2 Leonce und Lena - Erster Akt, Lustspiel, Büchner
Einleitung:
Das Lustspiel Leonce und Lena von Georg Büchner erzählt vom Leben zweier junger
Menschen, die auf dem Weg zum Erwachsensein sind. Auch als Prinz unterliegt man
am Hof Zwängen und der Langeweile. Daraus versucht der Prinz Leonce zu
entkommen. Dabei ist das Lustspiel auch eine harte Kritik am Adel und an
provinzieller deutscher Kleinstaaterei. Das Lustspiel endet mit der Erklärung,
„dass, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; dass jeder, der
sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und
der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird,..."
Zur Inhaltsangabe von Leonce und
Lena
Leonce und Lena
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Leonce und Lena.
Ein Lustspiel
Vorrede:
Alfieri: „E la fama (Erklärung: Und der Ruhm)?"
Gozzi: „E la fame (Erklärung: Und der Hunger)?"
Personen.
König Peter vom Reiche Popo.
Prinz Leonce, sein Sohn, verlobt mit
Prinzessin Lena vom Reiche Pipi.
Valerio.
Die Gouvernante.
Der Hofmeister.
Der Präsident des Staatsrates.
Der Hofprediger.
Der Landrat.
Der Schulmeister.
Rosetta.
Bediente. Staatsräte. Bauern u. s. w.
E r s t e r A k t.
„O war' ich doch ein Narr!
Mein Ehrgeiz geht auf meine bunte Jacke."
W i e e s E u c h g e f ä l l t.
Erste Szene.
Ein Garten.
Leonce (halb ruhend auf einer Bank). Der Hofmeister.
Leonce. Mein Herr, was wollen Sie von mir? Mich auf
meinen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll zu tun. Ich weiß mir vor
Arbeit nicht zu helfen. Sehen Sie, erst habe ich auf den Stein hier
dreihundertfünfundsechzig Mal hintereinander zu spuken. Haben Sie das noch
nicht probiert? Tun Sie es, es gewährt eine ganz eigne Unterhaltung. — Dann,
sehen Sie diese Hand voll Sand? —
(er nimmt Sand auf, wirft ihn in die Höhe und fängt ihn mit dem Rücken der
Hand wieder auf) —— jetzt werf ich sie in die Höhe. Wollen wir wetten?
Wiewiel Körnchen hab' ich jetzt auf dem Handrücken? Grad oder ungrad? Wie? Sie
wollen nicht wetten? Sind Sie ein Heide? Glauben Sie an Gott? Ich wette
gewöhnlich mit mir selbst und kann es tagelang so treiben. Wenn Sie einen
Menschen aufzutreiben wissen, der Lust hätte, manchmal mit mir zu wetten, so
werden Sie mich sehr verbinden. Dann — habe ich nachzudenken, wie es wohl
angehen mag, dass ich mir einmal auf den Kopf sehe. — O wer sich einmal auf den
Kopf sehen könnte! Das ist eines von meinen Idealen. Und dann — und dann — noch
unendlich viel der Art. — Bin ich ein Müßiggänger? Habe ich keine Beschäftigung?
— Ja, es ist traurig.
Hofmeister. Sehr traurig, Eure Hoheit.
Leonce. Dass die Wolken schon seit drei Wochen von Westen nach
Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch
(Erklärung: traurig).
Hofmeister. Eine sehr gegründete Melancholie.
Leonce. Mensch, warum widersprechen Sie mir nicht? Sie haben
dringende Geschäfte, nicht wahr? Es ist mir leid, dass ich Sie so lange
aufgehalten habe.
(Der Hofmeister entfernt sich mit einer tiefen Verbeugung.) Mein Herr,
ich gratuliere Ihnen zu der schönen Parenthese, die Ihre Beine machen, wenn Sie
sich verbeugen.
Leonce (allein, streckt sich auf der Bank aus). Die
Bienen sitzen so träg an den Blumen, und der Sonnenschein liegt so faul auf dem
Boden. Es grassiert ein entsetzlicher Müßiggang. — Müßiggang ist aller Laster
Anfang. Was die Leute nicht alles aus Langelveile treiben! Sie studieren aus
Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren
sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und — und das ist der
Humor davon — alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und
meinen Gott weiß was dazu. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe,
diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als
raffinierte Müßiggänger. — Warum muss ich es grade wissen? Warum kann ich mir
nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen
Regenschirm in die Hand geben, dass sie sehr rechtlich und sehr nützlich und
sehr moralisch würde? — Der Mann, der eben von mir ging, ich beneidete ihn, ich
hätte ihn aus Neid prügeln mögen. O wer einmal jemand anderes sein könnte! Nur
'ne Minute lang. Wie der Mensch läuft! Wenn ich nur etwas unter der Sonne wüßte,
was mich noch könnte laufen machen.
