Schachnovelle - Erzählung von Stefan Zweig
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Schachnovelle
Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos
Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der
letzten Stunde. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihren Freunden das
Geleit zu geben, Telegraphenboys mit schiefen Mützen schossen Namen ausrufend
durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen
neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich zur
Deckshow spielte. Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von
diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei- oder dreimal
Blitzlicht scharf aufsprühte – anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor
der Abfahrt
noch rasch von Reportern interviewt und photographiert worden. Mein Freund
blickte hin und lächelte. „Sie haben da einen raren Vogel an Bord, den
Czentovic." Und da ich offenbar ein ziemlich verständnisloses Gesicht zu dieser
Mitteilung machte, fügte er erklärend bei: „Mirko Czentovic, der
Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika von Ost nach West mit Turnierspielen
abgeklappert und fährt jetzt zu neuen Triumphen nach Argentinien."
In der Tat erinnerte ich mich nun dieses jungen Weltmeisters und sogar einiger
Einzelheiten im Zusammenhang mit seiner raketenhaften Karriere –, mein Freund,
ein aufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit einer ganzen Reihe von
Anekdoten ergänzen. Czentovic hatte sich vor etwa einem Jahr mit einem Schlage
neben die bewährtesten Altmeister der Schachkunst, wie Aljechin, Capablanca,
Tartakower, Lasker, Bogoljubow, gestellt; seit dem Auftreten des siebenjährigen
Wunderkindes Rzecewski bei dem Schachturnier 1922 in New York hatte noch nie der
Einbruch eines völlig Unbekannten in die ruhmreiche Gilde derart allgemeines
Aufsehen erregt. Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienen ihm
keineswegs solch eine blendende Karriere von vornherein zu weissagen. Bald
sickerte das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben
außerstande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler
zu schreiben, und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete,
„seine Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell". Sohn eines blutarmen
südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Barke eines Nachts von einem
Getreidedampfer Überrannt wurde, war der damals Zwölfjährige nach dem Tode
seines Vaters vom Pfarrer des abgelegenen Ortes aus Mitleid aufgenommen worden,
und der gute Pater bemühte sich redlich, durch häusliche Nachhilfe wettzumachen,
was das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind in der Dorfschule nicht zu
erlernen vermochte.
Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirko starrte die schon hundertmal
ihm erklärten Schriftzeichen immer wieder fremd an; auch für die simpelsten
Unterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbeitenden Gehirn jede
festhaltende Kraft. Wenn er rechnen sollte, musste er noch mit vierzehn Jahren
jedes Mal die Finger zu Hilfe nehmen, und ein Buch oder eine Zeitung zu lesen
bedeutete für den schon halbwüchsigen Jungen noch besondere Anstrengung. Dabei
konnte man Mirko keineswegs unwillig oder widerspenstig nennen. Er tat gehorsam,
was man ihm gebot, holte Wasser, spaltete Holz, arbeitete mit auf dem Felde,
räumte die Küche auf und erledigte verlässlich, wenn auch mit verärgernder
Langsamkeit, jeden geforderten Dienst. Was den guten Pfarrer aber an dem
querköpfigen Knaben am meisten verdross, war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er
tat nichts ohne besondere Aufforderung, stellte nie eine Frage, spielte nicht
mit anderen Burschen und suchte von selbst keine Beschäftigung, sofern man sie
nicht ausdrücklich anordnete; sobald Mirko die Verrichtungen des Haushalts
erledigt hatte, saß er stur im Zimmer herum mit jenem leeren Blick, wie ihn
Schafe auf der Weide haben, ohne an den Geschehnissen rings um ihn den
geringsten Anteil zu nehmen. Während der Pfarrer abends, die lange Bauernpfeife
schmauchend, mit dem Gendarmeriewachtmeister seine üblichen drei Schachpartien
spielte, hockte der blondsträhnige Bursche stumm daneben und starrte unter
seinen schweren Lidern anscheinend schläfrig und gleichgültig auf das karierte
Brett.
Eines Winterabends klingelten, während die beiden Partner in ihre tägliche
Partie vertieft waren, von der Dorfstraße her die Glöckchen eines Schlittens
rasch und immer rascher heran. Ein Bauer, die Mütze mit Schnee überstäubt,
stapfte hastig herein, seine alte Mutter läge im Sterben, und der Pfarrer möge
eilen, ihr noch rechtzeitig die letzte Ölung zu erteilen. Ohne zu zögern folgte
ihm der Priester. Der Gendarmeriewachtmeister, der sein Glas Bier noch nicht
ausgetrunken hatte, zündete sich zum Abschied eine neue Pfeife an und bereitete
sich eben vor, die schweren Schaftstiefel anzuziehen, als ihm auffiel, wie
unentwegt der Blick Mirkos auf dem Schachbrett mit der angefangenen Partie
haftete.
„Na, willst du sie zu Ende spielen?", spaßte er, vollkommen überzeugt, dass der
schläfrige Junge nicht einen einzigen Stein auf dem Brett richtig zu rücken
verstünde. Der Knabe starrte scheu auf, nickte dann und setzte sich auf den
Platz des Pfarrers. Nach vierzehn Zügen war der Gendarmeriewachtmeister
geschlagen und musste zudem eingestehen, dass keineswegs ein versehentlich
nachlässiger Zug seine Niederlage verschuldet habe. Die zweite Partie fiel nicht
anders aus.
„Bileams Esel!" rief erstaunt bei seiner Rückkehr der Pfarrer aus, dem weniger
bibelfesten Gendarmeriewachtmeister erklärend, schon vor zweitausend Jahren
hätte sich ein ähnliches Wunder ereignet, dass ein stummes Wesen plötzlich die
Sprache der Weisheit gefunden habe. Trotz der vorgerückten Stunde konnte der
Pfarrer sich nicht enthalten, seinen halb analphabetischen Famulus (Student, der
einem Hochschullehrer assistiert) zu einem Zweikampf herauszufordern. Mirko
schlug auch ihn mit Leichtigkeit. Er spielte zäh, langsam, unerschütterlich,
ohne ein einziges Mal die gesenkte breite Stirn vom Brette aufzuheben. Aber er
spielte mit unwiderlegbarer Sicherheit; weder der Gendarmeriewachtmeister noch
der Pfarrer waren in den nächsten Tagen imstande, eine Partie gegen ihn zu
gewinnen. Der Pfarrer, besser als irgend jemand befähigt, die sonstige
Rückständigkeit seines Zöglings zu beurteilen, wurde nun ernstlich neugierig,
wieweit diese einseitige sonderbare Begabung einer strengeren Prüfung
standhalten würde. Nachdem er Mirko bei dem Dorfbarbier die struppigen
strohblonden Haare hatte schneiden lassen, um ihn einigermaßen präsentabel zu
machen, nahm er ihn in seinem Schlitten mit in die kleine Nachbarstadt, wo er im
Café des Hauptplatzes eine Ecke mit enragierten Schachspielern wusste, denen er
selbst erfahrungsgemäß nicht gewachsen war. Es erregte bei der ansässigen Runde
nicht geringes Staunen, als der Pfarrer den fünfzehnjährigen strohblonden und
rotbackigen Burschen in seinem nach innen getragenen Schafspelz und schweren,
hohen Schaftstiefeln in das Kaffeehaus schob, wo der Junge befremdet mit scheu
nieder geschlagenen Augen in einer Ecke stehen blieb, bis man ihn zu einem der
Schachtische hinrief. In der ersten Partie wurde Mirko geschlagen, da er die so
genannte Sizilianische Eröffnung bei dem guten Pfarrer nie gesehen hatte. In der
zweiten Partie kam er schon gegen den besten Spieler auf Remis (Unentschieden).
Von der dritten und vierten an schlug er sie alle, einen nach dem andern.
Nun ereignen sich in einer kleinen südslawischen Provinzstadt höchst selten
aufregende Dinge; so wurde das erste Auftreten dieses bäuerlichen Champions für
die versammelten Honoratioren (angesehene Personen in kleinen Orten)
unverzüglich zur Sensation. Einstimmig wurde beschlossen, der Wunderknabe müsste
unbedingt noch bis zum nächsten Tage in der Stadt bleiben, damit man die anderen
Mitglieder des Schachklubs zusammenrufen und vor allem den alten Grafen Simczic,
einen Fanatiker des Schachspiels, auf seinem Schlosse verständigen könne. Der
Pfarrer, der mit einem ganz neuen Stolz auf seinen Pflegling blickte, aber über
seiner Entdeckerfreude doch seinen pflichtgemäßen Sonntagsgottesdienst nicht
versäumen wollte, erklärte sich bereit, Mirko für eine weitere Probe
zurückzulassen. Der junge Czentovic wurde auf Kosten der Schachecke im Hotel
einquartiert und sah an diesem Abend zum ersten Mal ein Wasserklosett. Am
folgenden Sonntagnachmittag war der Schachraum überfüllt. Mirko, unbeweglich
vier Stunden vor dem Brett sitzend, besiegte, ohne ein Wort zu sprechen oder
auch nur aufzuschauen, einen Spieler nach dem andern; schließlich wurde eine
Simultanpartie (Schachpartie, die ein Einzelner gegen mehrere
spielt.)vorgeschlagen. Es dauerte eine Welle, ehe man dem Unbelehrten
begreiflich machen konnte, dass bei einer Simultanpartie er allein gegen die
verschiedenen Spieler zu kämpfen hätte. Aber sobald Mirko diesen Usus (Brauch)
begriffen, fand er sich rasch in die Aufgabe, ging mit seinen schweren,
knarrenden Schuhen langsam von Tisch zu Tisch und gewann schließlich sieben von
den acht Partien.
Nun begannen große Beratungen. Obwohl dieser neue Champion im strengen Sinne
nicht zur Stadt gehörte, war doch der heimische Nationalstolz lebhaft entzündet.
Vielleicht konnte endlich die kleine Stadt, deren Vorhandensein auf der
Landkarte kaum jemand bisher wahrgenommen, zum ersten Mal sich die Ehre
erwerben, einen berühmten Mann in die Welt zu schicken. Ein Agent namens Koller,
sonst nur Chansonetten und Sängerinnen für das Kabarett der Garnison
vermittelnd, erklärte sich bereit, sofern man den Zuschuss für ein Jahr leiste,
den jungen Menschen in Wien von einem ihm bekannten ausgezeichneten kleinen
Meister fachmäßig in der Schachkunst ausbilden zu lassen. Graf Simczic, dem in
sechzig Jahren täglichen Schachspieles nie ein so merkwürdiger Gegner
entgegengetreten war, zeichnete sofort den Betrag. Mit diesem Tage begann die
erstaunliche Karriere des Schiffersohnes.
Nach einem halben Jahre beherrschte Mirko sämtliche Geheimnisse der
Schachtechnik, allerdings mit einer seltsamen Einschränkung, die später in den
Fachkreisen viel beobachtet und bespöttelt wurde. Denn Czentovic brachte es nie
dazu, auch nur eine einzige Schachpartie auswendig – oder wie man fachgemäß
sagt: blind – zu spielen. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit, das Schlachtfeld
in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen. Er musste immer das
schwarz-weiße Karree (Viereck) mit den vierundsechzig Feldern und zweiunddreißig
Figuren handgreiflich (griffbereit) vor sich haben; noch zur Zeit seines
Weltruhmes führte er ständig ein zusammenlegbares Taschenschach mit sich, um,
wenn er eine Meisterpartie rekonstruieren oder ein Problem für sich lösen
wollte, sich die Stellung optisch vor Augen zu führen. Dieser an sich
unbeträchtliche Defekt verriet einen Mangel an imaginativer (Einbildung) Kraft
und wurde in dem engen Kreise ebenso lebhaft diskutiert, wie wenn unter Musikern
ein hervorragender Virtuose (Meister) oder Dirigent sich unfähig gezeigt hätte,
ohne aufgeschlagene Partitur (Notenschrift) zu spielen oder zu dirigieren. Aber
diese merkwürdige Eigenheit verzögerte keineswegs Mirkos stupenden Aufstieg. Mit
siebzehn Jahren hatte er schon ein Dutzend Schachpreise gewonnen, mit achtzehn
sich die ungarische Meisterschaft, mit zwanzig endlich die Weltmeisterschaft
erobert. Die verwegensten Champions, jeder einzelne an intellektueller Begabung,
an Phantasie und Kühnheit ihm unermesslich überlegen, erlagen ebenso seiner
zähen und kalten Logik wie Napoleon dem schwerfälligen Kutusow, wie Hannibal dem
Fabius Cunctator, von dem Livius berichtet, dass er gleichfalls in seiner
Kindheit derart auffällige Züge von Phlegma (Antriebslosigkeit) und Imbezillität
(mittlere geistige Behinderung) gezeigt habe. So geschah es, dass in die
illustre (namhafte) Galerie der Schachmeister, die in ihren Reihen die
verschiedensten Typen intellektueller (verstandesmäßiger) Überlegenheit
vereinigt, Philosophen, Mathematiker, kalkulierende, imaginierende
(Einbildungskraft) und oft schöpferische Naturen, zum ersten Mal ein völliger
Outsider (Außenseiter) der geistigen Welt einbrach, ein schwerer, maulfauler
Bauernbursche, aus dem auch nur ein einziges publizistisch (für die Presse)
brauchbares Wort herauszulocken selbst den gerissensten Journalisten nie gelang.
Freilich, was Czentovic den Zeitungen an geschliffenen Sentenzen (Sinnsprüche)
vorenthielt, ersetzte er bald reichlich durch Anekdoten (meist lustige
Geschichte über eine bekannte Person) über seine Person. Denn rettungslos wurde
mit der Sekunde, da er vom Schachbrette aufstand, wo er Meister ohnegleichen
war, Czentovic zu einer grotesken (lächerlichen) und beinahe komischen Figur;
trotz seines feierlichen schwarzen Anzuges, seiner pompösen Krawatte mit der
etwas aufdringlichen Perlennadel und seiner mühsam manikürten Finger blieb er in
seinem Gehaben und seinen Manieren derselbe beschränkte Bauernjunge, der im Dorf
die Stube des Pfarrers gefegt. Ungeschickt und geradezu schamlos plump suchte er
zum Gaudium und zum Ärger seiner Fachkollegen aus seiner Begabung und seinem
Ruhm mit einer kleinlichen und sogar oft ordinären Habgier herauszuholen, was an
Geld herauszuholen war. Er reiste von Stadt zu Stadt, immer in den billigsten
Hotels wohnend, er spielte in den kläglichsten Vereinen, sofern man ihm sein
Honorar bewilligte, er ließ sich abbilden auf Seifenreklamen und verkaufte
sogar, ohne auf den Spott seiner Konkurrenten zu achten, die genau wussten, dass
er nicht imstande war, drei Sätze richtig zu schreiben, seinen Namen für eine
'Philosophie des Schachs', die in Wirklichkeit ein kleiner galizischer Student
für den geschäftstüchtigen Verleger geschrieben. Wie allen zähen Naturen fehlte
ihm jeder Sinn für das Lächerliche; seit seinem Siege im Weltturnier hielt er
sich für den wichtigsten Mann der Welt, und das Bewusstsein, all diese
gescheiten, Intellektuellen, blendenden Sprecher und Schreiber auf ihrem eigenen
Feld geschlagen zu haben, und vor allem die handgreifliche Tatsache, mehr als
sie zu verdienen, verwandelte die ursprüngliche Unsicherheit in einen kalten und
meist plump zur Schau getragenen Stolz.
„Aber wie sollte ein so rascher Ruhm nicht einen so leeren Kopf beduseln?",
schloss mein Freund, der mir gerade einige klassische Proben von Czentovics
kindischer Präpotenz (Überheblichkeit) anvertraut hatte. „Wie sollte ein
einundzwanzigjähriger Bauernbursche aus dem Banat nicht den Eitelkeitskoller
kriegen, wenn er plötzlich mit ein bisschen Figurenherumschieben auf einem
Holzbrett in einer Woche mehr verdient als sein ganzes Dorf daheim mit
Holzfällen und den bittersten Abrackereien in einem ganzen Jahr? Und dann, ist
es nicht eigentlich verflucht leicht, sich für einen großen Menschen zu halten,
wenn man nicht mit der leisesten Ahnung belastet ist, dass ein Rembrandt, ein
Beethoven, ein Dante, ein Napoleon je gelebt haben? Dieser Bursche weiß in
seinem vermauerten Gehirn nur das eine, dass er seit Monaten nicht eine einzige
Schachpartie verloren hat, und da er eben nicht ahnt, dass es außer Schach und
Geld noch andere Werte auf unserer Erde gibt, hat er allen Grund, von sich
begeistert zu sein."
Diese Mitteilungen meines Freundes verfehlten nicht, meine besondere Neugierde
zu erregen. Alle Arten von monomanischen, in eine einzige Idee verschossenen
Menschen haben mich zeitlebens angereizt, denn je mehr sich einer begrenzt, um
so mehr ist er andererseits dem Unendlichen nahe; gerade solche scheinbar
Weltabseitigen bauen in ihrer besonderen Materie sich termitenhaft eine
merkwürdige und durchaus einmalige Abbreviatur der Welt. So machte ich aus
meiner Absicht, dieses sonderbare Spezimen intellektueller Eingleisigkeit auf
der zwölftägigen Fahrt bis Rio näher unter die Lupe zu nehmen, kein Hehl.
