Ein Bericht für eine Akademie - Erzählung F. Kafka
Kurze Erzählungen von Franz Kafka
Ein Bericht für eine Akademie.
Hohe Herren von der Akademie!
Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über
mein äffisches Vorleben einzureichen.
In diesem Sinne kann ich leider der Aufforderung nicht nachkommen. Nahezu fünf
Jahre trennen mich vom Affentum, eine Zeit, kurz vielleicht am Kalender
gemessen, unendlich lang aber durchzugaloppieren, so wie ich es getan habe,
streckenweise begleitet von vortrefflichen Menschen, Ratschlägen, Beifall und
Orchestralmusik, aber im Grunde allein, denn alle Begleitung hielt sich, um im
Bilde zu bleiben, weit vor der Barriere. Diese Leistung wäre unmöglich gewesen,
wenn ich eigensinnig hätte an meinem Ursprung, an den Erinnerungen der Jugend
festhalten wollen. Gerade Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot,
das ich mir auferlegt hatte; ich, freier Affe, fügte mich diesem Joch. Dadurch
verschlossen sich mir aber ihrerseits die Erinnerungen immer mehr. War mir
zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen gewollt hätten, freigestellt durch das
ganze Tor, das der Himmel über der Erde bildet, wurde es gleichzeitig mit meiner
vorwärts gepeitschten Entwicklung immer niedriger und enger; wohler und
eingeschlossener fühlte ich mich in der Menschenwelt; der Sturm, der mir aus
meiner Vergangenheit nachblies, sänftigte sich; heute ist es nur ein Luftzug,
der mir die Fersen kühlt; und das Loch in der Ferne, durch das er kommt und
durch das ich einstmals kam, ist so klein geworden, daß ich, wenn überhaupt die
Kräfte und der Wille hinreichen würden, um bis dorthin zurückzulaufen, das Fell
vom Leib mir schinden müßte, um durchzukommen. Offen gesprochen, so gerne ich
auch Bilder wähle für diese Dinge, offen gesprochen: Ihr Affentum, meine Herren,
soferne Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als
mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den
kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.
In eingeschränktestem Sinn aber kann ich doch vielleicht Ihre Anfrage
beantworten und ich tue es sogar mit großer Freude. Das erste, was ich lernte,
war: den Handschlag geben; Handschlag bezeugt Offenheit; mag nun heute, wo ich
auf dem Höhepunkte meiner Laufbahn stehe, zu jenem ersten Handschlag auch das
offene Wort hinzukommen. Es wird für die Akademie nichts wesentlich Neues
beibringen und weit hinter dem zurückbleiben, was man von mir verlangt hat und
was ich beim besten Willen nicht sagen kann – immerhin, es soll die Richtlinie
zeigen, auf welcher ein gewesener Affe in die Menschenwelt eingedrungen ist und
sich dort festgesetzt hat. Doch dürfte ich selbst das Geringfügige, was folgt,
gewiß nicht sagen, wenn ich meiner nicht völlig sicher wäre und meine Stellung
auf allen großen Varietébühnen der zivilisierten Welt sich nicht bis zur
Unerschütterlichkeit gefestigt hätte:
Ich stamme von der Goldküste. Darüber, wie ich eingefangen wurde, bin ich auf
fremde Berichte angewiesen. Eine Jagdexpedition der Firma Hagenbeck – mit dem
Führer habe ich übrigens seither schon manche gute Flasche Rotwein geleert – lag
im Ufergebüsch auf dem Anstand, als ich am Abend inmitten eines Rudels zur
Tränke lief. Man schoß; ich war der einzige, der getroffen wurde; ich bekam zwei
Schüsse.
Einen in die Wange; der war leicht; hinterließ aber eine große ausrasierte rote
Narbe, die mir den widerlichen, ganz und gar unzutreffenden, förmlich von einem
Affen erfundenen Namen Rotpeter eingetragen hat, so als unterschiede ich mich
von dem unlängst krepierten, hie und da bekannten, dressierten Affentier Peter
nur durch den roten Fleck auf der Wange. Dies nebenbei.
