mir, was einst die Nachtigall hören musste.
„Singe doch, liebe Nachtigall!“, rief ein Schäfer der schweigenden Sängerin an
einem lieblichen Frühlingsabende zu.
„Ach!“, sagte die Nachtigall;
„die Frösche machen sich so laut, dass ich
alle Lust zum Singen verliere. Hörest du sie nicht?“
„Ich höre sie freilich“, versetzte der Schäfer. „Aber nur dein Schweigen ist
Schuld, dass ich sie höre.“
Die Schwalbe
Glaubet mir, Freunde; die große Welt ist nicht für den Weisen, ist nicht für den
Dichter! Man kennt da ihren wahren Wert nicht, und ach! sie sind oft schwach
genug, ihn mit einem nichtigen zu vertauschen.
In den ersten Zeiten war die Schwalbe ein ebenso tonreicher, melodischer Vogel,
als die Nachtigall. Sie ward es aber bald müde, in den einsamen Büschen zu
wohnen, und da von niemand, als dem fleißigen Landmanne und der unschuldigen
Schäferin gehöret und bewundert zu werden. Sie verließ ihre demütigere Freundin,
und zog in die Stadt. — Was geschah? Weil man in der Stadt nicht Zeit hatte, ihr
göttliches Lied zu hören, so verlernte sie es nach und nach, und lernte dafür —
bauen.
Die junge Schwalbe
„Was macht ihr da?“, fragte eine junge Schwalbe die geschäftigen Ameisen.
„Wir sammeln Vorrat für den Winter“, war die Antwort.
„Das ist klug“, sagte die Schwalbe, „das will ich auch tun.“
Und gleich fing sie an, eine Menge toter Spinnen und Fliegen in ihr Nest zu
tragen.
„Aber wozu soll das?“, fragte endlich ihre Mutter.
„Wozu? Das ist Vorrat für den bösen Winter, liebe Mutter. Sammle doch auch! Die
Ameisen haben mich diese Vorsicht gelehrt.“
„Lass nur die Ameisen!“, versetzte die Mutter. „Uns Schwalben hat die Natur ein
schöneres Los bereitet. Wenn der reiche Sommer sich wendet, dann ziehen wir fort
von hier.“
Die Sperlinge
Eine alte Kirche, welche den
Sperlingen unzählige Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem neuen
Glanze dastand, kamen die Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen zu suchen.
Allein sie fanden sie alle vermauert. „Zu was“, schrien sie, „taugt denn nun das
große Gebäude? Kommt, verlasst den unbrauchbaren Steinhaufen!“
Der Sperling und der Strauß
„Sei auf deine Größe, auf deine Stärke so stolz als du willst.“ sprach der
Sperling zu dem Strauße. „Ich bin doch mehr ein Vogel als du. Denn du kannst
nicht steigen; ich aber steige, obgleich nicht hoch, obgleich nur ruckweise.“
Der leichte Dichter eines fröhlichen Trinkliedes, eines kleinen verliebten
Gesanges, ist mehr ein Genie, als der schwunglose Schreiber einer langen
Hermanniade*.
Hermanniade - spöttisch für eine zu lange Dichtung
Der Stier und der Hirsch
Ein schwerfälliger Stier und ein flüchtiger Hirsch weideten auf einer Wiese
zusammen.
„Hirsch“, sagte der Stier,
„wenn uns der Löwe anfallen sollte, so lass uns
für einen Mann stehen; wir wollen ihn tapfer abweisen.“ — „
Das mute mir
nicht zu“, erwiderte der Hirsch;
„denn warum sollte ich mich mit dem Löwen
in ein ungleiches Gefecht einlassen, da ich ihm sichrer entlaufen kann?“
Der Strauß
Das pfeilschnelle Renntier sah den Strauß und sprach: „Das Laufen des Straußes
ist so außerordentlich eben nicht, aber ohne Zweifel fliegt er desto besser.“
Ein andermal sah der Adler den Strauß und sprach: „Fliegen kann der Strauß nun
wohl nicht, aber ich glaube, er muss gut laufen können.“
Der Strauß
„Jetzt will ich fliegen!“, rief der gigantische Strauß, und das ganze Volk der
Vögel stand in ernster Erwartung um ihn versammelt. „Jetzt will ich fliegen!“,
rief er nochmals, breitete die gewaltigen Fittiche weit aus, und schoss, gleich
einem Schiffe mit aufgespannten Segeln, auf dem Boden dahin, ohne ihn mir einem
Tritte zu verlieren.