Jedoch: „Da werden Sie wenig Glück haben", warnte mein Freund. „Soviel ich weiß,
ist es noch keinem gelungen, aus Czentovic das Geringste an psychologischem
Material herauszuholen. Hinter all seiner abgründigen Beschränktheit verbirgt
dieser gerissene Bauer die große Klugheit, sich keine Blößen zu geben, und zwar
dank der simplen Technik, dass er außer mit Landsleuten seiner eigenen Sphäre,
die er sich in kleinen Gasthäusern zusammensucht, jedes Gespräch vermeidet. Wo
er einen gebildeten Menschen spürt, kriecht er in sein Schneckenhaus; so kann
niemand sich rühmen, je ein dummes Wort von ihm gehört oder die angeblich
unbegrenzte Tiefe seiner Unbildung ausgemessen zu haben." Mein Freund sollte in
der Tat recht behalten. Während der ersten Tage der Reise erwies es sich als
vollkommen unmöglich, an Czentovic ohne grobe Zudringlichkeit, die schließlich
nicht meine Sache ist, heranzukommen. Manchmal schritt er zwar über das
Promenadendeck, aber dann immer die Hände auf dem Rücken verschränkt mit jener
stolz in sich versenkten Haltung, wie Napoleon auf dem bekannten Bilde; außerdem
erledigte er immer so eilig und stoßhaft seine peripatetische Deckrunde, dass
man ihm hätte im Trab nachlaufen müssen, um ihn ansprechen zu können. In den
Gesellschaftsräumen wiederum, in der Bar, im Rauchzimmer zeigte er sich niemals;
wie mir der Steward auf vertrauliche Erkundigung hin mitteilte, verbrachte er
den Großteil des Tages in seiner Kabine, um auf einem mächtigen Brett
Schachpartien einzuüben oder zu rekapitulieren (wiederholen).
Nach drei Tagen begann ich mich tatsächlich zu ärgern, dass seine zähe
Abwehrtechnik geschickter war als mein Wille, an ihn heranzukommen. Ich hatte in
meinem Leben noch nie Gelegenheit gehabt, die persönliche Bekanntschaft eines
Schachmeisters zu machen, und je mehr ich mich jetzt bemühte, mir einen solchen
Typus zu personifizieren, um so unvorstellbarer schien mir eine Gehirntätigkeit,
die ein ganzes Leben lang ausschließlich um einen Raum von vierundsechzig
schwarzen und weißen Feldern rotiert. Ich wusste wohl aus eigener Erfahrung um
die geheimnisvolle Attraktion des 'königlichen Spiels', dieses einzigen unter
allen Spielen, die der Mensch ersonnen, das sich souverän jeder Tyrannis
(brutaler Herrscher) des Zufalls entzieht und seine Siegespalmen einzig dem
Geist oder vielmehr einer bestimmten Form geistiger Begabung zuteilt. Aber macht
man sich nicht bereits einer beleidigenden Einschränkung schuldig, indem man
Schach ein Spiel nennt? Ist es nicht auch eine Wissenschaft, eine Kunst,
schwebend zwischen diesen Kategorien wie der Sarg Mohammeds zwischen Himmel und
Erde, eine einmalige Bindung aller Gegensatzpaare; uralt und doch ewig neu,
mechanisch in der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt in
geometrisch starrem Raum und dabei unbegrenzt in seinen Kombinationen, ständig
sich entwickelnd und doch steril, ein Denken, das zu nichts führt, eine
Mathematik, die nichts errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine Architektur ohne
Substanz und nichtsdestominder erwiesenermaßen dauerhafter in seinem Sein und
Dasein als alle Bücher und Werke, das einzige Spiel, das allen Völkern und allen
Zeiten zugehört und von dem niemand weiß, welcher Gott es auf die Erde gebracht,
um die Langeweile zu töten, die Sinne zu schärfen, die Seele zu spannen. Wo ist
bei ihm Anfang und wo das Ende: jedes Kind kann seine ersten Regeln erlernen,
jeder Stümper sich in ihm versuchen, und doch vermag es innerhalb dieses
unveränderbar engen Quadrats eine besondere Spezies von Meistern zu erzeugen,
unvergleichbar allen anderen, Menschen mit einer einzig dem Schach zubestimmten
Begabung, spezifische Genies, in denen Vision, Geduld und Technik in einer
ebenso genau bestimmten Verteilung wirksam sind wie im Mathematiker, im Dichter,
im Musiker, und nur in anderer Schichtung und Bindung. In früheren Zeiten
physiognomischer Leidenschaft hätte ein Gall vielleicht die Gehirne solcher
Schachmeister seziert, um festzustellen, ob bei solchen Schachgenies eine
besondere Windung in der grauen Masse des Gehirns, eine Art Schachmuskel oder
Schachhöcker sich intensiver eingezeichnet fände als in anderen Schädeln. Und
wie hätte einen solchen Physiognomiker erst der Fall eines Czentovic angereizt,
wo dies spezifische Genie eingesprengt erscheint in eine absolute intellektuelle
Trägheit wie ein einzelner Faden Gold in einem Zentner tauben Gesteins. Im
Prinzip war mir die Tatsache von jeher verständlich, dass ein derart einmaliges,
ein solches geniales Spiel sich spezifische Matadore schaffen musste, aber wie
schwer, wie unmöglich doch, sich das Leben eines geistig regsamen Menschen
vorzustellen, dem sich die Weit einzig auf die enge Einbahn zwischen Schwarz und
Weiß reduziert, der in einem bloßen Hin und Her, Vor und Zurück von
zweiunddreißig Figuren seine Lebenstriumphe sucht, einen Menschen, dem bei einer
neuen Eröffnung, den Springer vorzuziehen statt des Bauern, schon Großtat und
sein ärmliches Eckchen Unsterblichkeit im Winkel eines Schachbuches bedeutet –
einen Menschen, einen geistigen Menschen, der, ohne wahnsinnig zu werden, zehn,
zwanzig, dreißig, vierzig Jahre lang die ganze Spannkraft seines Denkens immer
und immer wieder an den lächerlichen Einsatz wendet, einen hölzernen König auf
einem hölzernen Brett in den Winkel zu drängen!
Und nun war ein solches Phänomen, ein solches sonderbares Genie oder ein solcher
rätselhafter Narr mir räumlich zum ersten Mal ganz nahe, sechs Kabinen weit auf
demselben Schiff, und ich Unseliger, für den Neugier in geistigen Dingen immer
zu einer Art Passion ausartet, sollte nicht imstande sein, mich ihm zu nähern.
Ich begann, mir die absurdesten Listen auszudenken: etwa, ihn in seiner
Eitelkeit zu kitzeln, indem ich ihm ein angebliches Interview für eine wichtige
Zeitung vortäuschte, oder bei seiner Habgier zu packen, dadurch, dass ich ihm
ein einträgliches Turnier in Schottland proponierte (vorschlug). Aber
schließlich erinnerte ich mich, dass die bewährteste Technik der Jäger, den
Auerhahn an sich heranzulocken, darin besteht, dass sie seinen Balzschrei
nachahmen; was konnte eigentlich wirksamer sein, um die Aufmerksamkeit eines
Schachmeisters auf sich zu ziehen, als indem man selber Schach spielte?
Nun bin ich zeitlebens nie ein ernstlicher Schachkünstler gewesen, und zwar aus
dem einfachen Grunde, dass ich mich mit Schach immer bloß leichtfertig und
ausschließlich zu meinem Vergnügen befasste; wenn ich mich für eine Stunde vor
das Brett setze, geschieht dies keineswegs, um mich anzustrengen, sondern im
Gegenteil, um mich von geistiger Anspannung zu entlasten. Ich 'spiele' Schach im
wahrsten Sinne des Wortes, während die anderen, die wirklichen Schachspieler,
Schach 'ernsten', um ein verwegenes neues Wort in die deutsche Sprache
einzuführen. Für Schach ist nun, wie für die Liebe, ein Partner unentbehrlich,
und ich wusste zur Stunde noch nicht, ob sich außer uns andere Schachliebhaber
an Bord befanden. Um sie aus ihren Höhlen herauszulocken, stellte ich im Smoking
Room (Raucherraum) eine primitive Falle auf, indem ich mich mit meiner Frau,
obwohl sie noch schwächer spielt als ich, vogelstellerisch vor ein Schachbrett
setzte. Und tatsächlich, wir hatten noch nicht sechs Züge getan, so blieb schon
jemand im Vorübergehen stehen, ein zweiter erbat die Erlaubnis, zusehen zu
dürfen; schließlich fand sich auch der erwünschte Partner, der mich zu einer
Partie herausforderte. Er hieß McConnor und war ein schottischer
Tiefbauingenieur, der, wie ich hörte, bei Ölbohrungen in Kalifornien sich ein
großes Vermögen gemacht hatte, von äußerem Ansehen ein stämmiger Mensch mit
starken, fast quadratisch harten Kinnbacken, kräftigen Zähnen und einer satten
Gesichtsfarbe, deren prononcierte Rötlichkeit wahrscheinlich, zumindest
teilweise, reichlichem Genuss von Whisky zu verdanken war. Die auffällig
breiten, fast athletisch vehementen Schultern machten sich leider auch im Spiel
charaktermäßig bemerkbar, denn dieser Mister McConnor gehörte zu jener Sorte
selbstbesessener Erfolgsmenschen, die auch im belanglosesten Spiel eine
Niederlage schon als Herabsetzung ihres Persönlichkeitsbewußtseins empfinden.
Gewöhnt, sich im Leben rücksichtslos durchzusetzen, und verwöhnt vom faktischen
Erfolg, war dieser massive Selfmademan derart unerschütterlich von seiner
Überlegenheit durchdrungen, dass jeder Widerstand ihn als ungebührliche
Auflehnung und beinahe Beleidigung erregte. Als er die erste Partie verlor,
wurde er mürrisch und begann umständlich und diktatorisch zu erklären, dies
könne nur durch eine momentane Unaufmerksamkeit geschehen sein, bei der dritten
machte er den Lärm im Nachbarraum für sein Versagen verantwortlich; nie war er
gewillt, eine Partie zu verlieren, ohne sofort Revanche zu fordern. Anfangs
amüsierte mich diese ehrgeizige Verbissenheit; schließlich nahm ich sie nur mehr
als unvermeidliche Begleiterscheinung für meine eigentliche Absicht hin, den
Weltmeister an unseren Tisch zu locken.
Am dritten Tag gelang es und gelang doch nur halb. Sei es, dass Czentovic uns
vom Promenadendeck aus durch das Bordfenster vor dem Schachbrett beobachtet oder
dass er nur zufälligerweise den Smoking Room mit seiner Anwesenheit beehrte –
jedenfalls trat er, sobald er uns Unberufene seine Kunst ausüben sah,
unwillkürlich einen Schritt näher und warf aus dieser gemessenen Distanz einen
prüfenden Blick auf unser Brett. McConnor war gerade am Zuge. Und schon dieser
eine Zug schien ausreichend, um Czentovic zu belehren, wie wenig ein weiteres
Verfolgen unserer dilettantischen Bemühungen seines meisterlichen Interesses
würdig sei. Mit derselben selbstverständlichen Geste, mit der unsereiner in
einer Buchhandlung einen angebotenen schlechten Detektivroman weglegt, ohne ihn
auch nur anzublättern, trat er von unserem Tische fort und verließ den Smoking
Room. 'Gewogen und zu leicht befunden', dachte ich mir, ein bisschen verärgert
durch diesen kühlen, verächtlichen Blick, und um meinem Unmut irgendwie Luft zu
machen, äußerte ich zu McConnor:
„Ihr Zug scheint den Meister nicht sehr begeistert zu haben."
„Welchen Meister?"
Ich erklärte ihm, jener Herr, der eben an uns vorübergegangen und mit
missbilligendem Blick auf unser Spiel gesehen, sei der Schachmeister Czentovic
gewesen. Nun, fügte ich hinzu, wir beide würden es überstehen und ohne Herzeleid
uns mit seiner illustren Verachtung abfinden; arme Leute müssten eben mit Wasser
kochen. Aber zu meiner Überraschung übte auf McConnor meine lässige Mitteilung
eine völlig unerwartete Wirkung. Er wurde sofort erregt, vergaß unsere Partie,
und sein Ehrgeiz begann geradezu hörbar zu pochen. Er habe keine Ahnung gehabt,
dass Czentovic an Bord sei, und Czentovic müsse unbedingt gegen ihn spielen. Er
habe noch nie im Leben gegen einen Weltmeister gespielt außer einmal bei einer
Simultanpartie mit vierzig anderen; schon das sei furchtbar spannend gewesen,
und er habe damals beinahe gewonnen. Ob ich den Schachmeister persönlich kenne?
Ich verneinte. Ob ich ihn nicht ansprechen wolle und zu uns bitten? Ich lehnte
ab mit der Begründung, Czentovic sei meines Wissens für neue Bekanntschaften
nicht sehr zugänglich. Außerdem, was für einen Reiz sollte es einem Weltmeister
bieten, mit uns drittklassigen Spielern sich abzugeben?
Nun, das mit den drittklassigen Spielern hätte ich zu einem derart ehrgeizigen
Manne wie McConnor lieber nicht äußern sollen. Er lehnte sich verärgert zurück
und erklärte schroff, er für seinen Tell könne nicht glauben, dass Czentovic die
höfliche Aufforderung eines Gentlemans ablehnen werde; dafür werde er schon
sorgen. Auf seinen Wunsch gab ich ihm eine kurze Personenbeschreibung des
Weltmeisters, und schon stürmte er, unser Schachbrett gleichgültig im Stich
lassend, in unbeherrschter Ungeduld Czentovic auf das Promenadendeck nach.
Wieder spürte ich, dass der Besitzer dermaßen breiter Schultern nicht zu halten
war, sobald er einmal seinen Willen in eine Sache geworfen.
Ich wartete ziemlich gespannt. Nach zehn Minuten kehrte McConnor zurück, nicht
sehr aufgeräumt, wie mir schien.
„Nun?" fragte ich.
„Sie haben recht gehabt", antwortete er etwas verärgert. „Kein sehr angenehmer
Herr. Ich stellte mich vor, erklärte ihm, wer ich sei. Er reichte mir nicht
einmal die Hand. Ich versuchte, ihm auseinanderzusetzen, wie stolz und geehrt
wir alle an Bord sein würden, wenn er eine Simultanpartie gegen uns spielen
wollte. Aber er hielt seinen Rücken verflucht steif; es täte ihm leid, aber er
habe kontraktliche (vertragliche) Verpflichtungen gegen seinen Agenten, die ihm
ausdrücklich untersagten, während seiner ganzen Tournee ohne Honorar zu spielen.
Sein Minimum sei zweihundertfünfzig Dollar pro Partie."
Ich lachte. „Auf diesen Gedanken wäre ich eigentlich nie geraten, dass Figuren
von Schwarz auf Weiß zu schieben ein derart einträgliches Geschäft sein kann.
Nun, ich hoffe, Sie haben sich ebenso höflich empfohlen."
Aber McConnor blieb vollkommen ernst. „Die Partie ist für morgen nachmittags
drei Uhr angesetzt. Hier im Rauchsalon. Ich hoffe, wir werden uns nicht so
leicht zu Brei schlagen lassen."
„Wie? Sie haben ihm die zweihundertfünfzig Dollar bewilligt?", rief ich ganz
betroffen aus.
„Warum nicht? C' est son métier. Wäre ich Zahnarzt an Bord, würde ich auch nicht
verlangen, dass er mir den Zahn umsonst ziehen soll. Der Mann hat ganz recht,
dicke Preise zu machen; in jedem Fach sind die wirklichen Könner auch die besten
Geschäftsleute. Und was mich betrifft: je klarer ein Geschäft, um so besser. Ich
zahle lieber in Cash, als mir von einem Herrn Czentovic Gnaden erweisen zu
lassen und mich am Ende noch bei ihm bedanken zu müssen. Schließlich habe ich in
unserem Klub schon mehr an einem Abend verloren als zweihundertfünfzig Dollar
und dabei mit keinem Weltmeister gespielt. Für 'drittklassige' Spieler ist es
keine Schande, von einem Czentovic umgelegt zu werden."
Es amüsierte mich, zu bemerken, wie tief ich McConnors Selbstgefühl mit dem
einen unschuldigen Wort 'drittklassiger Spieler' gekränkt hatte. Aber da er den
teuren Spaß zu bezahlen gesonnen war, hatte ich nichts einzuwenden gegen seinen
deplacierten Ehrgeiz, der mir endlich die Bekanntschaft meines Kuriosums
vermitteln sollte. Wir verständigten eiligst die vier oder fünf Herren, die sich
bisher als Schachspieler deklariert hatten, von dem bevorstehenden Ereignis und
ließen, um von durchgehenden Passanten möglichst wenig gestört zu werden, nicht
nur unseren Tisch, sondern auch die Nachbartische für das bevorstehende Match im
voraus reservieren.
Am nächsten Tage war unsere kleine Gruppe zur vereinbarten Stunde vollzählig
erschienen. Der Mittelplatz gegenüber dem Meister blieb selbstverständlich
McConnor zugeteilt, der seine Nervosität entlud, indem er eine schwere Zigarre
nach der andern anzündete und immer wieder unruhig auf die Uhr blickte. Aber der
Weltmeister ließ – ich hatte nach den Erzählungen meines Freundes derlei schon
geahnt – gute zehn Minuten auf sich warten, wodurch allerdings sein Erscheinen
dann erhöhten Aplomb erhielt. Er trat ruhig und gelassen auf den Tisch zu. Ohne
sich vorzustellen – 'Ihr wisst, wer ich bin, und wer ihr seid, interessiert mich
nicht', schien diese Unhöflichkeit zu besagen –, begann er mit fachmännischer
Trockenheit die sachlichen Anordnungen. Da eine Simultanpartie hier an Bord
mangels an verfügbaren Schachbrettern unmöglich sei, schlage er vor, dass wir
alle gemeinsam gegen ihn spielen sollten. Nach jedem Zug werde er, um unsere
Beratungen nicht zu stören, sich zu einem anderen Tisch am Ende des Raumes
verfügen. Sobald wir unseren Gegenzug getan, sollten wir, da bedauerlicherweise
keine Tischglocke zur Hand sei, mit dem Löffel gegen ein Glas klopfen. Als
maximale Zugzeit schlage er zehn Minuten vor, falls wir keine andere Einteilung
wünschten. Wir pflichteten selbstverständlich wie schüchterne Schüler jedem
Vorschlage bei. Die Farbenwahl teilte Czentovic Schwarz zu; noch im Stehen tat
er den ersten Gegenzug und wandte sich dann gleich dem von ihm vorgeschlagenen
Warteplatz zu, wo er lässig hingelehnt eine illustrierte Zeitschrift
durchblätterte.