(Valerio, etwas betrunken, tritt auf.)
Valerio (stellt sich dicht vor den Prinzen, legt den Finger an die Nase und
sieht ihn starr an). Ja!
Leonce (ebenso). Richtig! Valerio. Haben Sie mich
begriffen?
Leonce. Vollkommen.
Valerio. Nun, so wollen wir von etwas anderem reden. (Er legt
sich ins Gras). Ich werde mich indessen in das Gras legen und meine Nase oben
zwischen den Halmen herausblühen lassen und romantische Empfindungen beziehen,
wenn die Bienen und Schmetterlinge sich darauf wiegen, wie auf einer Rose.
Leonce. Aber Bester, schnaufen Sie nicht so stark oder die
Bienen und Schmetterlinge müssen verhungern über den ungeheuren Prisen, die Sie
aus den Blumen ziehen.
Valerio. Ach Herr, was ich ein Gefühl für die Natur habe! Das
Gras steht so schön, dass man ein Ochs sein möchte, um es fressen zu können, und
dann wieder ein Mensch, um den Ochsen zu essen, der solches Gras gefressen.
Leonce. Unglücklicher, Sie scheinen auch an Idealen zu
laborieren.
Valerio. Es ist ein Jammer. Man kann keinen Kirchturm
herunterspringen, ohne den Hals zu brechen. Man kann keine vier Pfund Kirschen
mit den Steinen essen, ohne Leibweh zu kriegen. Seht, Herr, ich könnte mich in
eine Ecke setzen und singen vom Abend bis zum Morgen: „Hei, da sitzt e Fleig' an
der Wand! Fleig' an der Wand! Fleig' an der Wand!" und so fort bis zum Ende
meines Lebens.
Leonce. Halt's Maul mit deinem Lied, man könnte darüber ein
Narr werden.
Valerio. So wäre man doch etwas. Ein Narr! Ein Narr! Wer will
mir seine Narrheit gegen meine Vernunft verhandeln? Ha, ich bin Alexander der
Große! Wie mir die Sonne eine goldne Krone in die Haare scheint, wie meine
Uniform blitzt! Herr Generalissimus Heupferd, lassen Sie die Truppen anrücken!
Herr Finanzminister Kreuzspinne, ich brauche Geld! Liebe Hofdame Libelle, was
macht meine teure Gemahlin Bohnenstange? Ach bester Herr Leibmedicus (Hausarzt
einer wichtigen Person) Cantharide (Erklärung: Chantharide=Wundpflaster),
ich bin um einen Erbprinzen verlegen. Und zu diesen köstlichen Phantasien
bekommt man gute Suppe, gutes Fleisch, gutes Brot, ein gutes Bett und das Haar
umsonst geschoren, — im Narrenhaus nämlich, — während ich mit meiner gesunden
Vernunft mich höchstens noch zur Beförderung der Reife auf einen Kirschbaum
verdingen könnte, um — nun? — um?
Leonce. Um die Kirschen durch die Löcher in deinen Hosen
schamrot zu machen! Aber Edelster, dein Handwerk, deine Profession, dein
Gewerbe, dein Stand, deine Kunst?
Valerio (mit Würde). Herr, ich habe die große
Beschäftigung, müßig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtstun,
ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit. Keine Schwiele schändet
meine Hände, der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stirne getrunken, ich
bin noch Jungfrau in der Arbeit, und wenn es mir nicht der Mühe zu viel wäre,
würde ich mir die Mühe nehmen, Ihnen diese Verdienste weitläufiger
auseinanderzusetzen.
Leonce (mit komischem Enthusiasmus). Komm an meine
Brust! Bist du einer von den Göttlichen, welche mühelos mit reiner Stirne durch
den Schweiß und Staub über die Heerstraße des Lebens wandeln, und mit glänzenden
Sohlen und blühenden Leibern gleich seligen Göttern in den Olymp (Erklärung:
Wohnsitz griechischer Götter) treten? Komm! Komm!