Sehet da ein poetisches Bild jener unpoetischen Köpfe, die in den ersten Zeilen
ihrer ungeheuren Oden, mit stolzen Schwingen prahlen, sich über Wolken und
Sterne zu erheben drohest, und dem Staube doch immer getreu bleiben!
Der Tanzbär
Ein Tanzbär war der Kett entrissen,
Kam wieder in den Wald zurück,
Und tanzte seiner Schar ein Meisterstück
Auf den gewohnten Hinterfüßen.
„Seht“, schrie er, „das ist Kunst; das lernt man in der Welt.
Tut mir es nach, wenn's euch gefällt,
Und wenn ihr könnt!“ „Geh“, brummt ein alter Bär,
„Dergleichen Kunst, sie sei so schwer,
Sie sei so rar sie sei!
Zeigt deinen niedern Geist und deine Sklaverei.“
Ein großer Hofmann sein,
Ein Mann, dem Schmeichelei und List
Statt Witz und Tugend ist;
Der durch Kabalen steigt, des Fürsten Gunst erstiehlt,
Mit Wort und Schwur als Komplimenten spielt,
Ein solcher Mann, ein großer Hofmann sein,
Schließt das Lob oder Tadel ein?
Die Traube
Ich kenne einen Dichter, dem die schreiende Bewunderung seiner kleinen Nachahmer
weit mehr geschadet hat als die neidische Verachtung seiner Kunstrichter.
„Sie ist ja doch sauer!“, sagte der Fuchs von der Traube, nach der er lange
genug vergebens gesprungen war. Das hörte ein Sperling und sprach:
„Sauer
sollte die Traube sein? Danach sieht sie mir doch nicht aus!“ Er flog hin und
kostete und fand sie ungemein süß und rief hundert naschfreudige Brüder herbei.
„Kostet doch!“, schrie er,
„kostet doch! Diese treffliche Traube schalt der
Fuchs sauer.“
Sie kosteten alle, und in wenigen Augenblicken ward die Traube so zugerichtet,
dass nie ein Fuchs wieder danach sprang.
Die Wasserschlange
Zeus hatte nunmehr den Fröschen einen anderen König gegeben; anstatt eines
friedlichen Klotzes eine gefräßige Wasserschlange.
„Willst du unser König sein“, schrien die Frösche, „warum verschlingst du uns?“
- „Darum“, antwortete die Schlange, „weil ihr um mich gebeten habt.“
„Ich habe nicht um dich gebeten!“, rief einer von den Fröschen, den sie schon
mit den Augen verschlang. - „Nicht?“, sagte die Wasserschlange. „Desto
schlimmer! So muss ich dich verschlingen, weil du nicht um mich gebeten hast.“
Die Wohltaten
In zwei Fabeln
(1)
„Hast du wohl einen größeren Wohltäter unter den Tieren als uns?“, fragte die
Biene den Menschen.
„Jawohl!“, erwiderte dieser.
„Und wen?“
„Das Schaf! Denn seine Wolle ist mir notwendig, und dein Honig ist mir nur
angenehm.“
(2)
„Und willst du noch einen Grund wissen, warum ich das Schaf für meinen größeren
Wohltäter halte als dich Biene? Das Schaf schenkt mir seine Wolle ohne die
geringste Schwierigkeit, aber wenn du mir deinen Honig schenkst, muss ich mich
noch immer vor deinem Stachel fürchten.“
Die Geschichte des alten Wolfs
In sieben Fabeln
(1)
Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und fasste den gleißenden
Entschluss, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben. Er machte sich
also auf und kam zu dem Schäfer, dessen Horden seiner Höhle die nächsten waren.
„Schäfer“, sprach er, „du nennst mich den blutgierigen Räuber, der ich
doch wirklich nicht bin. Freilich muss ich mich an deine Schafe halten, wenn
mich hungert; denn Hunger tut weh. Schütze mich nur vor dem Hunger; mache mich
nur satt, und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn ich bin wirklich
das zahmste, sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin.“
„Wenn du satt bist? Das kann wohl sein“, versetzte der Schäfer. „Aber wann bist
du denn satt? Du und der Geiz werden es nie! Geh deinen Weg!“
(2)
Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer. „Du weißt, Schäfer“, war
seine Anrede, „dass ich dir das Jahr durch manches Schaf würgen könnte. Willst
du mir überhaupt jedes Jahr sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du kannst
alsdann sicher schlafen und die Hunde ohne Bedenken abschaffen.“
„Sechs Schafe?“, sprach der Schäfer. „Das ist ja eine ganze Herde!“ -
„Nun, weil du es bist, so will ich mich mit fünfen begnügen“, sagte der Wolf.
