1 Lenz - Erzählung / Novelle von Georg Büchner
Lenz. (Ausdrucken
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Ein Novellenfragment.
Den 20. ging Lenz durchs Gebirge. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee,
die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war
nasskalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die
Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue
Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer
und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter,
es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts.
Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopfe gehen konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so nass, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, dass er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse alles mit ein paar Schritten ausmessen können. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde, wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so dass ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriss und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen, wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen, und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten, riss es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloss die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig, als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorüber gezogen, er wusste von nichts mehr. Gegen Abend kam er auf die Höhe des Gebirges, auf das Schneefeld, von wo man wieder hinabstieg in die Ebene nach Westen, er setzte sich oben nieder.
Es war gegen Abend ruhiger geworden; das Gewölk lag fest und unbeweglich am Himmel; so weit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von denen sich breite Flächen hinabzogen, und alles so still, grau, dämmernd; es wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte nicht, er wagte kaum zu atmen, das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er musste sich niedersetzen; es fasste ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riss sich auf und flog den Abhang hinunter. Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in Eins. Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm. Endlich hörte er Stimmen, er sah Lichter, es wurde ihm leichter, man sagte ihm, er hätte noch eine halbe Stunde nach Waldbach. Er ging durch das Dorf, die Lichter schienen durch die Fenster, er sah hinein im Vorbeigehen, Kinder am Tische, alte Weiber, Mädchen, alles ruhige, stille Gesichter, es war ihm, als müsse das Licht von ihnen ausstrahlen, es ward ihm leicht, er war bald in Waldbach im Pfarrhause. Man saß am Tisch, er hinein; die blonden Locken hingen ihm um das bleiche Gesicht, es zuckte ihm in den Augen und um den Mund, seine Kleider waren zerrissen. Oberlin hieß ihn willkommen, er hielt ihn für einen Handwerker. „Sein Sie mir willkommen, obschon Sie mir unbekannt.“ – Ich bin ein Freund von ... ... und bringe Ihnen Grüße von ihm. – „Der Name, wenn's beliebt“ . . . – Lenz. – „Ha, ha, ha, ist er nicht gedruckt? Habe ich nicht einige Dramen gelesen, die einem Herrn dieses Namens zugeschrieben werden?“ – Ja, aber belieben Sie, mich nicht darnach zu beurteilen. – Man sprach weiter, er suchte nach Worten und erzählte rasch, aber auf der Folter; nach und nach wurde er ruhig durch das heimliche Zimmer und die stillen Gesichter, die aus dem Schatten hervortraten, das helle Kindergesicht, auf dem alles Licht zu ruhen schien und das neugierig, vertraulich aufschaute, bis zur Mutter, die hinten im Schatten engelgleich stille saß. Er fing an zu erzählen, von seiner Heimat; er zeichnete allerhand Trachten, man drängte sich teilnehmend um ihn, er war gleich zu Haus, ein blasses Kindergesicht, das jetzt lächelte, ein lebendiges Erzählen; er wurde ruhig, es war ihm als träten alte Gestalten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln, alte Lieder wachten auf, er war weg, weit weg. Endlich war es Zeit zum Gehen, man führte ihn über die Straße, das Pfarrhaus war zu eng, man gab ihm ein Zimmer im Schulhause. Er ging hinauf, es war kalt oben, eine weite Stube, leer, ein hohes Bett im Hintergrund; er stellte das Licht auf den Tisch, und ging auf und ab, er besann sich wieder auf den Tag, wie er hergekommen, wo er war, das Zimmer im Pfarrhause mit seinen Lichtern und lieben Gesichtern, es war ihm wie ein Schatten, ein Traum, und es wurde ihm leer, wieder wie auf dem Berg, aber er konnte es mit nichts mehr ausfüllen, das Licht war erloschen, die Finsternis verschlang Alles; eine unnennbare Angst erfasste ihn, er sprang auf, er lief durchs Zimmer, die Treppe hinunter, vors Haus; aber umsonst, Alles finster, nichts, er war sich selbst ein Traum, einzelne Gedanken huschten auf, er hielt sie fest, es war ihm als müsse er immer „Vater unser“ sagen; er konnte sich nicht mehr finden, ein dunkler Instinkt trieb ihn, sich zu retten, er stieß an die Steine, er riss sich mit den Nägeln; – der Schmerz fing an, ihm das Bewusstsein wiederzugeben, er stürzte sich in den Brunnenstein, aber das Wasser war nicht tief, er patschte darin. Da kamen Leute, man hatte es gehört, man rief ihm zu. Oberlin kam gelaufen; Lenz war wieder zu sich gekommen, das ganze Bewusstsein seiner Lage stand vor ihm, es war ihm wieder leicht. Jetzt schämte er sich und war betrübt, dass er den guten Leuten Angst gemacht; er sagte ihnen, dass er gewohnt sei, kalt zu baden, und ging wieder hinauf; die Erschöpfung ließ ihn endlich ruhen.