Es hat wenig Sinn, über die Partie zu berichten. Sie endete selbstverständlich,
wie sie enden musste, mit unserer totalen Niederlage, und zwar bereits beim
vierundzwanzigsten Zuge. Dass nun ein Weltschachmeister ein halbes Dutzend
mittlerer oder untermittlerer Spieler mit der linken Hand niederfegt, war an
sich wenig erstaunlich; verdrießlich wirkte eigentlich auf uns alle nur die
präpotente (überhebliche) Art, mit der Czentovic es uns allzu deutlich fühlen
ließ, dass er uns mit der linken Hand erledigte. Er warf jedes Mal nur einen
scheinbar flüchtigen Blick auf das Brett, sah an uns so lässig vorbei, als ob
wir selbst tote Holzfiguren wären, und diese impertinente Geste erinnerte
unwillkürlich an die, mit der man einem räudigen Hund abgewendeten Blicks einen
Brocken zuwirft. Bei einiger Feinfühligkeit hätte er meiner Meinung nach uns auf
Fehler aufmerksam machen können oder durch ein freundliches Wort aufmuntern.
Aber auch nach Beendigung der Partie äußerte dieser unmenschliche Schachautomat
keine Silbe, sondern wartete, nachdem er „Matt" gesagt, regungslos vor dem
Tische, ob man noch eine zweite Partie von ihm wünsche. Schon war ich
aufgestanden, um hilflos, wie man immer gegen dickfellige Grobheit bleibt, durch
eine Geste anzudeuten, dass mit diesem erledigten Dollargeschäft wenigstens
meinerseits das Vergnügen unserer Bekanntschaft beendet sei, als zu meinem Ärger
neben mir McConnor mit ganz heiserer Stimme sagte: „Revanche!"
Ich erschrak geradezu über den herausfordernden Ton; tatsächlich bot McConnor in
diesem Augenblick eher den Eindruck eines Boxers vor dem Losschlagen als den
eines höflichen Gentlemans. War es die unangenehme Art der Behandlung, die uns
Czentovic hatte zuteil werden lassen, oder nur sein pathologisch reizbarer
Ehrgeiz – jedenfalls war McConnors Wesen vollkommen verändert. Rot im Gesicht
bis hoch hinauf an das Stirnhaar, die Nüstern von innerem Druck stark
aufgespannt, transpirierte er sichtlich, und von den verbissenen Lippen schnitt
sich scharf eine Falte gegen sein kämpferisch vorgerecktes Kinn. Ich erkannte
beunruhigt in seinem Auge jenes Flackern unbeherrschter Leidenschaft, wie sie
sonst Menschen nur am Roulettetisch ergreift, wenn zum sechsten- oder siebenten
Mal bei immer verdoppeltem Einsatz nicht die richtige Farbe kommt. In diesem
Augenblick wusste ich, dieser fanatisch Ehrgeizige würde, und sollte es ihn sein
ganzes Vermögen kosten, gegen Czentovic so lange spielen und spielen und
spielen, einfach oder doubliert, bis er wenigstens ein einziges Mal eine Partie
gewonnen. Wenn Czentovic durchhielt, so hatte er an McConnor eine Goldgrube
gefunden, aus der er bis Buenos Aires ein paar tausend Dollar schaufeln konnte.
Czentovic blieb unbewegt. „Bitte", antwortete er höflich. „Die Herren spielen
jetzt Schwarz."
Auch die zweite Partie bot kein verändertes Bild, außer dass durch einige
Neugierige unser Kreis nicht nur größer, sondern auch lebhafter geworden war.
McConnor blickte so starr auf das Brett, als wollte er die Figuren mit seinem
Willen, zu gewinnen, magnetisieren; ich spürte ihm an, dass er auch tausend
Dollar begeistert geopfert hätte für den Lustschrei 'Matt!' gegen den
kaltschnäuzigen Gegner. Merkwürdigerweise ging etwas von seiner verbissenen
Erregung unbewusst in uns über. Jeder einzelne Zug wurde ungleich
leidenschaftlicher diskutiert als vordem, immer hielten wir noch im letzten
Moment einer den andern zurück, ehe wir uns einigten, das Zeichen zu geben, das
Czentovic an unseren Tisch zurückrief. Allmählich waren wir beim
siebenunddreißigsten Zuge angelangt, und zu unserer eigenen Überraschung war
eine Konstellation eingetreten, die verblüffend vorteilhaft schien, weil es uns
gelungen war, den Bauern der c – Linie bis auf das vorletzte Feld c2 zu bringen;
wir brauchten ihn nur vorzuschieben auf c1, um eine neue Dame zu gewinnen. Ganz
behaglich war uns freilich nicht bei dieser allzu offenkundigen Chance; wir
argwöhnten einmütig, dieser scheinbar von uns errungene Vorteil müsse von
Czentovic, der doch die Situation viel weitblickender übersah, mit Absicht uns
als Angelhaken zugeschoben sein. Aber trotz angestrengtem gemeinsamem Suchen und
Diskutieren vermochten wir die versteckte Finte (Trick) nicht wahrzunehmen.
Schließlich, schon knapp am Rande der verstatteten (erlaubten) Überlegungsfrist,
entschlossen wir uns, den Zug zu wagen. Schon rührte McConnor den Bauern an, um
ihn auf das letzte Feld zu schieben, als er sich jäh am Arm gepackt fühlte und
jemand leise und heftig flüsterte: „Um Gottes willen! Nicht!"
Unwillkürlich wandten wir uns alle um. Ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren,
dessen schmales, scharfes Gesicht mir schon vordem auf der Deckpromenade durch
seine merkwürdige, fast kreidige Blässe aufgefallen war, musste in den letzten
Minuten, indes wir unsere ganze Aufmerksamkeit dem Problem zuwandten, zu uns
getreten sein. Hastig fügte er, unsern Blick spürend, hinzu:
„Wenn Sie jetzt eine Dame machen, schlägt er sie sofort mit dem Läufer c 1, Sie
nehmen mit dem Springer zurück. Aber inzwischen geht er mit seinem Freibauern
auf d7, bedroht Ihren Turm, und auch wenn Sie mit dem Springer Schach sagen,
verlieren Sie und sind nach neun bis zehn Zügen erledigt. Es ist beinahe
dieselbe Konstellation(angestoßen) hat."
McConnor ließ erstaunt die Hand von der Figur und starrte nicht minder
verwundert als wir alle auf den Mann, der wie ein unvermuteter Engel helfend vom
Himmel kam. Jemand, der auf neun Züge im voraus ein Matt berechnen konnte,
musste ein Fachmann ersten Ranges sein, vielleicht sogar ein Konkurrent um die
Meisterschaft, der zum gleichen Turnier reiste, und sein plötzliches Kommen und
Eingreifen gerade in einem so kritischen Moment hatte etwas fast
Übernatürliches. Als erster fasste sich McConnor.
„Was würden Sie raten?", flüsterte er aufgeregt.
„Nicht gleich vorziehen, sondern zunächst ausweichen! Vor allem mit dem König
abrücken aus der gefährdeten Linie von g8 auf h7. Er wird wahrscheinlich den
Angriff dann auf die andere Flanke hinüberwerfen. Aber das parieren Sie mit Turm
c8 – c4; das kostet ihn zwei Tempi, einen Bauern und damit die Überlegenheit.
Dann steht Freibauer gegen Freibauer, und wenn Sie sich richtig defensiv halten,
kommen Sie noch auf Remis. Mehr ist nicht herauszuholen."
Wir staunten abermals. Die Präzision nicht minder als die Raschheit seiner
Berechnung hatte etwas Verwirrendes; es war, als ob er die Züge aus einem
gedruckten Buch ablesen würde. Immerhin wirkte die unvermutete Chance, dank
seines Eingreifens unsere Partie gegen einen Weltmeister auf Remis zu bringen,
zauberisch. Einmütig rückten wir zur Seite, um ihm freieren Blick auf das Brett
zu gewähren. Noch einmal fragte McConnor:
„Also König g8 auf h7?"
„Jawohl! Ausweichen vor allem!"
McConnor gehorchte, und wir klopften an das Glas. Czentovic trat mit seinem
gewohnt gleichmütigen Schritt an unseren Tisch und maß mit einem einzigen Blick
den Gegenzug. Dann zog er auf dem Königsflügel den Bauern h2 – h4, genau wie es
unser unbekannter Helfer vorausgesagt. Und schon flüsterte dieser aufgeregt:
„Turm vor, Turm vor, c8 auf c4, er muss dann zuerst den Bauern decken. Aber das
wird ihm nichts helfen! Sie schlagen, ohne sich um seinen Freibauern zu kümmern,
mit dem Springer d3 – e5, und das Gleichgewicht ist wiederhergestellt. Den
ganzen Druck vorwärts, statt zu verteidigen!"
Wir verstanden nicht, was er meinte. Für uns war, was er sagte, Chinesisch. Aber
schon einmal in seinem Bann, zog McConnor, ohne zu überlegen, wie jener geboten.
Wir schlugen abermals an das Glas, um Czentovic zurückzurufen. Zum ersten Male
entschied er sich nicht rasch, sondern blickte gespannt auf das Brett.
Unwillkürlich schoben sich seine Brauen zusammen. Dann tat er genau den Zug, den
der Fremde uns angekündigt, und wandte sich zum Gehen. Jedoch ehe er zurücktrat,
geschah etwas Neues und Unerwartetes. Czentovic hob den Blick und musterte
unsere Reihen – offenbar wollte er herausfinden, wer ihm mit einem Male so
energischen Widerstand leistete.
Von diesem Augenblick an wuchs unsere Erregung ins Ungemessene. Bisher hatten
wir ohne ernstliche Hoffnung gespielt, nun aber trieb der Gedanke, den kalten
Hochmut Czentovics zu brechen, uns eine fliegende Hitze durch alle Pulse. Schon
aber hatte unser neuer Freund den nächsten Zug angeordnet, und wir konnten – die
Finger zitterten mir, als ich den Löffel an das Glas schlug – Czentovic
zurückrufen. Und nun kam unser erster Triumph. Czentovic, der bisher immer nur
im Stehen gespielt, zögerte, zögerte und setzte sich schließlich nieder. Er
setzte sich langsam und schwerfällig; damit aber war schon rein körperlich das
bisherige Von-oben-herab zwischen ihm und uns aufgehoben. Wir hatten ihn
genötigt, sich wenigstens räumlich auf eine Ebene mit uns zu begeben. Er
überlegte lange, die Augen unbeweglich auf das Brett gesenkt, so dass man kaum
mehr die Pupillen unter den schwarzen Lidern wahrnehmen konnte, und im
angestrengten Nachdenken öffnete sich ihm allmählich der Mund, was seinem runden
Gesicht ein etwas einfältiges Aussehen gab. Czentovic überlegte einige Minuten,
dann tat er seinen Zug und stand auf. Und schon flüsterte unser Freund:
„Ein Hinhaltezug! Gut gedacht! Aber nicht darauf eingehen! Abtausch forcieren,
unbedingt Abtausch, dann können wir auf Remis, und kein Gott kann ihm helfen."
McConnor gehorchte. Es begann in den nächsten Zügen zwischen den beiden – wir
andern waren längst zu leeren Statisten herabgesunken – ein uns unverständliches
Hin und Her. Nach etwa sieben Zügen sah Czentovic nach längerem Nachdenken auf
und erklärte: „Remis."
Einen Augenblick herrschte totale Stille. Man hörte plötzlich die Wellen
rauschen und das Radio aus dem Salon herüberjazzen, man vernahm jeden Schritt
vom Promenadendeck und das leise, feine Sausen des Winds, der durch die Fugen
der Fenster fuhr. Keiner von uns atmete, es war zu plötzlich gekommen und wir
alle noch geradezu erschrocken über das Unwahrscheinliche, dass dieser
Unbekannte dem Weltmeister in einer schon halb verlorenen Partie seinen Willen
aufgezwungen haben sollte. McConnor lehnte sich mit einem Ruck zurück, der
zurückgehaltene Atem fuhr ihm hörbar in einem beglückten „Ah!" von den Lippen.
Ich wiederum beobachtete Czentovic. Schon bei den letzten Zügen hatte mir
geschienen, als ob er blässer geworden sei. Aber er verstand sich gut
zusammenzuhalten. Er verharrte in seiner scheinbar gleichmütigen Starre und
fragte nur in lässigster Weise, während er die Figuren mit ruhiger Hand vom
Brette schob:
„Wünschen die Herren noch eine dritte Partie?"
Er stellte die Frage rein sachlich, rein geschäftlich. Aber das Merkwürdige war:
er hatte dabei nicht McConnor angeblickt, sondern scharf und gerade das Auge
gegen unseren Retter gehoben. Wie ein Pferd am festeren Sitz einen neuen, einen
besseren Reiter, musste er an den letzten Zügen seinen wirklichen, seinen
eigentlichen Gegner erkannt haben. Unwillkürlich folgten wir seinem Blick und
sahen gespannt auf den Fremden. jedoch ehe dieser sich besinnen oder gar
antworten konnte, hatte in seiner ehrgeizigen Erregung McConnor schon
triumphierend ihm zugerufen:
„Selbstverständlich! Aber jetzt müssen Sie allein gegen ihn spielen! Sie allein
gegen Czentovic!"
Doch nun ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Der Fremde, der
merkwürdigerweise noch immer angestrengt auf das schon abgeräumte Schachbrett
starrte, schrak auf, da er alle Blicke auf sich gerichtet und sich so begeistert
angesprochen fühlte. Seine Züge verwirrten sich.
„Auf keinen Fall, meine Herren", stammelte er sichtlich betroffen. „Das ist
völlig ausgeschlossen... ich komme gar nicht in Betracht... ich habe seit
zwanzig, nein, fünfundzwanzig Jahren vor keinem Schachbrett gesessen... und ich
sehe erst jetzt, wie ungehörig ich mich betragen habe, indem ich mich ohne Ihre
Verstattung (Erlaubnis) in Ihr Spiel einmengte... Bitte, entschuldigen Sie meine
Vordringlichkeit... ich will gewiss nicht weiter stören." Und noch ehe wir uns
von unserer Überraschung zurechtgefunden, hatte er sich bereits zurückgezogen
und das Zimmer verlassen.
„Aber das ist doch ganz unmöglich!" dröhnte der temperamentvolle McConnor, mit
der Faust aufschlagend. „Völlig ausgeschlossen, dass dieser Mann fünfundzwanzig
Jahre nicht Schach gespielt haben soll! Er hat doch jeden Zug, jede Gegenpointe
auf fünf, auf sechs Züge vorausberechnet. So etwas kann niemand aus dem
Handgelenk. Das ist doch völlig ausgeschlossen – nicht wahr?"
Mit der letzten Frage hatte sich McConnor unwillkürlich an Czentovic gewandt.
Aber der Weltmeister blieb unerschütterlich kühl.
„Ich vermag darüber kein Urteil abzugeben. jedenfalls hat der Herr etwas
befremdlich und interessant gespielt; deshalb habe ich ihm auch absichtlich eine
Chance gelassen." Gleichzeitig lässig aufstehend, fügte er in seiner sachlichen
Art bei:
„Sollte der Herr oder die Herren morgen eine abermalige Partie wünschen, so
stehe ich von drei Uhr ab zur Verfügung."
Wir konnten ein leises Lächeln nicht unterdrücken. jeder von uns wusste, dass
Czentovic unserem unbekannten Helfer keineswegs großmütig eine Chance gelassen
und diese Bemerkung nichts anderes als eine naive Ausflucht war, um sein eigenes
Versagen zu maskieren. Um so heftiger wuchs unser Verlangen, einen derart
unerschütterlichen Hochmut gedemütigt zu sehen. Mit einemmal war über uns
friedliche, lässige Bordbewohner eine wilde, ehrgeizige Kampflust gekommen, denn
der Gedanke, dass gerade auf unserem Schiff mitten auf dem Ozean dem
Schachmeister die Palme entrungen werden könnte – ein Rekord, der dann von allen
Telegraphenbüros über die ganze Welt hingeblitzt würde – faszinierte uns in
herausforderndster Weise. Dazu kam noch der Reiz des Mysteriösen, der von dem
unerwarteten Eingreifen unseres Retters gerade im kritischen Momente ausging,
und der Kontrast seiner fast ängstlichen Bescheidenheit mit dem
unerschütterlichen Selbstbewusstsein des Professionellen. Wer war dieser
Unbekannte? Hatte hier der Zufall ein noch unentdecktes Schachgenie zutage
gefördert? Oder verbarg uns aus einem unerforschlichen Grunde ein berühmter
Meister seinen Namen? Alle diese Möglichkeiten erörterten wir in aufgeregtester
Weise, selbst die verwegensten Hypothesen waren uns nicht verwegen genug, um die
rätselhafte Scheu und das überraschende Bekenntnis des Fremden mit seiner doch
unverkennbaren Spielkunst in Einklang zu bringen. In einer Hinsicht jedoch
blieben wir alle einig: keinesfalls auf das Schauspiel eines neuerlichen Kampfes
zu verzichten. Wir beschlossen, alles zu versuchen, damit unser Helfer am
nächsten Tage eine Partie gegen Czentovic spiele, für deren materielles Risiko
McConnor aufzukommen sich verpflichtete. Da sich inzwischen durch Umfrage beim
Steward herausgestellt hatte, dass der Unbekannte ein Österreicher sei, wurde
mir als seinem Landsmann der Auftrag zugeteilt, ihm unsere Bitte zu
unterbreiten.