„Du scherzt; fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfere ich kaum im ganzen Jahre
dem Pan.“
„Auch nicht viere?“, fragte der Wolf weiter, und der Schäfer schüttelte
spöttisch den Kopf.
„Drei? - Zwei?“ -
„Nicht ein einziges“, fiel endlich der Bescheid. „Denn es wäre ja wohl töricht,
wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor welchem ich mich durch meine
Wachsamkeit sichern kann.“
(3)
„Aller guten Dinge sind drei“, dachte der Wolf und kam zu einem dritten Schäfer.
„Es geht mir recht nahe“, sprach er, „dass ich unter euch Schäfern als das
beweisen, wie unrecht man mir tut. Gib mir jährlich ein Schaf, so soll deine
Herde in jenem Walde, den niemand unsicher macht als ich, frei und unbeschädigt
weiden dürfen. Ein Schaf? Welche Kleinigkeit! Könnte ich großmütiger, könnte ich
uneigennütziger handeln? - Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn?“
„O über nichts! Aber wie alt bist du, guter Freund?“, sprach der Schäfer.
„Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug, dir deine liebsten Lämmer zu
würgen.“
„Erzürne dich nicht, alter Isegrim! Es tut mir leid, dass du mit deinem
Vorschlage einige Jahre zu spät kommst. Deine ausgerissenen Zähne verraten dich.
Du spielst den Uneigennützigen, bloß, um dich desto gemächlicher mit desto
weniger Gefahr nähren zu können.“
(4)
Der Wolf ward ärgerlich, fasste sich aber doch und ging zu dem vierten
Schäfer. Diesem war eben sein treuer Hund gestorben, und der Wolf machte sich
den Umstand zunutze.
„Schäfer“, sprach er, „ich habe mich mit meinen Brüdern im Walde veruneinigt und
so, dass ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit ihnen aussöhnen werde. Du weißt,
wie viel du von ihnen zu fürchten hast! Wenn du mich aber anstatt deines
verstorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so stehe ich dir dafür, dass sie
keines deiner Schafe auch nur scheel ansehen sollen.“
„Du willst sie also“, versetzte der Schäfer, „gegen deine Brüder im Walde
beschützen?“ -
„Was meine ich denn sonst? Freilich.“
„Das wäre nicht übel! Aber wenn ich dich nun in meine Horde einnähme, sage mir
doch, wer sollte alsdann meine armen Schafe gegen dich beschützen? Einen Dieb
ins Haus nehmen, um vor den Dieben außer dem Hause sicher zu sein, das halten
wir Menschen...“ - -
„Ich höre schon“, sagte der Wolf, „du fängst an zu moralisieren. Lebe wohl!“
(5)
„Wäre ich nicht so alt!“ knirschte der Wolf. „Aber ich muss mich leider in die
Zeit schicken.“ Und so kam er zu dem fünften Schäfer.
„Kennst du mich, Schäfer?“, fragte der Wolf.
„Deinesgleichen wenigstens kenne ich“, versetzte der Schäfer.
„Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonderbarer Wolf, dass
ich deiner und aller Schäfer Freundschaft wohl wert bin.“
„Und wie sonderbar bist du denn?“
„Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn es mir das Leben
kosten sollte. Ich nähre mich bloß mit toten Schafen. Ist das nicht löblich?
Erlaube mir also immer, dass ich mich dann und wann bei deiner Herde einfinden
und nachfragen darf, ob dir nicht...“
„Spare der Worte!“, sagte der Schäfer. „Du müsstest gar keine Schafe fressen,
auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht sein sollte. Ein Tier, das mir
schon tote Schafe frisst, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot und
gesunde für krank anzusehen. Mache auf meine Freundschaft also keine Rechnung
und geh!“
(6)
„Ich muss nun schon mein Liebstes daran wenden, um zu meinem Zwecke zu
gelangen!“, dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Schäfer.
„Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz?“, fragte der Wolf.
„Dein Pelz?“, sagte der Schäfer. „Lass sehen! Er ist schön; die Hunde müssen
dich nicht oft untergehabt haben.“
„Nun, so höre, Schäfer: Ich bin alt und werde es so lange nicht mehr treiben.
