3 Leonce und Lena - Zweiter Akt

Zweiter Akt.

Wie ist mir eine Stimme doch erklungen
Im tiefsten Innern,
Und hat mit einemmale mir verschlungen
All mein Erinnern.
Adalbert von Chamisso.

Erste Szene.
Freies Feld. Ein Wirtshaus im Hintergrund.

Leonce und Valerio, der einen Pack trägt, treten auf.
Valerio (keuchend). Auf Ehre, Prinz, die Welt ist doch ein ungeheuer weitläufiges Gebäude.

Leonce. Nicht doch! Nicht doch! Ich wage kaum die Hände auszustrecken, wie in einem engen Spiegelzimmer, aus Furcht überall anzustoßen, dass die schönen Figuren in Scherben auf dem Boden lägen und ich vor der kahlen nackten Wand stände.
Valerio. Ich bin verloren.
Leonce. Da wird niemand einen Verlust dabei haben, als wer dich findet.
Valerio. Ich werde mich nächstens in den Schatten meines Schattens stellen.
Leonce. Du verflüchtigst dich ganz an der Sonne. Siehst du die schöne Wolke da oben? Sie ist wenigstens ein Viertel von dir. Sie sieht ganz wohlbehaglich auf deine gröberen materiellen Stoffe herab.
Valerio. Die Wolke könnte Ihrem Kopfe nichts schaden, wenn man sie Ihnen Tropfen für Tropfen darauf fallen ließe. — Ein köstlicher Einfall. Wir sind fchon durch ein Dutzend Fürstentümer, durch ein halbes Dutzend Großherzogtümer und durch ein paar Königreiche gelaufen, und das in der größten Übereilung in einem halben Tag und warum? Weil man König werden und eine schöne Prinzessin heiraten soll. Und Sie leben noch in einer solchen Lage? Ich begreife Ihre Resignation nicht. Ich begreife nicht, dass Sie nicht Arsen genommen, sich auf das Geländer des Kirchturms gestellt und sich eine Kugel durch den Kopf gejagt haben, um es ja nicht zu verfehlen.

Leonce. Aber Valerio, die Ideale! Ich habe das Ideal eines Frauenzimmers in mir und muss es suchen. Sie ist unendlich schön und unendlich geistlos. Die Schönheit ist da so hilflos, so rührend, wie ein neugebornes Kind. Es ist ein köstlicher Kontrast: diese himmlisch stupiden Augen, dieser göttlich einfältige Mund, dieses schafnasige griechische Profil, dieser geistige Tod in diesem geistigen Leib.
Valerio. Teufel! Da sind wir schon wieder auf der Grenze. Das ist ein Land wie eine Zwiebel, nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln, in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts. (Er wirft seinen Pack zu Boden.) Soll denn dieser Pack mein Grabstein werden? Sehen Sie Prinz, ich werde philosophisch, ein Bild des menschlichen Lebens. Ich schleppe diesen Pack mit wunden Füßen durch Frost und Sonnenbrand, weil ich abends ein reines Hemd anziehen will, und wenn endlich der Abend kommt, so ist meine Stirne gefurcht, meine Wange hohl, mein Auge dunkel und ich habe grade noch Zeit, mein Hemd anzuziehen als Totenhemd. Hätte ich nun nicht gescheiter getan, ich hätte mein Bündel vom Stecken gehoben und es in der ersten besten Kneipe verkauft, und hätte mich dafür betrunken und im Schatten geschlafen, bis es Abend geworden wäre, und hätte nicht geschwitzt und mir keine Leichdörner (Hühneraugen, Hornschwielen) gelaufen? Und Prinz, jetzt kommt die Anwendung und die Praxis. Aus lauter Schamhaftigkeit wollen wir jetzt auch den inneren Menschen bekleiden und Rock und Hosen inwendig anziehen. (Beide gehen auf das Wirtshaus los.) Ei du lieber Pack, welch ein köstlicher Duft, welche Weindüfte und Bratengerüche! Ei ihr lieben Hosen, wie wurzelt ihr im Boden und grünt und blüht, und die langen, schweren Trauben hängen mir in den Mund und der Most gährt unter der Kelter. (Sie gehen ab.)
Prinzessin Lena. Die Gouvernante (kommen).
Die Gouvernante. Es muss ein bezauberter Tag sein, die Sonne geht nicht unter, und es ist so unendlich lang seit unsrer Flucht.
Lena. Nicht doch, meine Liebe, die Blumen sind ja kaum welk, die ich zum Abschied brach, als wir aus dem Garten gingen.
Gouvernante. Und wo sollen wir ruhen? Wir sind noch auf gar nichts gestoßen. Ich sehe kein Kloster, keinen Eremiten, keinen Schäfer.
Lena. Wir haben alles wohl anders geträumt mit unseren Büchern, hinter der Mauer unseres Gartens, zwischen unseren Myrten (Erklärung: immergrüner Strauch) und Oleandern (Erklärung: Rosenlorbeer).
Gouvernante. O die Welt ist abscheulich! An einen irrenden Königssohn ist gar nicht zu denken.
Lena. O sie ist schön und so weit, so unendlich weit. Ich möchte immer so fort gehen, Tag und Nacht. Es rührt sich nichts. Ein roter Blumenschein spielt über die Wiesen, und die fernen Berge liegen auf der Erde wie ruhende Wolken.
Gouvernante. Du mein Jesus, was wird man sagen? Und doch ist es so zart und weiblich! Es ist eine Entsagung. Es ist wie die Flucht der heiligen Otilia. Aber wir müssen ein Obdach suchen. Es wird Abend.
Lena. Ja, die Pflanzen legen ihre Fiederblättchen zum Schlaf zusammen, und die Sonnenstrahlen wiegen sich an den Grashalmen, wie müde Libellen.