Valerio (singt im Abgehen). Hei! Da sitzt e Fleig' an
der Wand! Fleig' an der Wand! Fleig' an der Wand! (Beide Arm in Arm ab.)
Zweite Szene.
Ein Zimmer.
(König Peter wird von zwei Kammerdienern angekleidet.)
Peter
(während er angekleidet wird). Der Mensch muss denken, und ich muss für
meine Untertanen denken; denn sie denken nicht, sie denken nicht. — Die Substanz
ist das an sich, das bin ich.
(Er lauft im Zimmer herum.) Begriffen? An sich ist an sich, versteht
Ihr? Jetzt kommen meine Attribute, Modifikationen, Affektionen und Akzidenzien,
wo sind meine Schuhe, meine Hosen? — Halt, der freie Wille steht ganz offen. Wo
ist die Moral, wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der
schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose
steckt in der rechten Tasche. Mein ganzes System ist ruiniert. — He, was
bedeutet der Knopf im Schnupftuch? Kerl, was bedeutet der Knopf, an was wollte
ich mich erinnern?
Erster Kammerdiener. Als Eure Majestät diesen Knopf in Ihr
Schnupftuch zu knüpfen geruhten, so wollten Sie —
König. Nun?
Erster Kammerdiener. Sich an etwas erinnern.
Peter. Eine verwickelte Antwort! — Ei! Nun, und was meint er?
Zweiter Kammerdiener. Eure Majestät wollten sich an etwas
erinnern, als sie diesen Knopf in ihr Schnupftuch zu knöpfen geruhten.
Peter (läuft auf und ab). Was? Was? Die Menschen
machen mich konfus, ich bin in der größten Verwirrung. Ich weiß mir nicht mehr
zu helfen.
(Ein Diener tritt auf.)
Diener. Eure Majestät, der Staatsrat ist versammelt.
Peter (freudig). Ja, das ist's, das ist's. — Kommen
Sie, meine Herren! Gehen Sie symmetrisch. Ist es nicht sehr heiß? Nehmen Sie
doch auch Ihre Schnupftücher und wischen Sie sich das Gesicht. Ich bin immer so
in Verlegenheit, wenn ich öffentlich sprechen soll.
(Alle ab.)
König Peter. Der Staatsrat.
Peter. Meine Lieben und Getreuen, ich wollte euch hiermit kund
und zu wissen tun, kund und zu wissen tun, — denn, entweder verheiratet sich
mein Sohn, oder nicht
(legt den Finger an die Nase), entweder, oder — ihr versteht mich doch?
Ein Drittes gibt es nicht. Der Mensch muss denken. (Steht eine Zeit lang
sinnend). Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht, wer es eigentlich ist,
ich oder ein anderer, das ängstigt mich. (Nach langem Besinnen). Ich bin ich. —
Was halten Sie davon, Präsident?
Präsident (gravitätisch (Erklärung: würdevoll) langsam).
Eure Majestät, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.
Der ganze Staatsrat im Chor. Ja, vielleicht ist es so,
vielleicht ist es aber auch nicht so.
Peter (mit Rührung). O meine Weisen! — Also von was
war eigentlich die Rede? Von was wollte ich sprechen? Präsident, was haben Sie
ein so kurzes Gedächtnis bei einer so feierlichen Gelegenheit? Die Sitzung ist
aufgehoben.
(Er entfernt sich feierlich, der ganze Staatsrat folgt ihm.)
Dritte Szene.
Ein reichgeschmückter Saal, Kerzen brennen.
Leonce mit einigen Dienern.
Leonce. Sind alle Läden geschlossen? Zündet die Kerzen an! Weg
mit dem Tag! Ich will Nacht, tiefe ambrosische Nacht. Stellt die Lampen unter
Kristallglocken zwischen die Oleander, dass sie wie Mädchenaugen unter den
Wimpern der Blätter hervorträumen. Rückt die Rosen näher, dass der Wein wie
Tautropfen auf die Kelche sprudle. Musik! Wo sind die Violinen? Wo ist die
Rosetta? Fort! Alle hinaus!
(Die Diener gehen ab. Leonce streckt sich auf ein Ruhebett.
Rosetta, zierlich gekleidet, tritt ein. Man hört Musik aus der Ferne.)