Füttere mich zu Tode, und ich vermache dir meinen Pelz.“
„Ei, sieh doch!“, sagte der Schäfer. „Kommst du auch hinter die Schliche der
alten Geizhälse? Nein, nein; dein Pelz würde mich am Ende siebenmal mehr kosten,
als er wert wäre. Ist es dir aber Ernst, mir ein Geschenk zu machen, so gib ihn
mir gleich jetzt.“ -
Hiermit griff der Schäfer nach der Keule, und der Wolf
floh.
(7)
„O die Unbarmherzigen!“, schrie der Wolf und geriet in äußerste Wut.
„So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der Hunger tötet; denn sie
wollen es nicht besser!“
Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riss ihre Kinder nieder und
ward nicht ohne große Mühe von den Schäfern erschlagen.
Da sprach der weiseste von ihnen: „Wir taten doch wohl unrecht, dass wir den
alten Räuber auf das Äußerste brachten und ihm alle Mittel zur Besserung, so
spät und erzwungen sie auch war, benahmen!“
Der kriegerische Wolf
„Mein Vater, glorreichen Andenkens“, sagte ein junger Wolf zu einem Fuchse, „das
war ein rechter Held. Wie fürchterlich hat er sich nicht in der ganzen Gegend
gemacht! Er hat über mehr als zweihundert Feinde nach und nach triumphiert und
ihre schwarze Seelen in das Reich des Verderbens gesandt. Was Wunder also, dass
er endlich doch einem unterliegen musste!“
„So würde sich ein Leichenredner ausdrücken“, sagte der Fuchs; „der trockene
Geschichtsschreiber aber würde hinzusetzen: Die zweihundert Feinde, über die er,
nach und nach, triumphieret, waren Schafe und Esel; und der eine Feind, dem er
unterlag, war der erste Stier, den er sich anzufallen erkühnte.“
Der Wolf und der Schäfer
Ein Schäfer hatte durch eine grausame Seuche seine ganze Herde verloren. Das
erfuhr der Wolf, und kam seine Kondolenz* abzustatten.
„Schäfer“, sprach er,
„ist es wahr, dass dich ein so grausames Unglück
betroffen? Du bist um deine ganze Herde gekommen? Die liebe, fromme, fette
Herde! Du kauerst mich, und ich möchte blutige Tränen weinen.“
„Habe Dank, Meister Isegrim“, versetzte der Schäfer.
„Ich sehe, du hast ein
sehr mitleidiges Herz.“
„Das hat er auch wirklich“, fügte des Schäfers Hylax** hinzu,
„so oft er
unter dem Unglücke seines Nächsten selbst leidet.“
*Kondolenz - hier: Beileidsbesuch
** Hylax - Hund
Der Wolf und das Schaf
Der Durst trieb ein Schaf an den Fluss; eine gleiche Ursache führte auf der
andern Seite einen Wolf herzu. Durch die Trennung des Wassers gesichert und
durch die Sicherheit höhnisch gemacht, rief das Schaf dem Räuber hinüber: „Ich
mache dir doch das Wasser nicht trübe, Herr Wolf? Sieh mich recht an; habe ich
dir nicht etwa vor sechs Wochen nachgeschimpft? Wenigstens wird es mein Vater
gewesen sein.“ Der Wolf verstand die Spötterei; er betrachtete die Breite des
Flusses und knirschte mit den Zähnen. „Es ist dein Glück“, antwortete er, „dass
wir Wölfe gewohnt sind, mit euch Schafen Geduld zu haben“; und ging mit stolzen
Schritten weiter.
Der Wolf auf dem Totenbette
Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden Blick auf sein
vergangenes Leben zurück.
„Ich bin freilich ein Sünder“, sagte er; „aber doch, hoffe ich, keiner von den
größten. Ich habe Böses getan; aber auch viel Gutes. Einstmals, erinnere ich
mich, kam mir ein blökendes Lamm, welches sich von der Herde verirret hatte, so
nahe, dass ich es gar leicht hätte würgen können; und ich tat ihm nichts. Zu
eben dieser Zeit hörte ich die Spöttereien und Schmähungen eines Schafs mit der
bewundernswürdigsten Gleichgültigkeit an, ob ich schon keine schützenden Hunde
zu fürchten hatte.“
„Und das alles kann ich dir bezeugen“; fiel ihm Freund Fuchs, der ihn zum Tode
bereiten half, ins Wort. „Denn ich erinnere mich noch gar wohl aller Umstände
dabei. Es war zu eben der Zeit, als du dich an dem Beine so jämmerlich würgtest,
das dir der gutherzige Kranich hernach aus dem Schlunde zog.“
Zeus und das Schaf
Das Schaf musste von allen Tieren vieles leiden. Da trat es vor den Zeus, und
bat, sein Elend zu mindern.