Ich benötigte nicht lange, um auf dem Promenadendeck den so eilig Entflüchteten
aufzufinden. Er lag auf seinem Deckchair und las. Ehe ich auf ihn zutrat, nahm
ich die Gelegenheit wahr, ihn zu betrachten. Der scharfgeschnittene Kopf ruhte
in der Haltung leichter Ermüdung auf dem Kissen –, abermals fiel mir die
merkwürdige Blässe des verhältnismäßig jungen Gesichtes besonders auf, dem die
Haare blendend weiß die Schläfen rahmten; ich hatte, ich weiß nicht warum, den
Eindruck, dieser Mann müsse plötzlich gealtert sein. Kaum ich auf ihn zutrat,
erhob er sich höflich und stellte sich mit einem Namen vor, der mir sofort
vertraut war als der einer hochangesehenen altösterreichischen Familie. Ich
erinnerte mich, dass ein Träger dieses Namens zu dem engsten Freundeskreise
Schuberts gehört hatte und auch einer der Leibärzte des alten Kaisers dieser
Familie entstammte. Als ich Dr. B. unsere Bitte übermittelte, die
Herausforderung Czentovics anzunehmen, war er sichtlich verblüfft. Es erwies
sich, dass er keine Ahnung gehabt hatte, bei jener Partie einen Weltmeister, und
gar den zur Zeit erfolgreichsten, ruhmreich bestanden zu haben. Aus irgendeinem
Grunde schien diese Mitteilung auf ihn besonderen Eindruck zu machen, denn er
erkundigte sich immer und immer wieder von neuem, ob ich dessen gewiss sei, dass
sein Gegner tatsächlich ein anerkannter Weltmeister gewesen. Ich merkte bald,
dass dieser Umstand meinen Auftrag erleichterte, und hielt es nur, seine
Feinfühligkeit spürend, für ratsam, ihm zu verschweigen, dass das materielle
Risiko einer allfälligen Niederlage zu Lasten von McConnors Kasse ginge. Nach
längerem Zögern erklärte sich Dr. B. schließlich zu einem Match bereit, doch
nicht ohne ausdrücklich gebeten zu haben, die anderen Herren nochmals zu warnen,
sie möchten keineswegs auf sein Können übertriebene Hoffnungen setzen.
„Denn", fügte er mit einem versonnenen Lächeln hinzu, „ich weiß wahrhaftig
nicht, ob ich fähig bin, eine Schachpartie nach allen Regeln richtig zu spielen.
Bitte glauben Sie mir, dass es keineswegs falsche Bescheidenheit war, wenn ich
sagte, dass ich seit meiner Gymnasialzeit, also seit mehr als zwanzig Jahren,
keine Schachfigur mehr berührt habe. Und selbst zu jener Zeit galt ich bloß als
Spieler ohne sonderliche Begabung."
Er sagte dies in einer so natürlichen Weise, dass ich nicht den leisesten
Zweifel an seiner Aufrichtigkeit hegen durfte. Dennoch konnte ich nicht umhin
meiner Verwunderung Ausdruck zu geben, wie genau er an jede einzelne Kombination
der verschiedensten Meister sich erinnern könne; immerhin müsse er sich doch
wenigstens theoretisch mit Schach viel beschäftigt haben. Dr. B. lächelte
abermals in jener merkwürdig traumhaften Art.
„Viel beschäftigt! – Weiß Gott, das kann man wohl sagen, dass ich mich mit
Schach viel beschäftigt habe. Aber das geschah unter ganz besonderen, ja völlig
einmaligen Umständen. Es war dies eine ziemlich komplizierte Geschichte, und sie
könnte allenfalls als kleiner Beitrag gelten zu unserer lieblichen großen Zeit.
Wenn Sie eine halbe Stunde Geduld haben..."
Er hatte auf den Deckchair neben sich gedeutet. Gerne folgte ich seiner
Einladung. Wir waren ohne Nachbarn. Dr. B. nahm die Lesebrille von den Augen,
legte sie zur Seite und begann:
„Sie waren so freundlich, zu äußern, dass Sie sich als Wiener des Namens meiner
Familie erinnerten. Aber ich vermute, Sie werden kaum von der
Rechtsanwaltskanzlei gehört haben, die ich gemeinsam mit meinem Vater und
späterhin allein leitete, denn wir führten keine Causen, die publizistisch in
der Zeitung abgehandelt wurden, und vermieden aus Prinzip neue Klienten. In
Wirklichkeit hatten wir eigentlich gar keine richtige Anwaltspraxis mehr,
sondern beschränkten uns ausschließlich auf die Rechtsberatung und vor allem
Vermögensverwaltung der großen Klöster, denen mein Vater als früherer
Abgeordneter der klerikalen Partei nahestand. Außerdem war uns – heute, da die
Monarchie der Geschichte angehört, darf man wohl schon darüber sprechen – die
Verwaltung der Fonds einiger Mitglieder der kaiserlichen Familie anvertraut.
Diese Verbindungen zum Hof und zum Klerus – mein Onkel war Leibarzt des Kaisers,
ein anderer Abt in Seitenstetten – reichten schon zwei Generationen zurück; wir
hatten sie nur zu erhalten, und es war eine stille, eine, möchte ich sagen,
lautlose Tätigkeit, die uns durch dies ererbte Vertrauen zugeteilt war,
eigentlich nicht viel mehr erfordernd als strengste Diskretion und
Verlässlichkeit, zwei Eigenschaften, die mein verstorbener Vater im höchsten
Maße besaß; ihm ist es tatsächlich gelungen, sowohl in den Inflationsjahren als
in jenen des Umsturzes durch seine Umsicht seinen Klienten beträchtliche
Vermögenswerte zu erhalten. Als dann Hitler in Deutschland ans Ruder kam und
gegen den Besitz der Kirche und der Klöster seine Raubzüge begann, gingen auch
von jenseits der Grenze mancherlei Verhandlungen und Transaktionen, um
wenigstens den mobilen Besitz vor Beschlagnahme zu retten, durch unsere Hände,
und von gewissen geheimen politischen Verhandlungen der Kurie und des
Kaiserhauses wussten wir beide mehr, als die Öffentlichkeit je erfahren wird.
Aber gerade die Unauffälligkeit unserer Kanzlei – wir führten nicht einmal ein
Schild an der Tür – sowie die Vorsicht, dass wir beide alle Monarchistenkreise
ostentativ mieden, bot sichersten Schutz vor unberufenen Nachforschungen. De
facto (tatsächlich) hat in all diesen Jahren keine Behörde in Österreich jemals
vermutet, dass die geheimen Kuriere des Kaiserhauses ihre wichtigste Post immer
gerade in unserer unscheinbaren Kanzlei im vierten Stock abholten oder abgaben.
Nun hatten die Nationalsozialisten, längst ehe sie ihre Armeen gegen die Welt
aufrüsteten, eine andere ebenso gefährliche und geschulte Armee in allen
Nachbarländern zu organisieren begonnen, die Legion der Benachteiligten, der
Zurückgesetzten, der Gekränkten. In jedem Amt, in jedem Betrieb waren ihre so
genannten 'Zellen' eingenistet, an jeder Stelle bis hinauf in die Privatzimmer
von Dollfuß und Schuschnigg saßen ihre Horchposten und Spione. Selbst in unserer
unscheinbaren Kanzlei hatten sie, wie ich leider erst zu spät erfuhr, ihren
Mann. Es war freilich nicht mehr als ein jämmerlicher und talentloser Kanzlist,
den ich auf Empfehlung eines Pfarrers einzig deshalb angestellt hatte, um der
Kanzlei nach außen hin den Anschein eines regulären Betriebes zu geben; in
Wirklichkeit verwendeten wir ihn zu nichts anderem als zu unschuldigen
Botengängen, ließen ihn das Telefon bedienen und die Akten ordnen, das heißt
jene Akten, die völlig gleichgültig und unbedenklich waren. Die Post durfte er
niemals öffnen, alle wichtigen Briefe schrieb ich, ohne Kopien zu hinterlegen,
eigenhändig mit der Maschine, jedes wesentliche Dokument nahm ich selbst nach
Hause und verlegte geheime Besprechungen ausschließlich in die Priorei des
Klosters oder in das Ordinationszimmer meines Onkels. Dank dieser
Vorsichtsmaßnahmen bekam dieser Horchposten von den wesentlichen Vorgängen
nichts zu sehen; aber durch einen unglücklichen Zufall musste der ehrgeizige und
eitle Bursche bemerkt haben, dass man ihm misstraute und hinter seinem Rücken
allerlei Interessantes geschah. Vielleicht hat einmal in meiner Abwesenheit
einer der Kuriere unvorsichtigerweise von 'Seiner Majestät' gesprochen, statt,
wie vereinbart, vom 'Baron Fern', oder der Lump musste Briefe widerrechtlich
geöffnet haben – jedenfalls holte er sich, ehe ich Verdacht schöpfen konnte, von
München oder Berlin Auftrag, uns zu überwachen. Erst viel später, als ich längst
in Haft saß, erinnerte ich mich, dass seine anfängliche Lässigkeit im Dienst
sich in den letzten Monaten in plötzlichen Eifer verwandelt und er sich mehrfach
beinahe zudringlich angeboten hatte, meine Korrespondenz zur Post zu bringen.
Ich kann mich von einer gewissen Unvorsichtigkeit also nicht freisprechen, aber
sind schließlich nicht auch die größten Diplomaten und Militärs von der Hitlerei
heimtückisch überspielt worden? Wie genau und liebevoll die Gestapo mir längst
ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatte, erwies dann äußerst handgreiflich der
Umstand, dass noch am selben Abend, da Schuschnigg seine Abdankung bekannt gab,
und einen Tag, ehe Hitler in Wien einzog, ich bereits von SS-Leuten festgenommen
war. Die allerwichtigsten Papiere war es mir glücklicherweise noch gelungen zu
verbrennen, kaum ich im Radio die Abschiedsrede Schuschniggs gehört, und den
Rest der Dokumente mit den unentbehrlichen Belegen für die im Ausland
deponierten Vermögenswerte der Klöster und zweier Erzherzöge schickte ich
wirklich in der letzten Minute, ehe die Burschen mir die Tür einhämmerten in
einem Waschkorb versteckt durch meine alte, verlässliche Haushälterin zu meinem
Onkel hinüber."
Dr. B. unterbrach, um sich eine Zigarre anzuzünden. Bei dem aufflackernden Licht
bemerkte ich, dass ein nervöses Zucken um seinen rechten Mundwinkel lief, das
mir schon vorher aufgefallen war und, wie ich beobachten konnte, sich jede paar
Minuten wiederholte. Es war nur eine flüchtige Bewegung, kaum stärker als ein
Hauch, aber sie gab dem ganzen Gesicht eine merkwürdige Unruhe.
„Sie vermuten nun wahrscheinlich, dass ich Ihnen jetzt vom Konzentrationslager
erzählen werde, in das doch alle jene übergeführt wurden, die unserem alten
Österreich die Treue gehalten, von den Erniedrigungen, Martern, Torturen, die
ich dort erlitten. Aber nichts dergleichen geschah. Ich kam in eine andere
Kategorie. Ich wurde nicht zu jenen Unglücklichen getrieben, an denen man mit
körperlichen und seelischen Erniedrigungen ein lang aufgespartes Ressentiment
austobte, sondern jener anderen, ganz kleinen Gruppe zugeteilt, aus der die
Nationalsozialisten entweder Geld oder wichtige Informationen herauszupressen
hofften. An sich war meine bescheidene Person natürlich der Gestapo völlig
uninteressant. Sie mussten aber erfahren haben, dass wir die Strohmänner, die
Verwalter und Vertrauten ihrer erbittertsten Gegner gewesen, und was sie von mir
zu erpressen hofften, war belastendes Material: Material gegen die Klöster,
denen sie Vermögensverschiebungen nachweisen wollten, Material gegen die
kaiserliche Familie und all jene die in Österreich sich aufopfernd für die
Monarchie eingesetzt. Sie vermuteten – und wahrhaftig nicht zu Unrecht – dass
von jenen Fonds, die durch unsere Hände gegangen waren, wesentliche Bestände
sich noch, ihrer Raublust unzugänglich, versteckten; sie holten mich darum
gleich am ersten Tag heran, um mit ihren bewährten Methoden mir diese
Geheimnisse abzuzwingen. Leute meiner Kategorie, aus denen wichtiges Material
oder Geld herausgepresst werden sollte, wurden deshalb nicht in
Konzentrationslager abgeschoben, sondern für eine besondere Behandlung
aufgespart. Sie erinnern sich vielleicht, dass unser Kanzler und anderseits der
Baron Rothschild, dessen Verwandten sie Millionen abzunötigen hofften,
keineswegs hinter Stacheldraht in ein Gefangenenlager gesetzt wurden, sondern
unter scheinbarer Bevorzugung in ein Hotel, das Hotel Metropole, das zugleich
Hauptquartier der Gestapo war, überführt, wo jeder ein abgesondertes Zimmer
erhielt. Auch mir unscheinbarem Mann wurde diese Auszeichnung erwiesen.
Ein eigenes Zimmer in einem Hotel – nicht wahr, das klingt an sich äußerst
human? Aber Sie dürfen mir glauben, dass man uns keineswegs eine humanere,
sondern nur eine raffiniertere Methode zudachte, wenn man uns 'Prominente' nicht
zu zwanzig in eine eiskalte Baracke stopfte, sondern in einem leidlich geheizten
und separaten Hotelzimmer behauste. Denn die Pression, mit der man uns das
benötigte 'Material' abzwingen wollte, sollte auf subtilere Weise funktionieren
als durch rohe Prügel oder körperliche Folterung: durch die denkbar
raffinierteste Isolierung. Man tat uns nichts, man stellte uns nur in das
vollkommene Nichts, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen
Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts. Indem man uns jeden einzeln in
ein völliges Vakuum sperrte, in ein Zimmer, das hermetisch von der Außenwelt
abgeschlossen war, sollte, statt von außen durch Prügel und Kälte, jener Druck
von innen erzeugt werden, der uns schließlich die Lippen aufsprengte. Auf den
ersten Blick sah das mir zugewiesene Zimmer durchaus nicht unbehaglich aus. Es
hatte eine Tür, ein Bett, einen Sessel, eine Waschschüssel, ein vergittertes
Fenster. Aber die Tür blieb Tag und Nacht verschlossen, auf dem Tisch durfte
kein Buch, keine Zeitung, kein Blatt Papier, kein Bleistift liegen, das Fenster
starrte eine Feuermauer an; rings um mein Ich und selbst an meinem eigenen
Körper war das vollkommene Nichts konstruiert. Man hatte mir jeden Gegenstand
abgenommen, die Uhr, damit ich nicht wisse um die Zeit, den Bleistift, dass ich
nicht etwa schreiben könne, das Messer, damit ich mir nicht die Adern öffnen
könne; selbst die kleinste Betäubung wie eine Zigarette wurde mir versagt. Nie
sah ich außer dem Wärter, der kein Wort sprechen und auf keine Frage antworten
durfte, ein menschliches Gesicht, nie hörte ich eine menschliche Stimme; Auge,
Ohr, alle Sinne bekamen von morgens bis nachts und von nachts bis morgens nicht
die geringste Nahrung, man blieb mit sich, mit seinem Körper und den vier oder
fünf stummen Gegenständen Tisch, Bett, Fenster, Waschschüssel rettungslos
allein; man lebte wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean dieses
Schweigens und wie ein Taucher sogar, der schon ahnt, dass das Seil nach der
Außenwelt abgerissen ist und er nie zurückgeholt werden wird aus der lautlosen
Tiefe. Es gab nichts zu tun, nichts zu hören, nichts zu sehen, überall und
ununterbrochen war um einen das Nichts, die völlige raumlose und zeitlose Leere.
Man ging auf und ab, und mit einem gingen die Gedanken auf und ab, auf und ab,
immer wieder. Aber selbst Gedanken, so substanzlos sie scheinen, brauchen einen
Stützpunkt, sonst beginnen sie zu rotieren und sinnlos um sich selbst zu
kreisen; auch sie ertragen nicht das Nichts. Man wartete auf etwas, von morgens
bis abends, und es geschah nichts. Man wartete wieder und wieder. Es geschah
nichts. Man wartete, wartete, wartete, man dachte, man dachte, man dachte, bis
einem die Schläfen schmerzten. Nichts geschah. Man blieb allein. Allein. Allein.
Das dauerte vierzehn Tage, die ich außerhalb der Zeit, außerhalb der Welt lebte.
Wäre damals ein Krieg ausgebrochen, ich hätte es nicht erfahren; meine Welt
bestand doch nur aus Tisch, Tür, Bett, Waschschüssel, Sessel, Fenster und Wand,
und immer starrte ich auf dieselbe Tapete an derselben Wand; jede Linie ihres
gezackten Musters hat sich wie mit ehernem Stichel eingegraben bis in die
innerste Falte meines Gehirns, so oft habe ich sie angestarrt. Dann endlich
begannen die Verhöre. Man wurde plötzlich abgerufen, ohne recht zu wissen, ob es
Tag war oder Nacht. Man wurde gerufen und durch ein paar Gänge geführt, man
wusste nicht wohin; dann wartete man irgendwo und wusste nicht wo und stand
plötzlich vor einem Tisch, um den ein paar uniformierte Leute saßen. Auf dem
Tisch lag ein Stoß Papier: die Akten, von denen man nicht wusste, was sie
enthielten, und dann begannen die Fragen, die echten und die falschen, die
klaren und die tückischen, die Deckfragen und Fangfragen, und während man
antwortete, blätterten fremde, böse Finger in den Papieren, von denen man nicht
wusste, was sie enthielten, und fremde, böse Finger schrieben etwas in ein
Protokoll, und man wusste nicht, was sie schrieben. Aber das Fürchterlichste bei
diesen Verhören für mich war, dass ich nie erraten und errechnen konnte, was die
Gestapoleute von den Vorgängen in meiner Kanzlei tatsächlich wussten und was sie
erst aus mir herausholen wollten. Wie ich Ihnen bereits sagte, hatte ich die
eigentlich belastenden Papiere meinem Onkel in letzter Stunde durch die
Haushälterin geschickt. Aber hatte er sie erhalten? Hatte er sie nicht erhalten?