Rosetta (nähert sich schmeichelnd). Leonce!
Leonce. Rosetta!
Rosetta. Leonce!
Leonce. Rosetta!
Rosetta. Deine Lippen sind träg. Vom Küssen?
Leonce. Vom Gähnen!
Rosetta. Oh!
Leonce. Ach Rosetta, ich habe die entsetzliche Arbeit...
Rosetta. Nun?
Leonce. Nichts zu tun...
Rosetta. Als zu lieben?
Leonce. Freilich Arbeit!
Rosetta (beleidigt). Leonce!
Leonce. Oder Beschäftigung.
Rosetta. Oder Müßiggang.
Leonce. Du hast Recht wie immer. Du bist ein kluges Mädchen,
und ich halte viel auf deinen Scharfsinn.
Rosetta. So liebst Du mich aus Langeweile?
Leonce. Nein, ich habe Langeweile, weil ich dich liebe. Aber
ich liebe meine Langeweile wie dich. Ihr seid eins. Oh dolce far niente
(Erklärung: Oh süßer Müßiggang), ich träume über deinen Augen, wie an
wunderheimlichen tiefen Quellen, das Kosen deiner Lippen schläfert mich ein, wie
Wellenrauschen. (Er umfasst sie). Komm liebe Langeweile, deine Küsse
sind ein wollüstiges Gähnen, und deine Schritte sind ein zierlicher Hiatus
(Erklärung: eine hübsche Unterbrechung).
Rosetta. Du liebst mich, Leonce?
Leonce. Ei warum nicht?
Rosetta. Und immer?
Leonce. Das ist ein langes Wort: immer! Wenn ich dich nun noch
fünftausend Jahre und sieben Monate liebe, ist's genug? Es ist zwar viel
weniger, als immer, ist aber doch eine erkleckliche Zeit, und wir können uns
Zeit nehmen, uns zu lieben.
Rosetta. Oder die Zeit kann uns das Lieben nehmen.
Leonce. Oder das Lieben uns die Zeit. Tanze, Rosetta, tanze,
dass die Zeit mit dem Takt deiner niedlichen Füße geht.
Rosetta. Meine Füße gingen lieber aus der Zeit.
(Sie tanzt und singt.)
O meine müden Füße, ihr müßt tanzen
In bunten Schuhen,
Und möchtet lieber tief
Im Boden ruhen.
O meine heißen Wangen, ihr müßt glühn
Im milden Kosen,
Und möchtet lieber blühn —
Zwei weiße Rosen.
O meine armen Augen, ihr müßt blitzen
Im Strahl der Kerzen,
Und schlieft im Dunkel lieber aus
Von euren Schmerzen.
Leonce (indes träumend vor sich hin). O, eine
sterbende Liebe ist schöner, als eine werdende. Ich bin ein Römer; bei dem
köstlichen Mahle spielen zum Dessert die goldnen Fische in ihren Todesfarben.
Wie ihr das Rot von den Wangen stirbt, wie still das Auge ausglüht, wie leis das
Wogen ihrer Glieder steigt und fällt! Adio (Erklärung: Lebe wohl), adio
meine Liebe, ich will deine Leiche lieben. (Rosetta nähert sich ihm wieder.)
Tränen, Rosetta? Ein feiner Epikureismus — weinen zu können. Stelle dich in
die Sonne, damit die köstlichen Tropfen kristallisieren, es muss prächtige
Diamanten geben. Du kannst dir ein Halsband machen lassen. Rosetta. Wohl
Diamanten, sie schneiden mir in die Augen. Ach Leonce! (Will ihn umfassen.)
Leonce. Gib Acht! Mein Kopf! Ich habe unsere Liebe darin
beigesetzt. Sieh zu den Fenstern meiner Augen hinein. Siehst du, wie schön tot
das arme Ding ist? Siehst du die zwei weißen Rosen auf seinen Wangen und die
zwei roten auf seiner Brust? Stoß mich nicht, dass ihm kein Ärmchen abbricht, es
wäre schade. Ich muss meinen Kopf gerade auf den Schultern tragen, wie die
Totenfrau einen Kindersarg. Rosetta (scherzend). Narr!
Leonce. Rosetta! (Rosetta macht ihm eine Fratze.) Gott
sei Dank!
(Hält sich die Augen zu.)
Rosetta (erschrocken). Leonce, sieh mich an.