Der zweite Schuß traf mich unterhalb der Hüfte. Er war schwer, er hat es
verschuldet, daß ich noch heute ein wenig hinke. Letzthin las ich in einem
Aufsatz irgendeines der zehntausend Windhunde, die sich in den Zeitungen über
mich auslassen: meine Affennatur sei noch nicht ganz unterdrückt; Beweis dessen
sei, daß ich, wenn Besucher kommen, mit Vorliebe die Hosen ausziehe, um die
Einlaufstelle jenes Schusses zu zeigen. Dem Kerl sollte jedes Fingerchen seiner
schreibenden Hand einzeln weggeknallt werden. Ich, ich darf meine Hosen
ausziehen, vor wem es mir beliebt; man wird dort nichts finden als einen
wohlgepflegten Pelz und die Narbe nach einem – wählen wir hier zu einem
bestimmten Zwecke ein bestimmtes Wort, das aber nicht mißverstanden werden wolle
– die Narbe nach einem frevelhaften Schuß. Alles liegt offen zutage; nichts ist
zu verbergen; kommt es auf Wahrheit an, wirft jeder Großgesinnte die
allerfeinsten Manieren ab. Würde dagegen jener Schreiber die Hosen ausziehen,
wenn Besuch kommt, so hätte dies allerdings ein anderes Ansehen und ich will es
als Zeichen der Vernunft gelten lassen, daß er es nicht tut. Aber dann mag er
mir auch mit seinem Zartsinn vom Halse bleiben!
Nach jenen Schüssen erwachte ich – und hier beginnt allmählich meine eigene
Erinnerung – in einem Käfig im Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers. Es war
kein vierwandiger Gitterkäfig; vielmehr waren nur drei Wände an einer Kiste
festgemacht; die Kiste also bildete die vierte Wand. Das Ganze war zu niedrig
zum Aufrechtstehen und zu schmal zum Niedersitzen. Ich hockte deshalb mit
eingebogenen, ewig zitternden Knien, und zwar, da ich zunächst wahrscheinlich
niemanden sehen und immer nur im Dunkel sein wollte, zur Kiste gewendet, während
sich mir hinten die Gitterstäbe ins Fleisch einschnitten. Man hält eine solche
Verwahrung wilder Tiere in der allerersten Zeit für vorteilhaft, und ich kann
heute nach meiner Erfahrung nicht leugnen, daß dies im menschlichen Sinn
tatsächlich der Fall ist.
Daran dachte ich aber damals nicht. Ich war zum erstenmal in meinem Leben ohne
Ausweg; zumindest geradeaus ging es nicht; geradeaus vor mir war die Kiste,
Brett fest an Brett gefügt. Zwar war zwischen den Brettern eine durchlaufende
Lücke, die ich, als ich sie zuerst entdeckte, mit dem glückseligen Heulen des
Unverstandes begrüßte, aber diese Lücke reichte bei weitem nicht einmal zum
Durchstecken des Schwanzes aus und war mit aller Affenkraft nicht zu
verbreitern.
Ich soll, wie man mir später sagte, ungewöhnlich wenig Lärm gemacht haben,
woraus man schloß, daß ich entweder bald eingehen müsse oder daß ich, falls es
mir gelingt, die erste kritische Zeit zu überleben, sehr dressurfähig sein
werde. Ich überlebte diese Zeit. Dumpfes Schluchzen, schmerzhaftes Flöhesuchen,
müdes Lecken einer Kokosnuß, Beklopfen der Kistenwand mit dem Schädel,
Zungen-Blecken, wenn mir jemand nahekam, – das waren die ersten Beschäftigungen
in dem neuen Leben. In alledem aber doch nur das eine Gefühl: kein Ausweg. Ich
kann natürlich das damals affenmäßig Gefühlte heute nur mit Menschenworten
nachzeichnen und verzeichne es infolgedessen, aber wenn ich auch die alte
Affenwahrheit nicht mehr erreichen kann, wenigstens in der Richtung meiner
Schilderung liegt sie, daran ist kein Zweifel.