Zeus schien willig und sprach zu dem Schafe:
„Ich sehe wohl, mein frommes
Geschöpf, ich habe dich allzu wehrlos erschaffen. Nun wähle, wie ich diesem
Fehler am besten abhelfen soll. Soll ich deinen Mund mit schrecklichen Zähnen,
und deine Füße mir Krallen rüsten?“
„O nein“, sagte das Schaf;
„ich will nichts mit den reißenden Tieren gemein haben.“
„Oder“, fuhr Zeus fort,
„soll ich Gift in deinen Speichel legen?“
„Ach!“, versetzte das Schaf;
„die giftigen Schlangen werden ja so sehr
gehasst.“ —
„Nun was soll ich denn? Ich will Hörner auf deine Stirne pflanzen, und Stärke
deinem Nacken geben.“
„Auch nicht, gütiger Vater; ich könnte leicht stößig werden, als der Bock.“
„Und gleichwohl“, sprach Zeus,
„musst du selbst schaden können, wenn sich andere, dir zu schaden, hüten
sollen.“
„Müsst ich das!“, seufzte das Schaf.
„O so lass mich, gütiger Vater, wie ich
bin. Denn das Vermögen, schaden zu können, erweckt, fürchte ich, die Lust,
schaden zu wollen; und es ist besser, Unrecht leiden, als Unrecht tun.“
Zeus segnete das fromme Schaf, und es vergaß von Stund an, zu klagen.
Die Ziegen
Die Ziegen baten den Zeus, auch ihnen Hörner zu geben; denn anfangs hatten die
Ziegen keine Hörner.
„Überlegt es wohl, was ihr bittet“, sagte Zeus. „Es ist mit dem Geschenke der
Hörner ein anderes unzertrennlich verbunden, das euch so angenehm nicht sein
möchte.“
Doch die Ziegen beharrten auf ihrer Bitte, und Zeus sprach: „So habt denn
Hörner!“
Und die Ziegen bekamen Hörner - und Bart! Denn anfangs hatten die Ziegen auch
keinen Bart. O wie schmerzte sie der hässliche Bart, weit mehr, als sie die
stolzen Hörner erfreuten!
Gotthold Ephraim Lessing über Fabeln
Ich hatte mich bei keiner Gattung von Gedichten länger verweilt, als bei der
Fabel. Es gefiel mir auf diesem gemeinschaftlichen Raine (Gebiet) der Poesie und
der Moral. Ich hatte die alten und neuen Fabulisten (Erzähler) so ziemlich alle
und die besten von ihnen mehr als einmal gelesen. Ich hatte über die Theorie der
Fabel nachgedacht. Ich hatte mich oft gewundert, dass die gerade auf die
Wahrheit führende Bahn des Aesopus, von den Neuern, für die blumenreichem Abwege
der schwatzhaften Gabe zu erzählen, so sehr verlassen werde. Ich hatte eine
Menge Versuche in der einfältigen Art ... gemacht. — Kurz, ich glaubte mich in
diesem Fache so reich, dass ich, für's Erste meinen Fabeln mit leichter Mühe
eine neue Gestalt geben könnte.
Ich griff zum Werke. — Wie sehr ich mich aber wegen der leichten Mühe geirrt
hatte, das weiß ich selbst am besten. Anmerkungen, die man während des
Studierens macht und nur aus Misstrauen in sein Gedächtnis auf das Papier wirft;
Gedanken, die man sich nur zu haben begnügt, ohne ihnen durch den Ausdruck die
nötige Präzision zu geben; Versuchen, die man nur zu seiner Übung wagt, fehlt
noch sehr viel zu einem Buch. Was nun endlich für eins daraus geworden; — hier
ist es! ...
Quelle: Gotthold Ephraim Lessings Fabeln, Drey Bücher, Berlin 1777
Quelle: Gotthold Ephraim Lessings Fabeln, 1759. Die Rechtschreibung wurde
angepasst.