Leonce. Um keinen Preis!
Rosetta. Nur einen Blick!
Leonce. Keinen! Meinst du? Um ein klein wenig, und meine liebe
Liebe käme wieder auf die Welt. Ich bin froh, dass ich sie begraben habe. Ich
behalte den Eindruck.
Rosetta (entfernt sich traurig und langsam, sie singt im
Abgehn:)
Ich bin eine arme Waise,
Ich fürchte mich ganz allein.
Ach lieber Gram —
Willst du nicht kommen mit mir heim?
Leonce (allein). Ein sonderbares Ding um die
Liebe. Man liegt ein Jahr lang schlafwachend zu Bette, und an einem schönen
Morgen wacht man auf, trinkt ein Glas Wasser, zieht seine Kleider an und fährt
sich mit der Hand über die Stirn und besinnt sich — und besinnt sich. — Mein
Gott, wieviel Weiber hat man nötig, um die Skala
(Erklärung: Spielarten) der Liebe auf und ab zu singen? Kaum, dass eine
einen Ton ausfüllt. Warum ist der Dunst über unsrer Erde ein Prisma
(Erklärung: ein Prisma zerlegt weißes Licht seine farbigen Bestandteile),
das den weißen Glutstrahl der Liebe in einen Regenbogen bricht? —
(Er trinkt.) In welcher Bouteille (Erklärung: frz. für Flasche)
steckt denn der Wein, an dem ich mich heute betrinken soll? Bringe ich es nicht
einmal mehr so weit? Ich sitze wie unter einer Luftpumpe. Die Luft so scharf und
dünn, dass mich friert, als sollte ich in Nankinghosen (Erklärung: Nanking =
Hosen aus besondererem Stoff aus China) Schlittschuh laufen. — Meine
Herren, meine Herren, wißt ihr auch, was Caligula und Nero waren? Ich weiß es. —
Komm Leonce, halte mir einen Monolog, ich will zuhören. Mein Leben gähnt mich
an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich
bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige
verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in
der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden
Augen einander an. Ich stülpe mich jeden Tag vierundzwanzigmal herum, wie einen
Handschuh. O ich kenne mich, ich weiß was ich in einer Viertelstunde, was ich in
acht Tagen, was ich in einem Jahre denken und träumen werde. Gott, was habe ich
denn verbrochen, dass du mich, wie einen Schulbuben, meine Lektion so oft
hersagen lässt? —
Bravo Leonce! Bravo! (Er klatscht.) Es tut mir ganz wohl, wenn ich mir
so rufe. He! Leonce! Leonce!
Valerio (unter einem Tisch hervor). Eure Hoheit
scheint mir wirklich auf dem besten Weg, ein wahrhaftiger Narr zu werden.
Leonce. Ja, beim Licht besehen, kommt es mir eigentlich ebenso
vor.
Valerio. Warten Sie, wir wollen uns darüber sogleich
ausführlicher unterhalten. Ich habe nur noch ein Stück Braten zu verzehren, das
ich aus der Küche, und etwas Wein, den ich von ihrem Tische gestohlen. Ich bin
gleich fertig.
Leonce. Das schmatzt. Der Kerl verursacht mir ganz idyllische
Empfindungen; ich könnte wieder mit dem Einfachsten anfangen, ich könnte Käs
essen, Bier trinken, Tabak rauchen. Mach fort, grunze nicht so mit deinem
Rüssel, und klappre mit deinen Hauern nicht so.
Valerio. Wertester Adonis (Erklärung: schöner Jüngling oder
Mann), sind Sie in Angst um Ihre Schenkel? Sein Sie unbesorgt, ich bin
weder ein Besenbinder, noch ein Schulmeister. Ich brauche keine Gerten zu Ruten.
Leonce. Du bleibst nichts schuldig.
Valerio.
Ich wollte, es ginge meinem Herrn ebenso.
Leonce.
Meinst du, damit du zu deinen Prügeln kämst? Bist du so besorgt um deine
Erziehung?
Valerio. O Himmel, man kömmt leichter zu seiner Erzeugung, als
zu seiner Erziehung. Es ist traurig, in welche Umstände einen andere Umstände
(Erklärung: Umschreibung für Schwangerschaft) versetzen können! Was für
Wochen hab' ich erlebt, seit meine Mutter in die Wochen kam! Wieviel Gutes hab'
ich empfangen, das ich meiner Empfängnis zu danken hätte?