Ich hatte doch so viele Auswege bisher gehabt und nun keinen mehr. Ich war
festgerannt. Hätte man mich angenagelt, meine Freizügigkeit wäre dadurch nicht
kleiner geworden. Warum das? Kratz dir das Fleisch zwischen den Fußzehen auf, du
wirst den Grund nicht finden. Drück dich hinten gegen die Gitterstange, bis sie
dich fast zweiteilt, du wirst den Grund nicht finden. Ich hatte keinen Ausweg,
mußte mir ihn aber verschaffen, denn ohne ihn konnte ich nicht leben. Immer an
dieser Kistenwand – ich wäre unweigerlich verreckt. Aber Affen gehören bei
Hagenbeck an die Kistenwand – nun, so hörte ich auf, Affe zu sein. Ein klarer,
schöner Gedankengang, den ich irgendwie mit dem Bauch ausgeheckt haben muß, denn
Affen denken mit dem Bauch.
Ich habe Angst, daß man nicht genau versteht, was ich unter Ausweg verstehe. Ich
gebrauche das Wort in seinem gewöhnlichsten und vollsten Sinn. Ich sage
absichtlich nicht Freiheit. Ich meine nicht dieses große Gefühl der Freiheit
nach allen Seiten. Als Affe kannte ich es vielleicht und ich habe Menschen
kennen gelernt, die sich danach sehnen. Was mich aber anlangt, verlangte ich
Freiheit weder damals noch heute. Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter
Menschen allzuoft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so
auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten. Oft habe ich in den
Varietés vor meinem Auftreten irgendein Künstlerpaar oben an der Decke an
Trapezen hantieren sehen. Sie schwangen sich, sie schaukelten, sie sprangen, sie
schwebten einander in die Arme, einer trug den anderen an den Haaren mit dem
Gebiß. »Auch das ist Menschenfreiheit«, dachte ich, »selbstherrliche Bewegung«.
Du Verspottung der heiligen Natur! Kein Bau würde standhalten vor dem Gelächter
des Affentums bei diesem Anblick.
Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer;
ich stellte keine anderen Forderungen; sollte der Ausweg auch nur eine Täuschung
sein; die Forderung war klein, die Täuschung würde nicht größer sein.
Weiterkommen, weiterkommen! Nur nicht mit aufgehobenen Armen stillestehn,
angedrückt an eine Kistenwand.
Heute sehe ich klar: ohne größte innere Ruhe hätte ich nie entkommen können. Und
tatsächlich verdanke ich vielleicht alles, was ich geworden bin, der Ruhe, die
mich nach den ersten Tagen dort im Schiff überkam. Die Ruhe wiederum aber
verdankte ich wohl den Leuten vom Schiff.
Es sind gute Menschen, trotz allem. Gerne erinnere ich mich noch heute an den
Klang ihrer schweren Schritte, der damals in meinem Halbschlaf widerhallte. Sie
hatten die Gewohnheit, alles äußerst langsam in Angriff zu nehmen. Wollte sich
einer die Augen reiben, so hob er die Hand wie ein Hängegewicht. Ihre Scherze
waren grob, aber herzlich. Ihr Lachen war immer mit einem gefährlich klingenden
aber nichts bedeutenden Husten gemischt. Immer hatten sie im Mund etwas zum
Ausspeien und wohin sie ausspieen war ihnen gleichgültig. Immer klagten sie, daß
meine Flöhe auf sie überspringen; aber doch waren sie mir deshalb niemals
ernstlich böse; sie wußten eben, daß in meinem Fell Flöhe gedeihen und daß Flöhe
Springer sind; damit fanden sie sich ab. Wenn sie dienstfrei waren, setzten sich
manchmal einige im Halbkreis um mich nieder; sprachen kaum, sondern gurrten
einander nur zu; rauchten, auf Kisten ausgestreckt, die Pfeife; schlugen sich
aufs Knie, sobald ich die geringste Bewegung machte; und hie und da nahm einer
einen Stecken und kitzelte mich dort, wo es mir angenehm war. Sollte ich heute
eingeladen werden, eine Fahrt auf diesem Schiffe mitzumachen, ich würde die
Einladung gewiß ablehnen, aber ebenso gewiß ist, daß es nicht nur häßliche
Erinnerungen sind, denen ich dort im Zwischendeck nachhängen könnte.