Und wie viel hatte jener Kanzlist verraten? Wie viel hatten sie an Briefen
aufgefangen, wie viel inzwischen in den deutschen Klöstern, die wir vertraten,
einem ungeschickten Geistlichen vielleicht schon abgepresst? Und sie fragten und
fragten. Welche Papiere ich für jenes Kloster gekauft, mit welchen Banken ich
korrespondiert, ob ich einen Herrn Soundso kenne oder nicht, ob ich Briefe aus
der Schweiz erhalten und aus Steenookerzeel? Und da ich nie errechnen konnte,
wie viel sie schon ausgekundschaftet hatten, wurde jede Antwort zur
ungeheuersten Verantwortung. Gab ich etwas zu, was ihnen nicht bekannt war, so
lieferte ich vielleicht unnötig jemanden ans Messer. Leugnete ich zuviel ab, so
schädigte ich mich selbst.
Aber das Verhör war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das
Zurückkommen nach dem Verhör in mein Nichts, in dasselbe Zimmer mit demselben
Tisch, demselben Bett, derselben Waschschüssel, derselben Tapete. Denn kaum
allein mit mir, versuchte ich zu rekonstruieren, was ich am klügsten hätte
antworten sollen und was ich das nächste Mal sagen müsste, um den Verdacht
wieder abzulenken, den ich vielleicht mit einer unbedachten Bemerkung
heraufbeschworen. Ich überlegte, ich durchdachte, ich durchforschte, ich
überprüfte meine eigene Aussage auf jedes Wort, das ich dem Untersuchungsrichter
gesagt, ich rekapitulierte jede Frage, die sie gestellt, jede Antwort, die ich
gegeben, ich versuchte zu erwägen, was sie davon protokolliert haben könnten,
und wusste doch, dass ich das nie errechnen und erfahren könnte. Aber diese
Gedanken, einmal angekurbelt im leeren Raum, hörten nicht auf, im Kopf zu
rotieren, immer wieder von neuem, in immer anderen Kombinationen, und das ging
hinein bis in den Schlaf –, jedes Mal nach einer Vernehmung durch die Gestapo
übernahmen ebenso unerbittlich meine eigenen Gedanken die Marter des Fragens und
Forschens und Quälens, und vielleicht noch grausamer sogar, denn jene
Vernehmungen endeten doch immerhin nach einer Stunde, und diese nie, dank der
tückischen Tortur dieser Einsamkeit. Und immer um mich nur der Tisch, der
Schrank, das Bett, die Tapete, das Fenster, keine Ablenkung, kein Buch, keine
Zeitung, kein fremdes Gesicht, kein Bleistift, um etwas zu notieren, kein
Zündholz, um damit zu spielen, nichts, nichts, nichts. jetzt erst gewahrte ich,
wie teuflisch sinnvoll, wie psychologisch mörderisch erdacht dieses System des
Hotelzimmers war. Im Konzentrationslager hätte man vielleicht Steine karren
müssen, bis einem die Hände bluteten und die Füße in den Schuhen abfroren, man
wäre zusammengepackt gelegen mit zwei Dutzend Menschen in Stank und Kälte. Aber
man hätte Gesichter gesehen, man hätte ein Feld, einen Karren, einen Baum, einen
Stern, irgend, irgend etwas anstarren können, indes hier immer dasselbe um einen
stand, immer dasselbe, das entsetzliche Dasselbe. Hier war nichts, was mich
ablenken konnte von meinen Gedanken, von meinen Wahnvorstellungen, von meinem
krankhaften Rekapitulieren. Und gerade das beabsichtigten sie ich sollte doch
würgen und würgen an meinen Gedanken, bis sie mich erstickten und ich nicht
anders konnte, als sie schließlich ausspeien, als auszusagen, alles auszusagen,
was sie wollten, endlich das Material und die Menschen auszuliefern. Allmählich
spürte ich, wie meine Nerven unter diesem grässlichen Druck des Nichts sich zu
lockern begannen, und ich spannte, der Gefahr bewusst, bis zum Zerreißen meine
Nerven, irgendeine Ablenkung zu finden oder zu erfinden. Um mich zu
beschäftigen, versuchte ich alles, was ich jemals auswendig gelernt, zu
rezitieren und zu rekonstruieren, die Volkshymne und die Spielreime der
Kinderzeit, den Homer des Gymnasiums, die Paragraphen des Bürgerlichen
Gesetzbuchs. Dann versuchte ich zu rechnen, beliebige Zahlen zu addieren, zu
dividieren, aber mein Gedächtnis hatte im Leeren keine festhaltende Kraft. Ich
konnte mich auf nichts konzentrieren. Immer fuhr und flackerte derselbe Gedanke
dazwischen: Was wissen sie? Was habe ich gestern gesagt, was muss ich das
nächste Mal sagen?
Dieser eigentlich unbeschreibbare Zustand dauerte vier Monate. Nun – vier
Monate, das schreibt sich leicht hin: just ein Dutzend Buchstaben! Das spricht
sich leicht aus: vier Monate vier Silben. In einer Viertelsekunde hat die Lippe
rasch so einen Laut artikuliert: vier Monate! Aber niemand kann schildern, kann
messen, kann veranschaulichen, nicht einem andern, nicht sich selbst, wie lange
eine Zeit im Raumlosen, im Zeitlosen währt, und keinem kann man erklären, wie es
einen zerfrisst und zerstört, dieses Nichts und Nichts und Nichts um einen, dies
immer nur Tisch und Bett und Waschschüssel und Tapete, und immer das Schweigen,
immer derselbe Wärter, der, ohne einen anzusehen, das Essen hereinschiebt, immer
dieselben Gedanken, die im Nichts um das eine kreisen, bis man irre wird. An
kleinen Zeichen wurde ich beunruhigt gewahr, dass mein Gehirn in Unordnung
geriet. Im Anfang war ich bei den Vernehmungen noch innerlich klar gewesen, ich
hatte ruhig und überlegt ausgesagt; jenes Doppeldenken, was ich sagen sollte und
was nicht, hatte noch funktioniert. jetzt konnte ich schon die einfachsten Sätze
nur mehr stammelnd artikulieren, denn während ich aussagte, starrte ich
hypnotisiert auf die Feder, die protokollierend über das Papier lief, als wollte
ich meinen eigenen Worten nachlaufen. Ich spürte, meine Kraft ließ nach, ich
spürte, immer näher rückte der Augenblick, wo ich, um mich zu retten, alles
sagen würde, was ich wusste, und vielleicht noch mehr, in dem ich, um dem Würgen
dieses Nichts zu entkommen, zwölf Menschen und ihre Geheimnisse verraten würde,
ohne mir selbst damit mehr zu schaffen als einen Atemzug Rast. An einem Abend
war es wirklich schon so weit: als der Wärter zufällig in diesem Augenblick des
Erstickens mir das Essen brachte, schrie ich ihm plötzlich nach: 'Führen Sie
mich zur Vernehmung! Ich will alles sagen! Ich will alles aussagen! Ich will
sagen, wo die Papiere sind, wo das Geld liegt! Alles werde ich sagen, alles!'
Glücklicherweise hörte er mich nicht mehr. Vielleicht wollte er mich auch nicht
hören.
In dieser äußersten Not ereignete sich nun etwas Unvorhergesehenes, was Rettung
bot, Rettung zum mindesten für eine gewisse Zeit. Es war Ende Juli, ein dunkler,
verhangener, regnerischer Tag: ich erinnere mich an diese Einzelheit deshalb
ganz genau, weil der Regen gegen die Scheiben im Gang trommelte, durch den ich
zur Vernehmung geführt wurde. Im Vorzimmer des Untersuchungsrichters musste ich
warten. Immer musste man bei jeder Vorführung warten: auch dieses Wartenlassen
gehörte zur Technik. Erst riss man einem die Nerven auf durch den Anruf, durch
das plötzliche Abholen aus der Zelle mitten in der Nacht, und dann, wenn man
schon eingestellt war auf die Vernehmung, schon Verstand und Willen gespannt
hatte zum Widerstand, ließen sie einen warten, sinnlos-sinnvoll warten, eine
Stunde, zwei Stunden, drei Stunden vor der Vernehmung, um den Körper müde, um
die Seele mürbe zu machen. Und man ließ mich besonders lange warten an diesem
Donnerstag, dem 27. Juli, zwei geschlagene Stunden im Vorzimmer stehend warten;
ich erinnere mich auch an dieses Datum aus einem bestimmten Grunde so genau,
denn in diesem Vorzimmer, wo ich selbstverständlich, ohne mich niedersetzen zu
dürfen zwei Stunden mir die Beine in den Leib stehen musste, hing ein Kalender,
und ich vermag Ihnen nicht zu erklären, wie in meinem Hunger nach Gedrucktem,
nach Geschriebenem ich diese eine Zahl, diese wenigen Worte '27. Juli' an der
Wand anstarrte und anstarrte; ich fraß sie gleichsam in mein Gehirn hinein. Und
dann wartete ich wieder und wartete und starrte auf die Tür, wann sie sich
endlich öffnen würde, und überlegte zugleich, was die Inquisitoren mich diesmal
fragen könnten, und wusste doch, dass sie mich etwas ganz anderes fragen würden,
als worauf ich mich vorbereitete. Aber trotz alledem war die Qual dieses Wartens
und Stehens zugleich eine Wohltat, eine Lust, weil dieser Raum immerhin ein
anderes Zimmer war als das meine, etwas größer und mit zwei Fenstern statt
einem, und ohne das Bett und ohne die Waschschüssel und ohne den bestimmten Riss
am Fensterbrett, den ich Millionen Mal betrachtet. Die Tür war anders
gestrichen, ein anderer Sessel stand an der Wand und links ein Registerschrank
mit Akten sowie eine Garderobe mit Aufhängern, an denen drei oder vier nasse
Militärmäntel, die Mäntel meiner Folterknechte, hingen. Ich hatte also etwas
Neues, etwas anderes zu betrachten, endlich einmal etwas anderes mit meinen
ausgehungerten Augen, und sie krallten sich gierig an jede Einzelheit. Ich
beobachtete an diesen Mänteln jede Falte, ich bemerkte zum Beispiel einen
Tropfen, der von einem der nassen Kragen niederhing, und so lächerlich es für
Sie klingen mag, ich wartete mit einer unsinnigen Erregung, ob dieser Tropfen
endlich abrinnen wollte, die Falte entlang, oder ob er noch gegen die
Schwerkraft sich wehren und länger haften bleiben würde – ja, ich starrte und
starrte minutenlang atemlos auf diesen Tropfen, als hinge mein Leben daran.
Dann, als er endlich niedergerollt war, zählte ich wieder die Knöpfe auf den
Mänteln nach, acht an dem einen Rock, acht an dem andern, zehn an dem dritten,
dann wieder verglich ich die Aufschläge; alle diese lächerlichen, unwichtigen
Kleinigkeiten betasteten, umspielten, umgriffen meine verhungerten Augen mit
einer Gier, die ich nicht zu beschreiben vermag. Und plötzlich blieb mein Blick
starr an etwas haften. Ich hatte entdeckt, dass an einem der Mäntel die
Seitentasche etwas aufgebauscht war. Ich trat näher heran und glaubte an der
rechteckigen Form der Ausbuchtung zu erkennen, was diese etwas geschwellte
Tasche in sich barg: ein Buch! Mir begannen die Knie zu zittern: ein BUCH! Vier
Monate lang hatte ich kein Buch in der Hand gehabt, und schon die bloße
Vorstellung eines Buches, in dem man aneinander gereihte Worte sehen konnte,
Zeilen, Seiten und Blätter, eines Buches, aus dem man andere, neue, fremde,
ablenkende Gedanken lesen, verfolgen, sich ins Hirn nehmen könnte, hatte etwas
Berauschendes und gleichzeitig Betäubendes. Hypnotisiert starrten meine Augen
auf die kleine Wölbung, die jenes Buch innerhalb der Tasche formte, sie glühten
diese eine unscheinbare Stelle an, als ob sie ein Loch in den Mantel brennen
wollten. Schließlich konnte ich meine Gier nicht verhalten; unwillkürlich schob
ich mich näher heran. Schon der Gedanke, ein Buch durch den Stoff mit den Händen
wenigstens antasten zu können, machte mir die Nerven in den Fingern bis zu den
Nägeln glühen. Fast ohne es zu wissen, drückte ich mich immer näher heran.
Glücklicherweise achtete der Wärter nicht auf mein gewiss sonderbares Gehaben;
vielleicht auch schien es ihm nur natürlich, dass ein Mensch nach zwei Stunden
aufrechten Stehens sich ein wenig an die Wand lehnen wollte. Schließlich stand
ich schon ganz nahe bei dem Mantel, und mit Absicht hatte ich die Hände hinter
mich auf den Rücken gelegt, damit sie unauffällig den Mantel berühren könnten.
Ich tastete den Stoff an und fühlte tatsächlich durch den Stoff etwas
Rechteckiges, etwas, das biegsam war und leise knisterte – ein Buch! Ein Buch!
Und wie ein Schuss durchzuckte mich der Gedanke: stiehl dir das Buch! Vielleicht
gelingt es, und du kannst dirs in der Zelle verstecken und dann lesen, lesen,
lesen, endlich wieder einmal lesen! Der Gedanke, kaum in mich gedrungen, wirkte
wie ein starkes Gift; mit einemmal begannen mir die Ohren zu brausen und das
Herz zu hämmern, meine Hände wurden eiskalt und gehorchten nicht mehr. Aber nach
der ersten Betäubung drängte ich mich leise und listig noch näher an den Mantel,
ich drückte, immer dabei den Wächter fixierend, mit den hinter dem Rücken
versteckten Händen das Buch von unten aus der Tasche höher und höher. Und dann:
ein Griff, ein leichter, vorsichtiger Zug, und plötzlich hatte ich das kleine,
nicht sehr umfangreiche Buch in der Hand. jetzt erst erschrak ich vor meiner
Tat. Aber ich konnte nicht mehr zurück. jedoch wohin damit? Ich schob den Band
hinter meinem Rücken unter die Hose an die Stelle, wo sie der Gürtel hielt, und
von dort allmählich hinüber an die Hüfte, damit ich es beim Gehen mit der Hand
militärisch an der Hosennaht festhalten könnte. Nun galt es die erste Probe. Ich
trat von der Garderobe weg, einen Schritt, zwei Schritte, drei Schritte. Es
ging. Es war möglich, das Buch im Gehen festzuhalten, wenn ich nur die Hand fest
an den Gürtel presste.
Dann kam die Vernehmung. Sie erforderte meinerseits mehr Anstrengung als je,
denn eigentlich konzentrierte ich meine ganze Kraft, während ich antwortete,
nicht auf meine Aussage, sondern vor allem darauf, das Buch unauffällig
festzuhalten. Glücklicherweise fiel das Verhör diesmal kurz aus, und ich brachte
das Buch heil in mein Zimmer – ich will Sie nicht aufhalten mit all den
Einzelheiten, denn einmal rutschte es von der Hose gefährlich ab mitten im Gang,
und ich musste einen schweren Hustenanfall simulieren, um mich niederzubücken
und es wieder heil unter den Gürtel zurückzuschieben. Aber welch eine Sekunde
dafür, als ich damit in meine Hölle zurücktrat, endlich allein und doch nicht
mehr allein!
Nun vermuten Sie wahrscheinlich, ich hätte sofort das Buch gepackt, betrachtet,
gelesen. Keineswegs! Erst wollte ich die Vorlust auskosten, dass ich ein Buch
bei mir hatte, die künstlich verzögernde und meine Nerven wunderbar erregende
Lust, mir auszuträumen, welche Art Buch dies gestohlene am liebsten sein sollte:
sehr eng gedruckt vor allem, viele, viele Lettern enthaltend, viele, viele dünne
Blätter, damit ich länger daran zu lesen hätte. Und dann wünschte ich mir, es
sollte ein Werk sein, das mich geistig anstrengte, nichts Flaches, nichts
Leichtes, sondern etwas, das man lernen, auswendig lernen konnte, Gedichte, und
am besten – welcher verwegene Traum! – Goethe oder Homer. Aber schließlich
konnte ich meine Gier, meine Neugier nicht länger verhalten. Hingestreckt auf
das Bett, so dass der Wärter, wenn er plötzlich die Tür aufmachen sollte, mich
nicht ertappen könnte, zog ich zitternd unter dem Gürtel den Band heraus.