Zweite Szene.
Das Wirtshaus auf einer Anhöhe, an einem Fluss, weite Aussicht. Der Garten vor demselben.

Valerio. Leonce.

Valerio. Nun Prinz, liefern Ihre Hosen nicht ein köstliches Getränk? Laufen Ihnen Ihre Stiefel nicht mit der größten Leichtigkeit die Kehle hinunter?
Leonce. Siehst du die alten Bäume, die Hecken, die Blumen, das alles hat seine Geschichten, seine lieblichen, heimlichen Geschichten. Siehst du die großen freundlichen Gesichter unter den Neben an der Haustüre? Wie sie sitzen und sich bei den Händen halten und Angst haben, dass sie so alt sind und die Welt noch so jung ist. O Valerio, und ich bin so jung, und die Welt ist so alt. Ich bekomme manchmal eine Angst um mich und könnte mich in eine Ecke setzen und heiße Tränen weinen aus Mitleid mit mir.
Valerio (gibt ihm ein Glas). Nimm diese Glocke, diese Taucherglocke, und senke dich in das Meer des Weines, dass es Perlen über dir schlägt. Sieh', wie die Elfen über den Kelch der Weinblume schweben, goldbeschuht, die Cymbeln schlagend.
Leonce (aufspringend). Komm Valerio, wir müssen was treiben, was treiben. Wir wollen uns mit tiefen Gedanken abgeben, wir wollen untersuchen, wie es kommt, dass der Stuhl nur auf drei Beinen steht und nicht auf zweien. Komm, wir wollen Ameisen zergliedern, Staubfäden zählen; ich werde es doch noch zu einer Liebhaberei bringen. Ich werde doch noch eine Kinderrassel finden, die mir erst aus der Hand fällt, wenn ich Flocken lese und an der Decke zupfe. Ich habe noch eine gewisse Dosis Enthusiasmus zu verbrauchen; aber wenn ich alles recht warm gekocht habe, so brauche ich eine unendliche Zeit, um einen Löffel zu finden, mit dem ich das Gericht esse, und darüber steht es ab.
Valerio. Ergo bibamus (Also lasst uns trinken). Diese Flasche ist keine Geliebte, keine Idee, sie macht keine Geburtsschmerzen, sie wird nicht langweilig, wird nicht treulos, sie bleibt eins vom ersten Tropfen bis zum letzten. Du brichst das Siegel, und alle Träume, die in ihr schlummern, sprühen dir entgegen.
Leonce. O Gott! Die Hälfte meines Lebens soll ein Gebet sein, wenn mir nur ein Strohhalm beschert wird, auf dem ich reite, wie auf einem prächtigen Ross, bis ich selbst auf dem Stroh liege. — Welch' unheimlicher Abend! Da unten ist alles still, und da oben wechseln und ziehen die Wolken, und der Sonnenschein geht und kommt wieder. Sieh, was seltsame Gestalten sich dort jagen, sieh die langen weißen Schatten mit den entsetzlich mageren Beinen und Fledermausschwingen, und alles so rasch, so wirr, und da unten rührt sich kein Blatt, kein Halm. Die Erde hat sich ängstlich zusammengeschmiegt, wie ein Kind, und über ihre Wiege schreiten die Gespenster.
Valerio. Ich weiß nicht, was Ihr wollt, mir ist ganz behaglich zu Mut. Die Sonne sieht aus, wie ein Wirtshausschild, und die feurigen Wolken darüber wie die Aufschrift: „Wirtshaus zur goldenen Sonne." Die Erde und das Wasser da unten sind wie ein Tisch, auf dem Wein verschüttet ist, und wir liegen darauf wie Spielkarten, mit denen Gott und der Teufel aus Langeweile eine Partie machen, und Ihr seid ein Kartenkönig, und ich bin ein Kartenbube, es fehlt nur noch eine Dame, eine schöne Dame, mit einem großen Lebkuchenherz auf der Brust und einer mächtigen Tulpe, worin die lange Nase sentimental versinkt (die Gouvernante und die Prinzessin treten auf), und — bei Gott — da ist sie! Es ist aber eigentlich keine Tulpe, sondern eine Prise Tabak, und es ist eigentlich keine Nase, sondern ein Rüssel! (Zur Gouvernante): Warum schreiten Sie, Werteste, so eilig, dass man Ihre weiland Waden bis zu Ihren respektabeln Strumpfbändern sieht?