Die Ruhe, die ich mir im Kreise dieser Leute erwarb, hielt mich vor allem von
jedem Fluchtversuch ab. Von heute aus gesehen scheint es mir, als hätte ich
zumindest geahnt, daß ich einen Ausweg finden müsse, wenn ich leben wolle, daß
dieser Ausweg aber nicht durch Flucht zu erreichen sei. Ich weiß nicht mehr, ob
Flucht möglich war, aber ich glaube es; einem Affen sollte Flucht immer möglich
sein. Mit meinen heutigen Zähnen muß ich schon beim gewöhnlichen Nüsseknacken
vorsichtig sein, damals aber hätte es mir wohl im Lauf der Zeit gelingen müssen,
das Türschloß durchzubeißen. Ich tat es nicht. Was wäre damit auch gewonnen
gewesen? Man hätte mich, kaum war der Kopf hinausgesteckt, wieder eingefangen
und in einen noch schlimmeren Käfig gesperrt; oder ich hätte mich unbemerkt zu
anderen Tieren, etwa zu den Riesenschlangen mir gegenüber flüchten können und
mich in ihren Umarmungen ausgehaucht; oder es wäre mir gar gelungen, mich bis
aufs Deck zu stehlen und über Bord zu springen, dann hätte ich ein Weilchen auf
dem Weltmeer geschaukelt und wäre ersoffen. Verzweiflungstaten. Ich rechnete
nicht so menschlich, aber unter dem Einfluß meiner Umgebung verhielt ich mich
so, wie wenn ich gerechnet hätte.
Ich rechnete nicht, wohl aber beobachtete ich in aller Ruhe. Ich sah diese
Menschen auf und ab gehen, immer die gleichen Gesichter, die gleichen
Bewegungen, oft schien es mir, als wäre es nur einer. Dieser Mensch oder diese
Menschen gingen also unbehelligt. Ein hohes Ziel dämmerte mir auf. Niemand
versprach mir, daß, wenn ich so wie sie werden würde, das Gitter aufgezogen
werde. Solche Versprechungen für scheinbar unmögliche Erfüllungen werden nicht
gegeben. Löst man aber die Erfüllungen ein, erscheinen nachträglich auch die
Versprechungen genau dort, wo man sie früher vergeblich gesucht hat. Nun war an
diesen Menschen an sich nichts, was mich sehr verlockte. Wäre ich ein Anhänger
jener erwähnten Freiheit, ich hätte gewiß das Weltmeer dem Ausweg vorgezogen,
der sich mir im trüben Blick dieser Menschen zeigte. Jedenfalls aber beobachtete
ich sie schon lange vorher, ehe ich an solche Dinge dachte, ja die angehäuften
Beobachtungen drängten mich erst in die bestimmte Richtung.
Es war so leicht, die Leute nachzuahmen. Spucken konnte ich schon in den ersten
Tagen. Wir spuckten einander dann gegenseitig ins Gesicht; der Unterschied war
nur, daß ich mein Gesicht nachher reinleckte, sie ihres nicht. Die Pfeife
rauchte ich bald wie ein Alter; drückte ich dann auch noch den Daumen in den
Pfeifenkopf, jauchzte das ganze Zwischendeck; nur den Unterschied zwischen der
leeren und der gestopften Pfeife verstand ich lange nicht.
Die meiste Mühe machte mir die Schnapsflasche. Der Geruch peinigte mich; ich
zwang mich mit allen Kräften; aber es vergingen Wochen, ehe ich mich überwand.