Leonce. Was deine Empfänglichkeit betrifft, so könnte sie es
nicht besser treffen, um getroffen zu werden. Drück dich besser aus, oder du
sollst den unangenehmsten Eindruck von meinem Nachdruck haben.
Valerio. Als meine Mutter um das Vorgebirg der guten Hoffnung
schiffte ....
Leonce. Und dein Vater an Kap Hoorn Schiffbruch litt ....
Valerio. Nichtig, denn er war Nachtwächter. Doch setzte er das
Horn nicht so oft an die Lippen, als die Väter edler Söhne an die Stirn.
Leonce. Mensch, du besitzest eine himmlische Unverschämtheit.
Ich fühle ein gewisses Bedürfnis, mich in nähere Berührung mit ihr zu setzen.
Ich habe eine große Passion
(Erklärung: Leidenschaft) dich zu prügeln.
Valerio. Das ist eine schlagende Antwort und ein triftiger
Beweis.
Leonce (geht auf ihn los). Oder du bist eine
geschlagene Antwort. Denn du bekommst Prügel für deine Antwort.
Valerio (läuft weg, Leonce stolpert und fällt). Und
Sie sind ein Beweis, der noch geführt werden muss, denn er fällt über seine
eigenen Beine, die im Grund genommen selbst noch zu beweisen sind. Es sind
höchst unwahrscheinliche Waden und sehr problematische Schenkel.
Der Staatsrat tritt auf. Leonce bleibt auf dem Boden sitzen. Valerio.
Präsident. Eure Hoheit verzeihen . . .
Leonce.
Wie mir selbst! Wie mir selbst! Ich verzeihe mir die Gutmütigkeit, Sie
anzuhören. Meine Herren, wollen Sie nicht Platz nehmen? — Was die Leute für
Gesichter machen; wenn sie das Wort Platz hören! Setzen Sie sich nur auf den
Boden und genieren Sie sich nicht. Es ist doch der letzte Platz, den Sie einst
erhalten, aber er trägt niemanden etwas ein — außer dem Totengräber.
Präsident (verlegen mit den Fingern schnipsend).
Geruhen Eure Hoheit . . .
Leonce. Aber schnipsen Sie nicht so mit den Fingern, wenn Sie
mich nicht zum Mörder machen wollen.
Präsident (immer stärker schnipsend). Wollten
gnädigst, in Betracht ...
Leonce. Mein Gott, stecken Sie doch die Hände in die Hosen oder
setzen Sie sich darauf. Er ist ganz aus der Fassung. Sammeln Sie sich.
Valerio. Man darf Kinder nicht während des P......
unterbrechen, sie bekommen sonst eine Verhaltung
(Erklärung: Blockade).
Leonce. Mann, fassen Sie sich. Bedenken Sie Ihre Familie und
den Staat. Sie riskieren einen Schlagfluss
(Erklärung: Hirnschlag), wenn Ihnen Ihre Rede zurücktritt.
Präsident (zieht ein Papier aus der Tasche).
Erlauben Eure Hoheit . . .
Leonce. Was! Sie können schon lesen? Nun denn ...
Präsident. Dass man der zu erwartenden Ankunft von Eurer Hoheit
Verlobter Braut, der durchlauchtigsten Prinzessin Lena von Pipi, auf morgen sich
zu gewärtigen habe, davon lässt Ihre königliche Majestät Eure Hoheit
benachrichtigen.
Leonce. Wenn meine Braut mich erwartet, so werde ich ihr den
Willen tun und sie auf mich warten lassen. Ich habe sie gestern Nacht im Traume
gesehen, sie hatte ein paar Augen, so groß, dass die Tanzschuhe meiner Rosetta
zu Augenbrauen darüber gepasst hätten, und auf den Wangen waren keine
Grübchen, sondern ein paar Abzugsgräben für das Lachen. Ich glaube an Träume.
Träumen Sie auch zuweilen, Herr Präsident? Haben Sie auch Ahnungen?
Valerio. Versteht sich. Immer die Nacht vor dem Tag, an dem ein
Braten verbrennt, ein Kapaun krepiert, oder Ihre königliche Majestät Leibweh
bekommt.
Leonce. A propos, hatten Sie nicht noch etwas auf der Zunge?