Gouvernante (heftig erzürnt, bleibt stehen). Warum reißen Sie, Geehrtester, den Mund so weit auf, dass Sie einem ein Loch in die Aussicht machen?
Valerio. Damit Sie, Geehrteste, sich die Nase am Horizont nicht blutig stoßen. Solch' eine Nase ist wie der Turm auf Libanon, der gen Damaskus steht.
Lena (zur Gouvernante). Meine Liebe, ist denn der Weg so lang?
Leonce (träumend vor sich hin). O jeder Weg ist lang. Das Picken der Totenuhr in unserer Brust ist langsam, und jeder Tropfen Blut misst seine Zeit, und unser Leben ist ein schleichend Fieber. Für müde Füße ist jeder Weg zu lang...
Lena (die ihm ängstlich sinnend zuhört). Und müden Augen jedes Licht zu scharf, und müden Lippen jeder Hauch zu schwer (lächelnd), und müden Ohren jedes Wort zu viel. (Sie tritt mit der Gouvernante in das Haus).
Leonce. O lieber Valerio! Könnte ich nicht auch sagen: „sollte nicht dies und ein Wald von Federbüschen nebst ein Paar gepufften Rosen auf meinen Schuhen—?" Ich hab' es, glaub' ich, ganz melancholisch gesagt. Gott sei Dank, dass ich anfange, mit der Melancholie niederzukommen. Die Luft ist nicht mehr so hell und kalt, der Himmel senkt sich glühend dicht um mich, und schwere Tropfen fallen. — O diese Stimme: Ist denn der Weg so lang? Es reden viele Stimmen über die Erde, und man meint, sie sprächen von anderen Dingen, aber ich habe sie verstanden. Sie ruht auf mir wie der Geist, da er über den Wassern schwebte, — eh' das Licht ward. Welch' Gähren in der Tiefe, welch' Werden in mir, wie sich die Stimme durch den Raum gießt. — Ist denn der Weg so lang? (Geht ab.)
Valerio. Nein, der Weg zum Narrenhaus ist nicht so lang, er ist leicht zu finden, ich kenne alle Fußpfade, alle Vicinalwege und Chausseen. Ich sehe ihn schon auf einer breiten Allee dahin, an einem eiskalten Wintertage, den Hut unter dem Arm, wie er sich in die langen Schatten unter die kahlen Bäume stellt und mit dem Schnupftuch fächelt. — Er ist ein Narr! (Folgt ihm.)

Dritte Szene.
Ein Zimmer.

Lena. Die Gouvernante.
Gouvernante. Denken Sie nicht an den Menschen.
Lena. Er war so alt unter seinen blonden Locken. Den Frühling auf den Wangen, und den Winter im Herzen. Das ist traurig. Der müde Leib findet sein Schlafkissen überall, doch wenn der Geist müd' ist, wo soll er ruhen? Es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke, ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil sie sind. (Sie erhebt sich.)
Gouvernante. Wohin mein Kind?
Lena. Ich will hinunter in den Garten.
Gouvernante. Aber —
Lena. Aber, liebe Mutter, du weißt, man hätte mich eigentlich in eine Scherbe setzen sollen. Ich brauche Tau und Nachtluft, wie die Blumen. — Hörst du die Harmonie des Abends? Wie die Grillen den Tag einsingen und die Nachtviolen ihn mit ihrem Duft einschläfern! Ich kann nicht im Zimmer bleiben. Die Wände fallen auf mich.