Diese inneren Kämpfe nahmen die Leute merkwürdigerweise ernster als irgend etwas
sonst an mir. Ich unterscheide die Leute auch in meiner Erinnerung nicht, aber
da war einer, der kam immer wieder, allein oder mit Kameraden, bei Tag, bei
Nacht, zu den verschiedensten Stunden; stellte sich mit der Flasche vor mich hin
und gab mir Unterricht. Er begriff mich nicht, er wollte das Rätsel meines Seins
lösen. Er entkorkte langsam die Flasche und blickte mich dann an, um zu prüfen,
ob ich verstanden habe; ich gestehe, ich sah ihm immer mit wilder, mit
überstürzter Aufmerksamkeit zu; einen solchen Menschenschüler findet kein
Menschenlehrer auf dem ganzen Erdenrund; nachdem die Flasche entkorkt war, hob
er sie zum Mund; ich mit meinen Blicken ihm nach bis in die Gurgel; er nickt,
zufrieden mit mir, und setzt die Flasche an die Lippen; ich, entzückt von
allmählicher Erkenntnis, kratze mich quietschend der Länge und Breite nach, wo
es sich trifft; er freut sich, setzt die Flasche an und macht einen Schluck;
ich, ungeduldig und verzweifelt, ihm nachzueifern, verunreinige mich in meinem
Käfig, was wieder ihm große Genugtuung macht; und nun weit die Flasche von sich
streckend und im Schwung sie wieder hinaufführend, trinkt er sie, übertrieben
lehrhaft zurückgebeugt, mit einem Zuge leer. Ich, ermattet von allzugroßem
Verlangen, kann nicht mehr folgen und hänge schwach am Gitter, während er den
theoretischen Unterricht damit beendet, daß er sich den Bauch streicht und
grinst.
Nun erst beginnt die praktische Übung. Bin ich nicht schon allzu erschöpft durch
das Theoretische? Wohl, allzu erschöpft. Das gehört zu meinem Schicksal.
Trotzdem greife ich, so gut ich kann, nach der hingereichten Flasche; entkorke
sie zitternd; mit dem Gelingen stellen sich allmählich neue Kräfte ein; ich hebe
die Flasche, vom Original schon kaum zu unterscheiden; setze sie an und – und
werfe sie mit Abscheu, mit Abscheu, trotzdem sie leer ist und nur noch der
Geruch sie füllt, werfe sie mit Abscheu auf den Boden. Zur Trauer meines
Lehrers, zur größeren Trauer meiner selbst; weder ihn, noch mich versöhne ich
dadurch, daß ich auch nach dem Wegwerfen der Flasche nicht vergesse,
ausgezeichnet meinen Bauch zu streichen und dabei zu grinsen.
Allzuoft nur verlief so der Unterricht. Und zur Ehre meines Lehrers: er war mir
nicht böse; wohl hielt er mir manchmal die brennende Pfeife ans Fell, bis es
irgendwo, wo ich nur schwer hinreichte, zu glimmen anfing, aber dann löschte er
es selbst wieder mit seiner riesigen guten Hand; er war mir nicht böse, er sah
ein, daß wir auf der gleichen Seite gegen die Affennatur kämpften und daß ich
den schwereren Teil hatte.
Was für ein Sieg dann allerdings für ihn wie für mich, als ich eines Abends vor
großem Zuschauerkreis – vielleicht war ein Fest, ein Grammophon spielte, ein
Offizier erging sich zwischen den Leuten – als ich an diesem Abend, gerade
unbeachtet, eine vor meinem Käfig versehentlich stehen gelassene Schnapsflasche
ergriff, unter steigender Aufmerksamkeit der Gesellschaft sie schulgerecht
entkorkte, an den Mund setzte und ohne Zögern, ohne Mundverziehen, als Trinker
von Fach, mit rund gewälzten Augen, schwappender Kehle, wirklich und wahrhaftig
leer trank; nicht mehr als Verzweifelter, sondern als Künstler die Flasche
hinwarf; zwar vergaß den Bauch zu streichen; dafür aber, weil ich nicht anders
konnte, weil es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten, kurz und gut
»Hallo!« ausrief, in Menschenlaut ausbrach, mit diesem Ruf in die
Menschengemeinschaft sprang und ihr Echo: »Hört nur, er spricht!« wie einen Kuß
auf meinem ganzen schweißtriefenden Körper fühlte.
Ich wiederhole: es verlockte mich nicht, die Menschen nachzuahmen; ich ahmte
nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund. Auch war mit jenem
Sieg noch wenig getan. Die Stimme versagte mir sofort wieder; stellte sich erst
nach Monaten ein; der Widerwille gegen die Schnapsflasche kam sogar noch
verstärkter. Aber meine Richtung allerdings war mir ein für allemal gegeben.