Der erste Blick war eine Enttäuschung und sogar eine Art erbitterter Ärger:
dieses mit so ungeheurer Gefahr erbeutete, mit so glühender Erwartung
aufgesparte Buch war nichts anderes als ein Schachrepetitorium, eine Sammlung
von hundertfünfzig Meisterpartien. Wäre ich nicht verriegelt, verschlossen
gewesen, ich hätte im ersten Zorn das Buch durch ein offenes Fenster
geschleudert, denn was sollte, was konnte ich mit diesem Nonsens beginnen? Ich
hatte als Knabe im Gymnasium wie die meisten anderen mich ab und zu aus
Langeweile vor einem Schachbrett versucht. Aber was sollte mir dieses
theoretische Zeug? Schach kann man doch nicht spielen ohne einen Partner und
schon gar nicht ohne Steine, ohne Brett. Verdrossen blätterte ich die Seiten
durch, um vielleicht dennoch etwas Lesbares zu entdecken, eine Einleitung, eine
Anleitung; aber ich fand nichts als die nackten quadratischen Schemata der
einzelnen Meisterpartien und darunter mir zunächst unverständliche Zeichen, a2 –
a3, S f1 – g3 und so weiter. Alles das schien mir eine Art Algebra, zu der ich
keinen Schlüssel fand. Erst allmählich enträtselte ich, dass die Buchstaben a,
b, c für die Längsreihen, die Zahlen 1 bis 8 für die Querreihen eingesetzt waren
und den Jeweiligen Stand jeder einzelnen Figur bestimmten; damit bekamen die
rein graphischen Schemata immerhin eine Sprache. Vielleicht, überlegte ich,
könnte ich mir in meiner Zelle eine Art Schachbrett konstruieren und dann
versuchen, diese Partien nachzuspielen; wie ein himmlischer Wink erschien es
mir, dass mein Betttuch sich zufällig als grob kariert erwies. Richtig
zusammengefaltet, ließ es sich am Ende so legen, um vierundsechzig Felder
zusammenzubekommen. Ich versteckte also zunächst das Buch unter der Matratze und
riss nur die erste Seite heraus. Dann begann ich aus kleinen Krümeln, die ich
mir von meinem Brot absparte, in selbstverständlich lächerlich unvollkommener
Weise die Figuren des Schachs, König, Königin und so weiter, zurechtzumodeln;
nach endlosem Bemühen konnte ich es schließlich unternehmen, auf dem karierten
Betttuch die im Schachbuch abgebildete Position zu rekonstruieren. Als ich aber
versuchte, die ganze Partie nachzuspielen, misslang es zunächst vollkommen mit
meinen lächerlichen Krümelfiguren, von denen Ich zur Unterscheidung die eine
Hälfte mit Staub dunkler gefärbt hatte. Ich verwirrte mich in den ersten Tagen
unablässig; fünfmal, zehnmal, zwanzigmal musste ich diese eine Partie immer
wieder von Anfang beginnen. Aber wer auf Erden verfügte über so viel ungenützte
und nutzlose Zeit wie ich, der Sklave des Nichts, wem stand so viel
unermessliche Gier und Geduld zu Gebot? Nach sechs Tagen spielte ich schon die
Partie tadellos zu Ende, nach weiteren acht Tagen benötigte ich nicht einmal die
Krümel auf dem Betttuch mehr, um mir die Position aus dem Schachbuch zu
vergegenständlichen, und nach weiteren acht Tagen wurde auch das karierte
Betttuch entbehrlich; automatisch verwandelten sich die anfangs abstrakten
Zeichen des Buches a1, a2, c7, c8 hinter meiner Stirn zu visuellen, zu
plastischen Positionen. Die Umstellung war restlos gelungen: ich hatte das
Schachbrett mit seinen Figuren nach innen projiziert und überblickte auch dank
der bloßen Formeln die jeweilige Position, so wie einem geübten Musiker der
bloße Anblick der Partitur schon genügt, um alle Stimmen und ihren Zusammenklang
zu hören. Nach weiteren vierzehn Tagen war ich mühelos imstande, jede Partie aus
dem Buch auswendig – oder, wie der Fachausdruck lautet: blind – nachzuspielen;
jetzt erst begann ich zu verstehen, welche unermessliche Wohltat mein frecher
Diebstahl mir eroberte. Denn ich hatte mit einem Male eine Tätigkeit – eine
sinnlose, eine zwecklose, wenn Sie wollen, aber doch eine, die das Nichts um
mich zunichte machte, ich besaß mit den hundertfünfzig Turnierpartien eine
wunderbare Waffe gegen die erdrückende Monotonie des Raumes und der Zeit. Um mir
den Reiz der neuen Beschäftigung ungebrochen zu bewahren, teilte ich mir von nun
ab jeden Tag genau ein: zwei Partien morgens, zwei Partien nachmittags, abends
dann noch eine rasche Wiederholung. Damit war mein Tag, der sich sonst wie
Gallert formlos dehnte, ausgefüllt, ich war beschäftigt, ohne mich zu ermüden,
denn das Schachspiel besitzt den wunderbaren Vorzug, durch Bannung der geistigen
Energien auf ein eng begrenztes Feld selbst bei anstrengendster Denkleistung das
Gehirn nicht zu erschlaffen, sondern eher seine Agilität und Spannkraft zu
schärfen. Allmählich begann bei dem zuerst bloß mechanischen Nachspielen der
Meisterpartien ein künstlerisches, ein lusthaftes Verständnis in mir zu
erwachen. Ich lernte die Feinheiten, die Tücken und Schärfen in Angriff und
Verteidigung verstehen, ich erfasste die Technik des Vorausdenkens,
Kombinierens, Ripostierens und erkannte bald die persönliche Note jedes
einzelnen Schachmeisters in seiner individuellen Führung so unfehlbar, wie man
Verse eines Dichters schon aus wenigen Zellen feststellt; was als bloß
zeitfüllende Beschäftigung begonnen, wurde Genuss, und die Gestalten der großen
Schachstrategen, wie Aljechin, Lasker, Bogoljubow, Tartakower, traten als
geliebte Kameraden in meine Einsamkeit. Unendliche Abwechslung beseelte täglich
die stumme Zelle, und gerade die Regelmäßigkeit meiner Exerzitien gab meiner
Denkfähigkeit die schon erschütterte Sicherheit zurück: ich empfand mein Gehirn
aufgefrischt und durch die ständige Denkdisziplin sogar noch gleichsam neu
geschliffen. Dass ich klarer und konziser dachte, erwies sich vor allem bei den
Vernehmungen; unbewusst hatte ich mich auf dem Schachbrett in der Verteidigung
gegen falsche Drohungen und verdeckte Winkelzüge vervollkommnet; von diesem
Zeitpunkt an gab ich mir bei den Vernehmungen keine Blöße mehr, und mir dünkte
sogar, dass die Gestapoleute mich allmählich mit einem gewissen Respekt zu
betrachten begannen. Vielleicht fragten sie sich im stillen, da sie alle anderen
zusammenbrechen sahen, aus welchen geheimen Quellen ich allein die Kraft solch
unerschütterlichen Widerstands schöpfte.
Diese meine Glückszeit, da ich die hundertfünfzig Partien jenes Buches Tag für
Tag systematisch nachspielte, dauerte etwa zweieinhalb bis drei Monate. Dann
geriet ich unvermuteterweise an einen toten Punkt. Plötzlich stand ich
neuerdings vor dem Nichts. Denn sobald ich jede einzelne Partie zwanzig- oder
dreißigmal durchgespielt hatte, verlor sie den Reiz der Neuheit, der
Überraschung, ihre vordem so aufregende, so anregende Kraft war erschöpft.
Welchen Sinn hatte es, nochmals und nochmals Partien zu wiederholen, die ich Zug
um Zug längst auswendig kannte? Kaum ich die erste Eröffnung getan, klöppelte
sich ihr Ablauf gleichsam automatisch in mir ab, es gab keine Überraschung mehr,
keine Spannungen, keine Probleme. Um mich zu beschäftigen, um mir die schon
unentbehrlich gewordene Anstrengung und Ablenkung zu schaffen, hätte ich
eigentlich ein anderes Buch mit anderen Partien gebraucht. Da dies aber
vollkommen unmöglich war, gab es nur einen Weg auf dieser sonderbaren Irrbahn:
ich musste mir statt der alten Partien neue erfinden. Ich musste versuchen, mit
mir selbst oder vielmehr gegen mich selbst zu spielen.
Ich weiß nun nicht, bis zu welchem Grade Sie über die geistige Situation bei
diesem Spiel der Spiele nachgedacht haben. Aber schon die flüchtigste Überlegung
dürfte ausreichen, um klarzumachen, dass beim Schach als einem reinen, vom
Zufall abgelösten Denkspiel es logischerweise eine Absurdität bedeutet, gegen
sich selbst spielen zu wollen. Das Attraktive des Schachs beruht doch im Grunde
einzig darin, dass sich seine Strategie in zwei verschiedenen Gehirnen
verschieden entwickelt, dass in diesem geistigen Krieg Schwarz die jeweiligen
Manöver von Weiß nicht kennt und ständig zu erraten und zu durchkreuzen sucht,
während seinerseits wiederum Weiß die geheimen Absichten von Schwarz zu
überholen und parieren strebt. Bildeten nun Schwarz und Weiß ein und dieselbe
Person, so ergäbe sich der widersinnige Zustand, dass ein und dasselbe Gehirn
gleichzeitig etwas wissen und doch nicht wissen sollte, dass es als Partner Weiß
funktionierend, auf Kommando völlig vergessen könnte, was es eine Minute vorher
als Partner Schwarz gewollt und beabsichtigt. Ein solches Doppeldenken setzt
eigentlich eine vollkommene Spaltung des Bewusstseins voraus, ein beliebiges
Auf- und Abblendenkönnen der Gehirnfunktion wie bei einem mechanischen Apparat;
gegen sich selbst spielen zu wollen, bedeutet also im Schach eine solche
Paradoxie, wie über seinen eigenen Schatten zu springen. Nun, um mich kurz zu
fassen, diese Unmöglichkeit, diese Absurdität habe ich in meiner Verzweiflung
monatelang versucht. Aber ich hatte keine Wahl als diesen Widersinn, um nicht
dem puren Irrsinn oder einem völligen geistigen Marasmus zu verfallen. Ich war
durch meine fürchterliche Situation gezwungen, diese Spaltung in ein Ich Schwarz
und ein Ich Weiß zumindest zu versuchen, um nicht erdrückt zu werden von dem
grauenhaften Nichts um mich."
Dr. B. lehnte sich zurück in den Liegestuhl und schloss für eine Minute die
Augen. Es war, als ob er eine verstörende Erinnerung gewaltsam unterdrücken
wollte. Wieder lief das merkwürdige Zucken, das er nicht zu beherrschen wusste,
um den linken Mundwinkel. Dann richtete er sich in seinem Lehnstuhl etwas höher
auf.
„So – bis zu diesem Punkte hoffe ich, Ihnen alles ziemlich verständlich erklärt
zu haben. Aber ich bin leider keineswegs gewiss, ob ich das Weitere Ihnen noch
ähnlich deutlich veranschaulichen kann. Denn diese neue Beschäftigung erforderte
eine so unbedingte Anspannung des Gehirns, dass sie jede gleichzeitige
Selbstkontrolle unmöglich machte. Ich deutete Ihnen schon an, dass meiner
Meinung nach es an sich schon Nonsens bedeutet, Schach gegen sich selber spielen
zu wollen; aber selbst diese Absurdität hätte immerhin noch eine minimale Chance
mit einem realen Schachbrett vor sich, weil das Schachbrett durch seine Realität
immerhin noch eine gewisse Distanz, eine materielle Exterritorialisierung
erlaubt. Vor einem wirklichen Schachbrett mit wirklichen Figuren kann man
Überlegungspausen einschalten, man kann sich rein körperlich bald auf die eine
Seite, bald auf die andere Seite des Tisches stellen und damit die Situation
bald vom Standpunkt Schwarz, bald vom Standpunkt Weiß ins Auge fassen. Aber
genötigt, wie ich es war, diese Kämpfe gegen mich selbst oder, wenn Sie wollen,
mit mir selbst in einen imaginären Raum zu projizieren, war ich gezwungen, in
meinem Bewusstsein die jeweilige Stellung auf den vierundsechzig Feldern
deutlich festzuhalten und außerdem nicht nur die momentane Figuration, sondern
auch schon die möglichen weiteren Züge von beiden Partnern mir auszukalkulieren,
und zwar – ich weiß, wie absurd dies alles klingt – mir doppelt und dreifach zu
imaginieren, nein, sechsfach, achtfach, zwölffach, für jedes meiner Ich, für
Schwarz und Weiß immer schon vier und fünf Züge voraus. Ich musste – verzeihen
Sie, dass ich Ihnen zumute, diesen Irrsinn durchzudenken bei diesem Spiel im
abstrakten Raum der Phantasie als Spieler Weiß vier oder fünf Züge
vorausberechnen und ebenso als Spieler Schwarz, also alle sich in der
Entwicklung ergebenden Situationen gewissermaßen mit zwei Gehirnen
vorauskombinieren, mit dem Gehirn Weiß und dem Gehirn Schwarz. Aber selbst diese
Selbstzerteilung war noch nicht das Gefährlichste an meinem abstrusen
Experiment, sondern dass ich durch das selbständige Ersinnen von Partien mit
einemmal den Boden unter den Füßen verlor und ins Bodenlose geriet. Das bloße
Nachspielen der Meisterpartien, wie ich es in den vorhergehenden Wochen geübt,
war schließlich nichts als eine reproduktive Leistung gewesen, ein reines
Rekapitulieren einer gegebenen Materie und als solches nicht anstrengender, als
wenn ich Gedichte auswendig gelernt hätte oder Gesetzesparagraphen memoriert, es
war eine begrenzte, eine disziplinierte Tätigkeit und darum ein ausgezeichnetes
Exercitium mentale. Meine zwei Partien, die ich morgens, die zwei, die ich
nachmittags probte, stellten ein bestimmtes Pensum dar, das ich ohne jeden
Einsatz von Erregung erledigte; sie ersetzten mir eine normale Beschäftigung,
und überdies hatte ich, wenn ich mich im Ablauf einer Partie irrte oder nicht
weiter wusste, an dem Buche noch immer einen Halt. Nur darum war diese Tätigkeit
für meine erschütterten Nerven eine so heilsame und eher beruhigende gewesen,
weil ein Nachspielen fremder Partien nicht mich selber ins Spiel brachte; ob
Schwarz oder Weiß siegte, blieb mir gleichgültig, es waren doch Aljechin oder
Bogoljubow, die um die Palme des Champions kämpften, und meine eigene Person,
mein Verstand, meine Seele genossen einzig als Zuschauer, als Kenner die
Peripetien und Schönheiten jener Partien. Von dem Augenblick an, da ich aber
gegen mich zu spielen versuchte, begann ich mich unbewusst herauszufordern.
jedes meiner beiden Ich, mein Ich Schwarz und mein Ich Weiß, hatten zu
wetteifern gegeneinander und gerieten jedes für sein Tell in einen Ehrgeiz, in
eine Ungeduld, zu siegen, zu gewinnen; ich fieberte als Ich Schwarz nach jedem
Zuge, was das Ich Weiß nun tun würde. jedes meiner beiden Ich triumphierte, wenn
das andere einen Fehler machte, und erbitterte sich gleichzeitig über sein
eigenes Ungeschick.
Das alles scheint sinnlos, und in der Tat wäre ja eine solche künstliche
Schizophrenie, eine solche Bewusstseinsspaltung mit ihrem Einschuss an
gefährlicher Erregtheit bei einem normalen Menschen in normalem Zustand
undenkbar. Aber vergessen Sie nicht, dass ich aus aller Normalität gewaltsam
gerissen war, ein Häftling, unschuldig eingesperrt, seit Monaten raffiniert mit
Einsamkeit gemartert, ein Mensch, der seine aufgehäufte Wut längst gegen irgend
etwas entladen wollte. Und da ich nichts anderes hatte als dies unsinnige Spiel
gegen mich selbst, fuhr meine Wut, meine Rachelust fanatisch in dieses Spiel
hinein. Etwas in mir wollte recht behalten, und ich hatte doch nur dieses andere
Ich in mir, das ich bekämpfen konnte; so steigerte ich mich während des Spiels
in eine fast manische Erregung. Im Anfang hatte ich noch ruhig und überlegt
gedacht, ich hatte Pausen eingeschaltet zwischen einer und der andern Partie, um
mich von der Anstrengung zu erholen; aber allmählich erlaubten meine gereizten
Nerven mir kein Warten mehr. Kaum hatte mein Ich Weiß einen Zug getan, stieß
schon mein Ich Schwarz fiebrig vor; kaum war eine Partie beendigt, so forderte
ich mich schon zur nächsten heraus, denn jedes Mal war doch eines der beiden
Schach-Ich von dem andern besiegt und verlangte Revanche. Nie werde ich auch nur
annähernd sagen können, wie viele Partien ich infolge dieser irrwitzigen
Unersättlichkeit während dieser letzten Monate in meiner Zelle gegen mich selbst
gespielt – vielleicht tausend, vielleicht mehr. Es war eine Besessenheit, deren
ich mich nicht erwehren konnte; von früh bis nachts dachte ich an nichts als an
Läufer und Bauern und Turm und König und a und b und c und Matt und Rochade, mit
meinem ganzen Sein und Fühlen stieß es mich in das karierte Quadrat. Aus der
Spielfreude war eine Spiellust geworden, aus der Spiellust ein Spielzwang, eine
Manie, eine frenetische Wut, die nicht nur meine wachen Stunden, sondern
allmählich auch meinen Schlaf durchdrang. Ich konnte nur Schach denken, nur in
Schachbewegungen, Schachproblemen; manchmal wachte ich mit feuchter Stirn auf
und erkannte, dass ich sogar im Schlaf unbewusst weitergespielt haben musste,
und wenn ich von Menschen träumte, so geschah es ausschließlich in den
Bewegungen des Läufers, des Turms, im Vor und Zurück des Rösselsprungs. Selbst
wenn ich zum Verhör gerufen wurde, konnte ich nicht mehr konzis an meine
Verantwortung denken; ich habe die Empfindung, dass bei den letzten Vernehmungen
ich mich ziemlich konfus ausgedrückt haben muss, denn die Verhörenden blickten
sich manchmal befremdet an. Aber in Wirklichkeit wartete ich, während sie
fragten und berieten, in meiner unseligen Gier doch nur darauf, wieder
zurückgeführt zu werden in meine Zelle, um mein Spiel, mein irres Spiel,
fortzusetzen, eine neue Partie und noch eine und noch eine. jede Unterbrechung
wurde mir zur Störung; selbst die Viertelstunde, da der Wärter die
Gefängniszelle aufräumte, die zwei Minuten, da er mir das Essen brachte, quälten
meine fiebrige Ungeduld; manchmal stand abends der Napf mit der Mahlzeit noch
unberührt, ich hatte über dem Spiel vergessen zu essen. Das einzige, was ich
körperlich empfand, war ein fürchterlicher Durst; es muss wohl schon das Fieber
dieses ständigen Denkens und Spielens gewesen sein; ich trank die Flasche leer
in zwei Zügen und quälte den Wärter um mehr und fühlte dennoch im nächsten
Augenblick die Zunge schon wieder trocken im Munde. Schließlich steigerte sich
meine Erregung während des Spielens und ich tat nichts anderes mehr von morgens
bis nachts – zu solchem Grade, dass ich nicht einen Augenblick mehr
stillzusitzen vermochte; ununterbrochen ging ich, während ich die Partien
überlegte, auf und ab, immer schneller und schneller und schneller auf und ab,
auf und ab, und immer hitziger, je mehr sich die Entscheidung der Partie
näherte; die Gier, zu gewinnen, zu siegen, mich selbst zu besiegen, wurde
allmählich zu einer Art Wut, ich zitterte vor Ungeduld, denn immer war dem einen
Schach-Ich in mir das andere zu langsam. Das eine trieb das andere an; so
lächerlich es Ihnen vielleicht scheint, ich begann mich zu beschimpfen –
'schneller, schneller!' oder 'vorwärts, vorwärts!' –, wenn das eine Ich in mir
mit dem andern nicht rasch genug ripostierte. Selbstverständlich bin ich mir
heute ganz im klaren, dass dieser mein Zustand schon eine durchaus pathologische
Form geistiger Überreizung war, für die ich eben keinen andern Namen finde als
den bisher medizinisch unbekannten: eine Schachvergiftung. Schließlich begann
diese monomanische Besessenheit nicht nur mein Gehirn, sondern auch meinen
Körper zu attackieren. Ich magerte ab, ich schlief unruhig und verstört, ich
brauchte beim Erwachen jedes Mal eine besondere Anstrengung, die bleiernen
Augenlider aufzuzwingen; manchmal fühlte ich mich derart schwach, dass, wenn ich
ein Trinkglas anfasste, ich es nur mit Mühe bis zu den Lippen brachte, so
zitterten mir die Hände; aber kaum das Spiel begann, überkam mich eine wilde
Kraft: ich lief auf und ab mit geballten Fäusten, und wie durch einen roten
Nebel hörte ich manchmal meine eigene Stimme, wie sie heiser und böse 'Schach'
oder 'Matt!' sich selber zuschrie.