Vierte Szene.
Der Garten. Nacht und Mondschein.

Man sieht Lena auf dem Rasen sitzend.
Valerio (in einiger Entfernung). Es ist eine schöne Sache um die Natur, sie wäre aber doch noch schöner, wenn es keine Schnaken gäbe, die Wirtsbetten etwas reinlicher wären und die Totenuhren nicht so an den Wänden pickten. Drin schnarchen die Menschen, und da außen quaken die Frösche, drin pfeifen die Hausgrillen und da außen die Feldgrillen. Lieber Rasen, dies ist ein rasender Entschluss.
Leonce tritt auf, bemerkt die Prinzessin und nähert sich ihr leise.
Lena (spricht vor sich hin). Die Grasmücke hat im Traum gezwitschert. — Die Nacht schläft tiefer, ihre Wange wird bleicher und ihr Atem stiller. Der Mond ist wie ein schlafendes Kind, die goldnen Locken sind ihm im Schlaf über das liebe Gesicht heruntergefallen. — Oh, sein Schlaf ist Tod. Wie der tote Engel auf seinem dunkeln Kissen ruht und die Sterne gleich Kerzen um ihn brennen! Armes Kind! Es ist traurig, tot und so allein.
Leonce. Steh' auf in deinem weißen Kleid und wandle hinter der Leiche durch die Nacht und singe ihr das Sterbelied.
Lena. Wer spricht da?
Leonce. Ein Traum.
Lena. Träume sind selig.
Leonce. So träume dich selig und lass mich dein seliger Traum sein.
Lena. Der Tod ist der seligste Traum.
Leonce. So lass mich dein Todesengel sein. Lass meine Lippen sich gleich seinen Schwingen auf deine Augen senken. (Er küßt sie) Schöne Leiche, du ruhst so lieblich auf dem schwarzen Bahrtuche der Nacht, dass die Natur das Leben hasst und sich in den Tod verliebt.
Lena. Nein, lass mich. (Sie springt auf und entfernt sich rasch.)
Leonce. Zu viel! Zu viel! Mein ganzes Sein ist in dem einen Augenblick. Jetzt stirb. Mehr ist unmöglich. Wie frischatmend, schönheitglänzend ringt die Schöpfung sich aus dem Chaos mir entgegen. Die Erde ist eine Schale von dunklem Gold, wie schäumt das Licht in ihr und flutet über ihren Rand, und hellauf perlen daraus die Sterne. Dieser eine Tropfen Seligkeit macht mich zu einem köstlichen Gefäß. Hinab, heiliger Becher! (Er will sich in den Fluss stürzen.)
Valerio (springt auf und umfasst ihn). Halt, Serenissime!
Leonce. Lass mich!
Valerio. Ich werde Sie lassen, sobald Sie gelassen sind und das Wasser zu lassen versprechen.
Leonce. Dummkopf!
Valerio. Ist denn Eure Hoheit noch nicht über die Lieutenantsromantik hinaus: das Glas zum Fenster hinaus zu werfen, womit man die Gesundheit seiner Geliebten getrunken?
Leonce. Ich glaube halbwegs, du hast Recht.
Valerio. Trösten Sie Sich. Wenn Sie auch nicht heute Nacht unter dem Rasen schlafen, so schlafen Sie wenigstens darauf. Es wäre ein ebenso selbstmörderischer Versuch, in eins von den Betten gehen zu wollen. Man liegt auf dem Stroh, wie ein Toter, und wird von dem Ungeziefer gestochen, wie ein Lebendiger.
Leonce. Meinetwegen. (Er legt sich ins Gras.) Mensch, du hast mich um den schönsten Selbstmord gebracht. Ich werde in meinem Leben keinen so vorzüglichen Augenblick mehr dazu finden, und das Wetter ist vortrefflich. Jetzt bin ich schon aus der Stimmung. Der Kerl hat mir mit seiner gelben Weste und seinen himmelblauen Hosen alles verdorben. — Der Himmel beschere mir einen recht gesunden, plumpen Schlaf.
Valerio. Amen — und ich habe ein Menschenleben gerettet und werde mir mit meinem guten Gewissen heute Nacht den Leib warm halten. Wohl bekomm's, Valerio!

Zum dritten Akt von Leonce und Lena

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Quelle: Nachgelassene Schriften von Georg Büchner, Frankfurt am Main 1850
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