Als ich in Hamburg dem ersten Dresseur übergeben wurde, erkannte ich bald die
zwei Möglichkeiten, die mir offen standen: Zoologischer Garten oder Varieté. Ich
zögerte nicht. Ich sagte mir: setze alle Kraft an, um ins Varieté zu kommen; das
ist der Ausweg; Zoologischer Garten ist nur ein neuer Gitterkäfig; kommst du in
ihn, bist du verloren.
Und ich lernte, meine Herren. Ach, man lernt, wenn man muß; man lernt, wenn man
einen Ausweg will; man lernt rücksichtslos. Man beaufsichtigt sich selbst mit
der Peitsche; man zerfleischt sich beim geringsten Widerstand. Die Affennatur
raste, sich überkugelnd, aus mir hinaus und weg, so daß mein erster Lehrer
selbst davon fast äffisch wurde, bald den Unterricht aufgeben und in eine
Heilanstalt gebracht werden mußte. Glücklicherweise kam er wieder bald hervor.
Aber ich verbrauchte viele Lehrer, ja sogar einige Lehrer gleichzeitig. Als ich
meiner Fähigkeiten schon sicherer geworden war, die Öffentlichkeit meinen
Fortschritten folgte, meine Zukunft zu leuchten begann, nahm ich selbst Lehrer
auf, ließ sie in fünf aufeinanderfolgenden Zimmern niedersetzen und lernte bei
allen zugleich, indem ich ununterbrochen aus einem Zimmer ins andere sprang.
Diese Fortschritte! Dieses Eindringen der Wissensstrahlen von allen Seiten ins
erwachende Hirn! Ich leugne nicht: es beglückte mich. Ich gestehe aber auch ein:
ich überschätzte es nicht, schon damals nicht, wieviel weniger heute. Durch eine
Anstrengung, die sich bisher auf der Erde nicht wiederholt hat, habe ich die
Durchschnittsbildung eines Europäers erreicht. Das wäre an sich vielleicht gar
nichts, ist aber insofern doch etwas, als es mir aus dem Käfig half und mir
diesen besonderen Ausweg, diesen Menschenausweg verschaffte. Es gibt eine
ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die Büsche schlagen; das habe ich
getan, ich habe mich in die Büsche geschlagen. Ich hatte keinen anderen Weg,
immer vorausgesetzt, daß nicht die Freiheit zu wählen war.
Überblicke ich meine Entwicklung und ihr bisheriges Ziel, so klage ich weder,
noch bin ich zufrieden. Die Hände in den Hosentaschen, die Weinflasche auf dem
Tisch, liege ich halb, halb sitze ich im Schaukelstuhl und schaue aus dem
Fenster. Kommt Besuch, empfange ich ihn, wie es sich gebührt. Mein Impresario
sitzt im Vorzimmer; läute ich, kommt er und hört, was ich zu sagen habe. Am
Abend ist fast immer Vorstellung, und ich habe wohl kaum mehr zu steigernde
Erfolge. Komme ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen
Gesellschaften, aus gemütlichem Beisammensein nach Hause, erwartet mich eine
kleine halbdressierte Schimpansin und ich lasse es mir nach Affenart bei ihr
wohlgehen. Bei Tag will ich sie nicht sehen; sie hat nämlich den Irrsinn des
verwirrten dressierten Tieres im Blick; das erkenne nur ich und ich kann es
nicht ertragen.
Im Ganzen habe ich jedenfalls erreicht, was ich erreichen wollte. Man sage
nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen. Im übrigen will ich keines Menschen
Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe
Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.
Lesen im Deutschunterricht
Quelle: Franz Kafka, Ein Landarzt, Kleine Erzählungen, München Leipzig 1919
Balladen
Fabeln
Märchen
Gedichte
Texte für die Klasse 7, Klasse 8, Klasse 9 und Klasse 10.
Erzählungen von Franz Kafka, Texte von Kafka zum Lesen und Bearbeiten im Deutschunterricht.