Wie dieser grauenhafte, dieser unbeschreibbare Zustand zur Krise kam, vermag ich
selbst nicht zu berichten. Alles, was ich darüber weiß, ist, dass ich eines
Morgens aufwachte, und es war ein anderes Erwachen als sonst. Mein Körper war
gleichsam abgelöst von mir, ich ruhte weich und wohlig. Eine dichte, gute
Müdigkeit, wie ich sie seit Monaten nicht gekannt, lag auf meinen Lidern, lag so
warm und wohltätig auf ihnen, dass ich mich zuerst gar nicht entschließen
konnte, die Augen aufzutun. Minuten lag ich schon wach und genoss noch diese
schwere Dumpfheit, dies laue Liegen mit wollüstig betäubten Sinnen. Auf einmal
war mir, als ob ich hinter mir Stimmen hörte, lebendige menschliche Stimmen, die
Worte sprachen, und Sie können sich mein Entzücken nicht ausdenken, denn ich
hatte doch seit Monaten, seit bald einem Jahr keine anderen Worte gehört als die
harten, scharfen und bösen von der Richterbank. 'Du träumst', sagte ich mir. 'Du
träumst! Tu keinesfalls die Augen auf! Lass ihn noch dauern, diesen Traum, sonst
siehst du wieder die verfluchte Zelle um dich, den Stuhl und den Waschtisch und
den Tisch und die Tapete mit dem ewig gleichen Muster. Du träumst – träume
weiter!'
Aber die Neugier behielt die Oberhand. Ich schlug langsam und vorsichtig die
Lider auf. Und Wunder: es war ein anderes Zimmer, in dem ich mich befand, ein
Zimmer, breiter, geräumiger als meine Hotelzelle. Ein ungegittertes Fenster ließ
freies Licht herein und einen Blick auf Bäume, grüne, im Wind wogende Bäume
statt meiner starren Feuermauer, weiß und glatt glänzten die Wände, weiß und
hoch hob sich über mir die Decke – wahrhaftig, ich lag in einem neuen, einem
fremden Bett, und wirklich, es war kein Traum, hinter mir flüsterten leise
menschliche Stimmen. Unwillkürlich muss ich mich in meiner Überraschung heftig
geregt haben, denn schon hörte ich hinter mir einen nahenden Schritt. Eine Frau
kam weichen Gelenks heran, eine Frau mit weißer Haube über dem Haar, eine
Pflegerin, eine Schwester. Ein Schauer des Entzückens fiel über mich: ich hatte
seit einem Jahr keine Frau gesehen. Ich starrte die holde Erscheinung an, und es
muss ein wilder, ekstatischer Aufblick gewesen sein, denn 'Ruhig! Bleiben Sie
ruhig!' beschwichtigte mich dringlich die Nahende. Ich aber lauschte nur auf
ihre Stimme – war das nicht ein Mensch, der sprach? Gab es wirklich noch auf
Erden einen Menschen, der mich nicht verhörte, nicht quälte? Und dazu noch –
unfassbares Wunder! – eine weiche, warme, eine fast zärtliche Frauenstimme.
Gierig starrte ich auf ihren Mund, denn es war mir in diesem Höllenjahr
unwahrscheinlich geworden, dass ein Mensch gütig zu einem andern sprechen
könnte. Sie lächelte mir zu – ja, sie lächelte, es gab noch Menschen, die gütig
lächeln konnten –, dann legte sie den Finger mahnend auf die Lippen und ging
leise weiter. Aber ich konnte ihrem Gebot nicht gehorchen. Ich hatte mich noch
nicht sattgesehen an dem Wunder. Gewaltsam versuchte ich mich in dem Bette
aufzurichten, um ihr nachzublicken, diesem Wunder eines menschlichen Wesens
nachzublicken, das gütig war. Aber wie ich mich am Bettrande aufstützen wollte,
gelang es mir nicht. Wo sonst meine rechte Hand gewesen, Finger und Gelenk,
spürte ich etwas Fremdes, einen dicken, großen, weißen Bausch, offenbar einen
umfangreichen Verband. Ich staunte dieses Weiße, Dicke, Fremde an meiner Hand
zuerst verständnislos an, dann begann ich langsam zu begreifen, wo ich war, und
zu überlegen, was mit mir geschehen sein mochte. Man musste mich verwundet
haben, oder ich hatte mich selbst an der Hand verletzt. Ich befand mich in einem
Hospital.
Mittags kam der Arzt, ein freundlicher älterer Herr. Er kannte den Namen meiner
Familie und erwähnte derart respektvoll meinen Onkel, den kaiserlichen Leibarzt,
dass mich sofort das Gefühl überkam, er meine es gut mit mir. Im weiteren
Verlauf richtete er allerhand Fragen an mich, vor allem eine, die mich erstaunte
– ob ich Mathematiker sei oder Chemiker. Ich verneinte.
'Sonderbar', murmelte er. 'Im Fieber haben Sie immer so sonderbare Formeln
geschrieen – c3, c4. Wir haben uns alle nicht ausgekannt.'
Ich erkundigte mich, was mit mir vorgegangen sei. Er lächelte merkwürdig.
'Nichts Ernstliches. Eine akute Irritation der Nerven', und fügte, nachdem er
sich zuvor vorsichtig umgeblickt hatte, leise bei: 'Schließlich eine recht
verständliche. Seit dem 13. März, nicht wahr?'
Ich nickte.
'Kein Wunder bei dieser Methode', murmelte er.
'Sie sind nicht der erste. Aber sorgen Sie sich nicht.'
An der Art, wie er mir dies beruhigend zuflüsterte, und dank seines begütigenden
Blicks wusste ich, dass ich bei ihm gut geborgen war.
Zwei Tage später erklärte mir der gütige Doktor ziemlich freimütig, was
vorgefallen war. Der Wärter hatte mich in meiner Zelle laut schreien gehört und
zunächst geglaubt, dass jemand eingedrungen sei, mit dem ich streite. Kaum er
sich aber an der Tür gezeigt, hätte ich mich auf ihn gestürzt und ihn mit wilden
Ausrufen angeschrieen, die ähnlich klangen wie: 'Zieh schon einmal, du Schuft,
du Feigling!', ihn bei der Gurgel zu fassen gesucht und schließlich so wild
angefallen, dass er um Hilfe rufen musste. Als man mich in meinem tollwütigen
Zustand dann zur ärztlichen Untersuchung schleppte, hätte ich mich plötzlich
losgerissen, auf das Fenster im Gang gestürzt, die Scheibe eingeschlagen und mir
dabei die Hand zerschnitten – Sie sehen noch die tiefe Narbe hier. Die ersten
Nächte im Hospital hatte ich in einer Art Gehirnfieber verbracht, aber jetzt
finde er mein Sensorium völlig klar. 'Freilich', fügte er leise bei, 'werde ich
das lieber nicht den Herrschaften melden, sonst holt man Sie am Ende noch einmal
dorthin zurück. Verlassen Sie sich auf mich, ich werde mein Bestes tun.'
Was dieser hilfreiche Arzt meinen Peinigern über mich berichtet hat, entzieht
sich meiner Kenntnis. jedenfalls erreichte er, was er erreichen wollte: meine
Entlassung. Mag sein, dass er mich als unzurechnungsfähig erklärt hat, oder
vielleicht war ich inzwischen schon der Gestapo unwichtig geworden, denn Hitler
hatte seitdem Böhmen besetzt, und damit war der Fall Österreich für ihn
erledigt. So brauchte ich nur die Verpflichtung zu unterzeichnen, unsere Heimat
innerhalb von vierzehn Tagen zu verlassen, und diese vierzehn Tage waren
dermaßen erfüllt mit all den tausend Formalitäten, die heutzutage der
einstmalige Weltbürger zu einer Ausreise benötigt – Militärpapiere, Polizei,
Steuer, Pass, Visum, Gesundheitszeugnis –, dass ich keine Zeit hatte, über das
Vergangene viel nachzusinnen. Anscheinend wirken in unserem Gehirn geheimnisvoll
regulierende Kräfte, die, was der Seele lästig und gefährlich werden kann,
selbsttätig ausschalten, denn immer, wenn ich zurückdenken wollte an meine
Zellenzeit, erlosch gewissermaßen in meinem Gehirn das Licht; erst nach Wochen
und Wochen, eigentlich erst hier auf dem Schiff, fand ich wieder den Mut, mich
zu besinnen, was mir geschehen war.
Und nun werden Sie begreifen, warum ich mich so ungehörig und wahrscheinlich
unverständlich Ihren Freunden gegenüber benommen. Ich schlenderte doch nur ganz
zufällig durch den Rauchsalon, als ich Ihre Freunde vor dem Schachbrett sitzen
sah; unwillkürlich fühlte ich den Fuß angewurzelt vor Staunen und Schrecken.
Denn ich hatte total vergessen, dass man Schach spielen kann an einem wirklichen
Schachbrett und mit wirklichen Figuren, vergessen, dass bei diesem Spiel zwei
völlig verschiedene Menschen einander leibhaftig gegenübersitzen. Ich brauchte
wahrhaftig ein paar Minuten, um mich zu erinnern, dass, was diese Spieler dort
taten, im Grunde dasselbe Spiel war, das ich in meiner Hilflosigkeit monatelang
gegen mich selbst versucht. Die Chiffren, mit denen ich mich beholfen während
meiner grimmigen Exerzitien, waren doch nur Ersatz gewesen und Symbol für diese
beinernen Figuren; meine Überraschung, dass dieses Figurenrücken auf dem Brett
dasselbe sei wie mein imaginäres Phantasieren im Denkraum, mochte vielleicht der
eines Astronomen ähnlich sein, der sich mit den kompliziertesten Methoden auf
dem Papier einen neuen Planeten errechnet hat und ihn dann wirklich am Himmel
erblickt als einen weißen, klaren, substantiellen Stern. Wie magnetisch
festgehalten starrte ich auf das Brett und sah dort meine Schemata, Pferd, Turm,
König, Königin und Bauern als reale Figuren, aus Holz geschnitzt; um die
Stellung der Partie zu überblicken, musste ich sie unwillkürlich erst
zurückmutieren aus meiner abstrakten Ziffernwelt in die der bewegten Steine.
Allmählich überkam mich die Neugier, ein solches reales Spiel zwischen zwei
Partnern zu beobachten. Und da passierte das Peinliche, dass ich, alle
Höflichkeit vergessend, mich einmengte in Ihre Partie. Aber dieser falsche Zug
Ihres Freundes traf mich wie ein Stich ins Herz. Es war eine reine
Instinkthandlung, dass ich ihn zurückhielt, ein impulsiver Zugritt, wie man,
ohne zu überlegen, ein Kind fasst, das sich über ein Geländer beugt. Erst später
wurde mir die grobe Ungehörigkeit klar, deren ich mich durch meine
Vordringlichkeit schuldig gemacht."
Ich beeilte mich, Dr. B. zu versichern, wie sehr wir alle uns freuten, diesem
Zufall seine Bekanntschaft zu verdanken, und dass es für mich nach all dem, was
er mir anvertraut, nun doppelt interessant sein werde, ihm morgen bei dem
improvisierten Turnier zusehen zu dürfen. Dr. B. machte eine unruhige Bewegung.
„Nein, erwarten Sie wirklich nicht zu viel. Es soll nichts als eine Probe für
mich sein... eine Probe, ob ich... ob ich überhaupt fähig bin, eine normale
Schachpartie zu spielen, eine Partie auf einem wirklichen Schachbrett mit
faktischen Figuren und einem lebendigen Partner... denn ich zweifle jetzt immer
mehr daran, ob jene Hunderte und vielleicht Tausende Partien, die ich gespielt
habe, tatsächlich regelrechte Schachpartien waren und nicht bloß eine Art
Traumschach, ein Fieberschach, ein Fieberspiel, in dem wie immer im Traum
Zwischenstufen übersprungen wurden. Sie werden mir doch hoffentlich nicht im
Ernst zumuten, dass ich mir anmaße, einem Schachmeister, und gar dem ersten der
Welt, Paroli bieten zu können. Was mich interessiert und intrigiert, ist einzig
die posthume Neugier, festzustellen, ob das in der Zelle damals noch Schachspiel
oder schon Wahnsinn gewesen, ob ich damals noch knapp vor oder schon jenseits
der gefährlichen Klippe mich befand – nur dies, nur dies allein."
Vom Schiffsende tönte in diesem Augenblick der Gong, der zum Abendessen rief Wir
mussten – Dr. B. hatte mir alles viel ausführlicher berichtet, als ich es hier
zusammenfasse – fast zwei Stunden verplaudert haben. Ich dankte ihm herzlich und
verabschiedete mich. Aber noch war ich nicht das Deck entlang, so kam er mir
schon nach und fügte sichtlich nervös und sogar etwas stottrig bei:
„Noch eines! Wollen Sie den Herren gleich im voraus ausrichten, damit ich
nachträglich nicht unhöflich erscheine: ich spiele nur eine einzige Partie...
sie soll nichts als der Schlussstrich unter eine alte Rechnung sein – eine
endgültige Erledigung und nicht ein neuer Anfang ... Ich möchte nicht ein
zweites Mal in dieses leidenschaftliche Spielfieber geraten, an das ich nur mit
Grauen zurückdenken kann... und übrigens... übrigens hat mich damals auch der
Arzt gewarnt... ausdrücklich gewarnt. jeder, der einer Manie verfallen war,
bleibt für immer gefährdet, und mit einer – wenn auch ausgeheilten –
Schachvergiftung soll man besser keinem Schachbrett nahe kommen... Also Sie
verstehen – nur diese eine Probepartie für mich selbst und nicht mehr."
Pünktlich um die vereinbarte Stunde, drei Uhr, waren wir am nächsten Tage im
Rauchsalon versammelt. Unsere Runde hatte sich noch um zwei Liebhaber der
königlichen Kunst vermehrt, zwei Schiffsoffiziere, die sich eigens Urlaub vom
Borddienst erbeten, um dem Turnier zusehen zu können. Auch Czentovic ließ nicht
wie am vorhergehenden Tage auf sich warten, und nach der obligaten Wahl der
Farben begann die denkwürdige Partie dieses Homo obscurissimus gegen den
berühmten Weltmeister. Es tut mir leid, dass sie nur für uns durchaus
unkompetente Zuschauer gespielt war und ihr Ablauf für die Annalen der
Schachkunde ebenso verloren ist wie Beethovens Klavierimprovisationen für die
Musik. Zwar haben wir an den nächsten Nachmittagen versucht, die Partie
gemeinsam aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, aber vergeblich; wahrscheinlich
hatten wir alle während des Spiels zu passioniert auf die beiden Spieler statt
auf den Gang des Spiels geachtet. Denn der geistige Gegensatz im Habitus der
beiden Partner wurde im Verlauf der Partie immer mehr körperlich plastisch.
Czentovic, der Routinier, blieb während der ganzen Zeit unbeweglich wie ein
Block, die Augen streng und starr auf das Schachbrett gesenkt; Nachdenken schien
bei ihm eine geradezu physische Anstrengung, die alle seine Organe zu äußerster
Konzentration nötigte. Dr. B. dagegen bewegte sich vollkommen locker und
unbefangen. Als der rechte Dilettant im schönsten Sinne des Wortes, dem im Spiel
nur das Spiel, das 'diletto' Freude macht, ließ er seinen Körper völlig
entspannt, plauderte während der ersten Pausen erklärend mit uns, zündete sich
mit leichter Hand eine Zigarette an und blickte immer nur gerade, wenn an ihn
die Reihe kam, eine Minute auf das Brett. Jedes Mal hatte es den Anschein, als
hätte er den Zug des Gegners schon im voraus erwartet.