Geben Sie nur alles von sich.
Präsident. An dem Tage der Vermählung ist ein höchster Wille
gesonnen, seine allerhöchsten Willensäußerungen in die Hände Eurer Hoheit
niederzulegen.
Leonce. Sagen Sie einem höchsten Willen, dass ich alles tun
werde, das ausgenommen, was ich werde bleiben lassen, was aber jedenfalls nicht
soviel sein wird, als wenn es noch einmal soviel wäre. — Meine Herren, Sie
entschuldigen, dass ich Sie nicht begleite, ich habe gerade die Passion zu
sitzen, aber meine Gnade ist so groß, dass ich sie mit den Beinen kaum ausmessen
kann.
(Er spreizt die Beine auseinander.) Herr Präsident, nehmen Sie doch das
Maß, damit Sie mich später daran erinnern. Valerio, gib den Herren das Geleite.
Valerio. Das Geläute? Soll ich dem Herrn Präsidenten eine
Schelle anhängen? Soll ich sie führen, als ob sie auf allen Vieren gingen?
Leonce. Mensch, du bist nichts, als ein schlechtes Wortspiel.
Du hast weder Vater noch Mutter, sondern die fünf Vokale haben dich miteinander
erzeugt.
Valerio. Und Sie, Prinz, sind ein Buch ohne Buchstaben, mit
nichts als Gedankenstrichen. Kommen Sie jetzt, meine Herren. Es ist eine
traurige Sache um das Wort Kommen. Will man ein Einkommen, so muss man stehlen,
an ein Aufkommen ist nicht zu denken, als wenn man sich hängen lässt, ein
Unterkommen findet man erst, wenn man begraben wird, und ein Auskommen hat man
jeden Augenblick mit seinem Witz, wenn man nichts mehr zu sagen weiß, wie ich
zum Beispiel eben, und Sie, ehe Sie noch etwas gesagt haben. Ihr Abkommen haben
Sie gefunden, und Ihr Fortkommen werden Sie jetzt zu suchen ersucht.
(Staatsrat und Valerio ab.)
Leonce (allein). Wie gemein ich mich zum Ritter an den
armen Teufeln gemacht habe! Es steckt nun aber doch einmal ein gewisser Genuss
in einer gewissen Gemeinheit. — Hm! Heiraten! Das heißt einen Ziehbrunnen leer
trinken. O Shandy, alter Shandy, wer mir deine Uhr schenkte!
(Erlärung: Zitat aus einem Buch von L. Sterne, 1713-1768. Mrs. Shandy fragt
ihren Mann im Augenblick der Zeugung ihres Kindes, ob er daran gedacht habe, die
Uhr aufzuziehen.) —
(Valerio kommt zurück.) Ach Valerio, hast du es gehört?
Valerio. Nun, Sie sollen König werden. Das ist eine lustige
Sache. Man kann den ganzen Tag spazieren fahren und den Leuten die Hüte
verderben durch's viele Abziehen, man kann aus ordentlichen Menschen ordentliche
Soldaten ausschneiden, so dass alles ganz natürlich wird, man kann schwarze
Fräcke und weiße Halsbinden zu Staatsdienern machen, und wenn man stirbt, so
laufen alle blanken Knöpfe blau an, und die Glockenstricke reißen wie
Zwirnsfäden vom vielen Läuten. Ist das nicht unterhaltend?
Leonce. Valerio! Valerio! Wir müssen was anderes treiben. Rate!
Valerio. Ach die Wissenschaft, die Wissenschaft! Wir wollen
Gelehrte werden! a priori? oder a posteriori?
Leonce. A priori, das muss man bei meinem Herrn Vater lernen;
und a posteriori fängt alles an, wie ein altes Mährchen: es war einmal!
Valerio. So wollen wir Helden werden. (Er marschiert
trompetend und trommelnd auf und ab.) Trom — trom — pläre — plem!
Leonce. Aber der Heroismus (Erklärung: Heldentum)
fusselt abscheulich und bekommt das Lazarettfieber und kann ohne Lieutenants und
Rekruten nicht bestehen. Pack dich mit deiner Alexanders- und Napoleonsromantik!
Valerio. So wollen wir Genies werden.
Leonce. Die Nachtigall der Poesie schlägt den ganzen Tag über
unserm Haupt, aber das Feinste geht zum Teufel, bis wir ihr die Federn ausreißen
und in die Tinte oder die Farbe tauchen.
Valerio. So wollen wir nützliche Mitglieder der menschlichen
Gesellschaft werden.
Leonce. Lieber möchte ich meine Demission (Erklärung:
Rücktritt) als Mensch geben.
Valerio. So wollen wir zum Teufel gehen.
Leonce. Ach der Teufel ist nur des Kontrastes wegen da, damit
wir begreifen sollen, dass am Himmel doch eigentlich etwas sei.
(Aufspringend.) Ah Valerio, Valerio, jetzt hab' ich's! Fühlst du nicht das
Wehen aus Süden? Fühlst du nicht, wie der tiefblaue, glühende Äther auf und ab
wogt, wie das Licht blitzt von dem goldnen, sonnigen Boden, von der heiligen
Salzflut und von den Marmorsäulen und Leibern? Der große Pan schläft, und die
ehernen Gestalten träumen im Schatten über den tiefrauschenden Wellen von dem
alten Zauberer Virgil, von Tarantella und Tamburin und tiefen, tollen Nächten
voll Masken, Fackeln und Gitarren. Ein Lazzaroni! Valerio! Ein Lazzaroni! Wir
gehen nach Italien.
Vierte Szene.
Ein Garten.
Prinzessin Lena im Brautschmuck. Die Gouvernante.
Lena. Ja, jetzt. Da ist es. Ich dachte die Zeit an nichts. Es
ging so hin, und auf einmal richtet sich der Tag vor mir auf. Ich habe den Kranz
im Haar — und die Glocken, die Glocken! (Sie lehnt sich zurück und schließt
die Angen.)
Sieh, ich wollte, der Rasen wüchse so über mich und die Bienen summten über
mir hin; sieh, jetzt bin ich eingekleidet und habe Rosmarin im Haar. Gibt es
nicht ein altes Lied:
Auf dem Kirchhof will ich liegen.
Wie ein Kindlein in der Wiegen.
Gouvernante. Armes Kind, wie Sie bleich sind unter Ihren
blitzenden Steinen.
Lena. O Gott, ich könnte lieben, warum nicht? Man geht ja so
einsam und tastet nach einer Hand, die einen hielte, bis die Leichenfrau die
Hände auseinandernähme und sie jedem über der Brust faltete. Aber warum schlägt
man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht suchten? Was hat meine arme
Hand getan? (Sie zieht einen Ring vom Finger.)
Dieser Ring sticht mich wie eine Natter.
Gouvernante. Aber — er soll ja ein wahrer Don Carlos sein.
Lena. Aber — ein Mann —
Gouvernante. Nun?
Lena. Den man nicht liebt. (Sie erhebt sich.) Pfui!
Siehst du, ich schäme mich. — Morgen ist aller Duft und Glanz von mir gestreift.
Bin ich denn, wie die arme, hilflose Quelle, die jedes Bild, das sich über sie
bückt, in ihrem stillen Grund abspiegeln muss? Die Blumen öffnen und schließen,
wie sie wollen, ihre Kelche der Morgensonne und dem Abendwind. Ist denn die
Tochter eines Königs weniger, als eine Blume?
Gouvernante (weinend). Lieber Engel, du bist doch ein
wahres Opferlamm.
Lena. Ja wohl — und der Priester hebt schon das Messer. — Mein
Gott, mein Gott, ist es denn wahr, dass wir uns selbst erlösen müssen mit
unserem Schmerz? Ist es denn wahr, die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die
Sonne seine Dornenkrone und die Sterne die Nägel und Speere in seinen Füßen und
Lenden?
Gouvernante. Mein Kind, mein Kind', ich kann dich nicht so
sehen. — Es kann nicht so gehen, es tötet dich. Vielleicht, wer weiß! Ich habe
so etwas im Kopf. Wir wollen sehen. Komm!
(Sie führt die Prinzessin weg).
Zum zweiten Akt von Leonce
und Lena
Leonce und Lena
ausdrucken
Kafka im Deutschunterricht
Balladen
Fabeln
Märchen
Gedichte
Quelle: Nachgelassene Schriften von Georg Büchner, Frankfurt am Main
1850
Texte für die Klasse 9, Klasse 10, Klasse 11 und Klasse 12.
Erzählungen, Texte von Georg Bücher für den Deutschunterricht.