Die obligaten Eröffnungszüge ergaben sich ziemlich rasch. Erst beim siebenten
oder achten schien sich etwas wie ein bestimmter Plan zu entwickeln. Czentovic
verlängerte seine Überlegungspausen; daran spürten wir, dass der eigentliche
Kampf um die Vorhand einzusetzen begann. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben,
bedeutete die allmähliche Entwicklung der Situation wie jede richtige
Turnierpartie für uns Laien eine ziemliche Enttäuschung. Denn je mehr sich die
Figuren zu einem sonderbaren Ornament ineinander verflochten, um so
undurchdringlicher wurde für uns der eigentliche Stand. Wir konnten weder
wahrnehmen, was der eine Gegner noch was der andere beabsichtigte, und wer von
den beiden sich eigentlich im Vorteil befand. Wir merkten bloß, dass sich
einzelne Figuren wie Hebel vorschoben, um die feindliche Front aufzusprengen,
aber wir vermochten nicht – da bei diesen überlegenen Spielern jede Bewegung
immer auf mehrere Züge vorauskombiniert war –, die strategische Absicht in
diesem Hin und Wider zu erfassen. Dazu gesellte sich allmählich eine lähmende
Ermüdung, die hauptsächlich durch die endlosen Überlegungspausen Czentovics
verschuldet war, die auch unseren Freund sichtlich zu irritieren begannen. Ich
beobachtete beunruhigt, wie er, je länger die Partie sich hinzog, immer
unruhiger auf seinem Sessel herumzurücken begann, bald aus Nervosität eine
Zigarette nach der anderen anzündend, bald nach dem Bleistift greifend, um etwas
zu notieren. Dann wieder bestellte er ein Mineralwasser, das er Glas um Glas
hastig hinabstürzte; es war offenbar, dass er hundertmal schneller kombinierte
als Czentovic. jedes Mal, wenn dieser nach endlosem Überlegen sich entschloss,
mit seiner schweren Hand eine Figur vorwärtszurücken, lächelte unser Freund nur
wie jemand, der etwas lang Erwartetes eintreffen sieht, und ripostierte bereits.
Er musste mit seinem rapid arbeitenden Verstand im Kopf alle Möglichkeiten des
Gegners vorausberechnet haben; je länger darum Czentovics Entschließung sich
verzögerte, um so mehr wuchs seine Ungeduld, und um seine Lippen presste sich
während des Wartens ein ärgerlicher und fast feindseliger Zug. Aber Czentovic
ließ sich keineswegs drängen. Er überlegte stur und stumm und pausierte immer
länger, je mehr sich das Feld von Figuren entblößte. Beim zweiundvierzigsten
Zuge, nach geschlagenen zweidreiviertel Stunden, saßen wir schon alle ermüdet
und beinahe teilnahmslos um den Turniertisch. Einer der Schiffsoffiziere hatte
sich bereits entfernt, ein anderer ein Buch zur Lektüre genommen und blickte nur
bei jeder Veränderung für einen Augenblick auf. Aber da geschah plötzlich bei
einem Zuge Czentovics das Unerwartete. Sobald Dr. B. merkte, dass Czentovic den
Springer fasste, um ihn vorzuziehen, duckte er sich zusammen wie eine Katze vor
dem Ansprung. Sein ganzer Körper begann zu zittern, und kaum hatte Czentovic den
Springerzug getan, schob er scharf die Dame vor, sagte laut triumphierend: „So!
Erledigt!", lehnte sich zurück, kreuzte die Arme über der Brust und sah mit
herausforderndem Blick auf Czentovic. Ein heißes Licht glomm plötzlich in seiner
Pupille.
Unwillkürlich beugten wir uns über das Brett, um den so triumphierend
angekündigten Zug zu verstehen. Auf den ersten Blick war keine direkte Bedrohung
sichtbar. Die Äußerung unseres Freundes musste sich also auf eine Entwicklung
beziehen, die wir kurzdenkenden Dilettanten noch nicht errechnen konnten.
Czentovic war der einzige unter uns, der sich bei jener herausfordernden
Ankündigung nicht gerührt hatte; er saß so unerschütterlich, als ob er das
beleidigende 'Erledigt!' völlig überhört hätte. Nichts geschah. Man hörte, da
wir alle unwillkürlich den Atem anhielten, mit einemmal das Ticken der Uhr, die
man zur Feststellung der Zugzeit auf den Tisch gelegt hatte. Es wurden drei
Minuten, sieben Minuten, acht Minuten – Czentovic rührte sich nicht, aber mir
war, als ob sich von einer inneren Anstrengung seine dicken Nüstern noch breiter
dehnten. Unserem Freunde schien dieses stumme Warten ebenso unerträglich wie uns
selbst. Mit einem Ruck stand er plötzlich auf und begann im Rauchzimmer auf und
ab zu gehen, erst langsam, dann schneller und immer schneller. Alle blickten wir
ihm etwas verwundert zu, aber keiner beunruhigter als ich, denn mir fiel auf,
dass seine Schritte trotz aller Heftigkeit dieses Auf und Ab immer nur die
gleiche Spanne Raum ausmaßen; es war, als ob er jedes Mal mitten im leeren
Zimmer an eine unsichtbare Schranke stieße, die ihn nötigte umzukehren. Und
schaudernd erkannte ich, es reproduzierte unbewusst dieses Auf und Ab das Ausmaß
seiner einstmaligen Zelle; genau so musste er in den Monaten des
Eingesperrtseins auf und ab gerannt sein wie ein eingesperrtes Tier im Käfig,
genau so die Hände verkrampft und die Schultern eingeduckt; so und nur so musste
er dort tausendmal auf und nieder gelaufen sein, die roten Lichter des Wahnsinns
im starren und doch fiebernden Blick. Aber noch schien sein Denkvermögen völlig
intakt, denn von Zeit zu Zeit wandte er sich ungeduldig dem Tisch zu, ob
Czentovic sich inzwischen schon entschieden hätte. Aber es wurden neun, es
wurden zehn Minuten. Dann endlich geschah, was niemand von uns erwartet hatte.
Czentovic hob langsam seine schwere Hand, die bisher unbeweglich auf dem Tisch
gelegen. Gespannt blickten wir alle auf seine Entscheidung. Aber Czentovic tat
keinen Zug, sondern sein gewendeter Handrücken schob mit einem entschiedenen
Ruck alle Figuren langsam vom Brett. Erst im nächsten Augenblick verstanden wir:
Czentovic hatte die Partie aufgegeben. Er hatte kapituliert, um nicht vor uns
sichtbar mattgesetzt zu werden. Das Unwahrscheinliche hatte sich ereignet, der
Weltmeister, der Champion zahlloser Turniere hatte die Fahne gestrichen vor
einem Unbekannten, einem Manne, der zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre kein
Schachbrett angerührt. Unser Freund, der Anonymus, der Ignotus, hatte den
stärksten Schachspieler der Erde in offenem Kampfe besiegt!
Ohne es zu merken, waren wir in unserer Erregung einer nach dem anderen
aufgestanden. jeder von uns hatte das Gefühl, er müsste etwas sagen oder tun, um
unserem freudigen Schrecken Luft zu machen. Der einzige, der unbeweglich in
seiner Ruhe verharrte, war Czentovic. Erst nach einer gemessenen Pause hob er
den Kopf und blickte unseren Freund mit steinernem Blick an.
„Noch eine Partie?", fragte er.
„Selbstverständlich", antwortete Dr. B. mit einer mir unangenehmen Begeisterung
und setzte sich, noch ehe ich ihn an seinen Vorsatz mahnen konnte, es bei einer
Partie bewenden zu lassen, sofort nieder und begann mit fiebriger Hast die
Figuren neu aufzustellen. Er rückte sie mit solcher Hitzigkeit zusammen, dass
zweimal ein Bauer durch die zitternden Finger zu Boden glitt; mein schon früher
peinliches Unbehagen angesichts seiner unnatürlichen Erregtheit wuchs zu einer
Art Angst. Denn eine sichtbare Exaltiertheit war über den vorher so stillen und
ruhigen Menschen gekommen; das Zucken fuhr immer öfter um seinen Mund, und sein
Körper zitterte wie von einem jähen Fieber geschüttelt.
„Nicht!", flüsterte ich ihm leise zu. „Nicht jetzt! Lassen Sie's für heute genug
sein! Es ist für Sie zu anstrengend."
„Anstrengend! Ha!", lachte er laut und boshaft. „Siebzehn Partien hätte ich
unterdessen spielen können statt dieser Bummelei! Anstrengend ist für mich
einzig, bei diesem Tempo nicht einzuschlafen! – Nun! Fangen Sie doch schon
einmal an!"
Diese letzten Worte hatte er in heftigem, beinahe grobem Ton zu Czentovic
gesagt. Dieser blickte ihn ruhig und gemessen an, aber sein steinern starrer
Blick hatte etwas von einer geballten Faust. Mit einemmal stand etwas Neues
zwischen den beiden Spielern; eine gefährliche Spannung, ein leidenschaftlicher
Hass. Es waren nicht zwei Partner mehr, die ihr Können spielhaft aneinander
proben wollten, es waren zwei Feinde, die sich gegenseitig zu vernichten
geschworen. Czentovic zögerte lange, ehe er den ersten Zug tat, und mich überkam
das deutliche Gefühl, er zögerte mit Absicht so lange. Offenbar hatte der
geschulte Taktiker schon herausgefunden, dass er gerade durch seine Langsamkeit
den Gegner ermüdete und irritierte. So setzte er nicht weniger als vier Minuten
aus, ehe er die normalste, die simpelste aller Eröffnungen machte, indem er den
Königsbauern die üblichen zwei Felder vorschob. Sofort fuhr unser Freund mit
seinem Königsbauern ihm entgegen, aber wieder machte Czentovic eine endlose,
kaum zu ertragende Pause; es war, wie wenn ein starker Blitz niederfährt und man
pochenden Herzens auf den Donner wartet, und der Donner kommt und kommt nicht.
Czentovic rührte sich nicht. Er überlegte still, langsam und, wie ich immer
gewisser fühlte, boshaft langsam; damit aber gab er mir reichlich Zeit, Dr. B.
zu beobachten. Er hatte eben das dritte Glas Wasser hinabgestürzt; unwillkürlich
erinnerte ich mich, dass er mir von seinem fiebrigen Durst in der Zelle
erzählte. Alle Symptome einer anomalen Erregung zeichneten sich deutlich ab; ich
sah seine Stirne feucht werden und die Narbe auf seiner Hand röter und schärfer
als zuvor. Aber noch beherrschte er sich. Erst als beim vierten Zug Czentovic
wieder endlos überlegte, verließ ihn die Haltung, und er fauchte ihn plötzlich
an:
„So spielen Sie doch schon endlich einmal!"
Czentovic blickte kühl auf. „Wir haben meines Wissens zehn Minuten Zugzeit
vereinbart. Ich spiele prinzipiell nicht mit kürzerer Zeit."
Dr. B. bis sich die Lippe; ich merkte, wie unter dem Tisch seine Sohle unruhig
und immer unruhiger gegen den Boden wippte, und wurde selbst unaufhaltsam
nervöser durch das drückende Vorgefühl, dass sich irgend etwas Unsinniges in ihm
vorbereitete. In der Tat ereignete sich bei dem achten Zug ein zweiter
Zwischenfall. Dr. B., der immer unbeherrschter gewartet hatte, konnte seine
Spannung nicht mehr verhalten; er rückte hin und her und begann unbewusst mit
den Fingern auf dem Tisch zu trommeln. Abermals hob Czentovic seinen schweren
bäurischen Kopf.
„Darf ich Sie bitten, nicht zu trommeln? Es stört mich. Ich kann so nicht
spielen."
„Ha!", lachte Dr. B. kurz. „Das sieht man."
Czentovics Stirn wurde rot. „Was wollen Sie damit sagen?" fragte er scharf und
böse.
Dr. B. lachte abermals knapp und boshaft. „Nichts. Nur dass Sie offenbar sehr
nervös sind."
Czentovic schwieg und beugte seinen Kopf nieder. Erst nach sieben Minuten tat er
den nächsten Zug, und in diesem tödlichen Tempo schleppte sich die Partie fort.
Czentovic versteinte gleichsam immer mehr; schließlich schaltete er immer das
Maximum der vereinbarten Überlegungspause ein, ehe er sich zu einem Zug
entschloss, und von einem Intervall zum andern wurde das Benehmen unseres
Freundes sonderbarer. Es hatte den Anschein, als ob er an der Partie gar keinen
Anteil mehr nehme, sondern mit etwas ganz anderem beschäftigt sei. Er ließ sein
hitziges Aufundniederlaufen und blieb an seinem Platz regungslos sitzen. Mit
einem stieren und fast irren Blick ins Leere vor sich starrend, murmelte er
ununterbrochen unverständliche Worte vor sich hin; entweder verlor er sich in
endlosen Kombinationen, oder er arbeitete – dies war mein innerster Verdacht –
sich ganz andere Partien aus, denn jedes Mal, wenn Czentovic endlich gezogen
hatte, musste man ihn aus seiner Geistesabwesenheit zurückmahnen. Dann brauchte
er immer einige Minuten, um sich in der Situation wieder zurechtzufinden; immer
mehr beschlich mich der Verdacht, er habe eigentlich Czentovic und uns alle
längst vergessen in dieser kalten Form des Wahnsinns, der sich plötzlich in
irgendeiner Heftigkeit entladen konnte. Und tatsächlich, bei dem neunzehnten Zug
brach die Krise aus. Kaum dass Czentovic seine Figur bewegt, stieß Dr. B.
plötzlich, ohne recht auf das Brett zu blicken, seinen Läufer drei Felder vor
und schrie derart laut, dass wir alle zusammenfahren:
„Schach! Schach dem König!"
Wir blickten in der Erwartung eines besonderen Zuges sofort auf das Brett. Aber
nach einer Minute geschah, was keiner von uns erwartet. Czentovic hob ganz, ganz
langsam den Kopf und blickte – was er bisher nie getan – in unserem Kreise von
einem zum andern. Er schien irgend etwas unermesslich zu genießen, denn
allmählich begann auf seinen Lippen ein zufriedenes und deutlich höhnisches
Lächeln. Erst nachdem er diesen seinen uns noch unverständlichen Triumph bis zur
Neige genossen, wandte er sich mit falscher Höflichkeit unserer Runde zu.
„Bedaure – aber ich sehe kein Schach. Sieht vielleicht einer von den Herren ein
Schach gegen meinen König?"
Wir blickten auf das Brett und dann beunruhigt zu Dr. B. hinüber. Czentovics
Königsfeld war tatsächlich – ein Kind konnte das erkennen durch einen Bauern
gegen den Läufer völlig gedeckt, also kein Schach dem König möglich. Wir wurden
unruhig. Sollte unser Freund in seiner Hitzigkeit eine Figur danebengestoßen
haben, ein Feld zu weit oder zu nah? Durch unser Schweigen aufmerksam gemacht,
starrte jetzt auch Dr. B. auf das Brett und begann heftig zu stammeln:
„Aber der König gehört doch auf f7... er steht falsch, ganz falsch. Sie haben
falsch gezogen! Alles steht ganz falsch auf diesem Brett... der Bauer gehört
doch auf g5 und nicht auf g 4... das ist ja eine ganz andere Partie... Das
ist..."
Er stockte plötzlich. Ich hatte ihn heftig am Arm gepackt oder vielmehr ihn so
hart in den Arm gekniffen, dass er selbst in seiner fiebrigen Verwirrtheit
meinen Griff spüren musste. Er wandte sich um und starrte mich wie ein
Traumwandler an.
„Was... was wollen Sie?"
Ich sagte nichts als „Remember!" und fuhr ihm gleichzeitig mit dem Finger über
die Narbe seiner Hand. Er folgte unwillkürlich meiner Bewegung, sein Auge
starrte glasig auf den blutroten Strich. Dann begann er plötzlich zu zittern,
und ein Schauer lief über seinen ganzen Körper.
„Um Gottes willen", flüsterte er mit blassen Lippen. „Habe ich etwas Unsinniges
gesagt oder getan... bin ich am Ende wieder...?"
„Nein", flüsterte ich leise. „Aber Sie müssen sofort die Partie abbrechen, es
ist höchste Zeit. Erinnern Sie sich, was der Arzt Ihnen gesagt hat!"
Dr. B. stand mit einem Ruck auf. „Ich bitte um Entschuldigung für meinen dummen
Irrtum", sagte er mit seiner alten höflichen Stimme und verbeugte sich vor
Czentovic. „Es ist natürlich purer Unsinn, was ich gesagt habe.
Selbstverständlich bleibt es Ihre Partie." Dann wandte er sich zu uns. „Auch die
Herren muss ich um Entschuldigung bitten. Aber ich hatte Sie gleich im voraus
gewarnt, Sie sollten von mir nicht zuviel erwarten. Verzeihen Sie die Blamage –
es war das letzte Mal, dass ich mich im Schach versucht habe."
Er verbeugte sich und ging, in der gleichen bescheidenen und geheimnisvollen
Weise, mit der er zuerst erschienen. Nur ich wusste, warum dieser Mann nie mehr
ein Schachbrett berühren würde, indes die andern ein wenig verwirrt
zurückblieben mit dem ungewissen Gefühl, mit knapper Not etwas Unbehaglichem und
Gefährlichem entgangen zu sein. „Damned fool!" knurrte McConnor in seiner
Enttäuschung. Als letzter erhob sich Czentovic von seinem Sessel und warf noch
einen Blick auf die halbbeendete Partie.
„Schade", sagte er großmütig. „Der Angriff war gar nicht so übel disponiert. Für
einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt."
Lesen im Deutschunterricht
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Texte für die Klasse 7, Klasse 8, Klasse 9 und Klasse 10.
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