Den andern Tag ging es gut. Mit Oberlin zu Pferde durch das Tal: breite
Bergflächen, die aus großer Höhe sich in ein schmales, gewundenes Tal
zusammenzogen, das in mannigfachen Richtungen sich hoch an den Bergen hinaufzog;
große Felsenmassen, die sich nach unten ausbreiteten, wenig Wald, aber alles im
grauen, ernsten Anflug, eine Aussicht nach Westen in das Land hinein und auf die
Bergkette, die sich gerade hinunter nach Süden und Norden zog, und deren Gipfel
gewaltig, ernsthaft oder schweigend still, wie ein dämmernder Traum, standen.
Gewaltige Lichtmassen, die manchmal aus den Tälern, wie ein goldner Strom,
schwollen, dann wieder Gewölk, das an dem höchsten Gipfel lag und dann langsam
den Wald herab in das Tal klomm oder in den Sonnenblitzen sich wie ein
fliegendes, silbernes Gespenst herabsenkte und hob; kein Lärm, keine Bewegung,
kein Vogel, nichts als das bald nahe, bald ferne Wehen des Windes. Auch
erschienen Punkte, Gerippe von Hütten, Bretter mit Stroh gedeckt, von schwarzer,
ernster Farbe. Die Leute, schweigend und ernst, als wagten sie die Ruhe ihres
Tales nicht zu stören, grüßten ruhig, wie sie vorbeiritten. In den Hütten war es
lebendig, man drängte sich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rat, tröstete;
überall zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume, Ahnungen. Dann
rasch ins praktische Leben, Wege angelegt, Kanäle gegraben, die Schule besucht.
Oberlin war unermüdlich, Lenz fortwährend sein Begleiter, bald in Gespräch, bald
tätig am Geschäft, bald in die Natur versunken. Es wirkte. Alles wohltätig und
beruhigend auf ihn, er musste Oberlin oft in die Augen sehen, und die mächtige
Ruhe, die uns über der ruhenden Natur, im tiefen Wald, in mondhellen,
schmelzenden Sommernächten überfällt, schien ihm noch näher in diesem ruhigen
Auge, diesem ehrwürdigen ernsten Gesicht. Er war schüchtern; aber er machte
Bemerkungen, er sprach. Oberlin war ein Gespräch sehr angenehm, und das anmutige
Kindergesicht Lenzens machte ihm große Freude. Aber nur so lange das Licht im
Tale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn eine sonderbare Angst,
er hätte der Sonne nachlaufen mögen; wie die Gegenstände nach und nach
schattiger wurden, kam ihm alles so traumartig, so zuwider vor, es kam ihm die
Angst an wie Kindern, die im Dunkeln schlafen; es war ihm als sei er blind;
jetzt wuchs sie, der Alp des Wahnsinns setzte sich zu seinen Füßen, der
rettungslose Gedanke, als sei alles nur ein Traum, öffnete sich vor ihm, er
klammerte sich an alle Gegenstände; Gestalten zogen rasch an ihm vorbei, er
drängte sich an sie, es waren Schatten, das Leben wich aus ihm und seine Glieder
waren ganz starr. Er sprach, er sang, er rezitierte Stellen aus Shakespeare, er
griff nach allem, was sein Blut sonst hatte rascher fließen machen, er
versuchte. Alles, aber kalt, kalt. Er musste dann hinaus ins Freie – das wenige,
durch die Nacht zerstreute Licht, wenn seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt
waren, machte ihm besser; er stürzte sich in den Brunnen, die grelle Wirkung des
Wassers machte ihm besser, auch hatte er eine geheime Hoffnung auf eine
Krankheit; er verrichtete sein Bad jetzt mit weniger Geräusch. Doch je mehr er
sich in das Leben hineinlebte, ward er ruhiger, er unterstützte Oberlin,
zeichnete, las die Bibel; alte, vergangene Hoffnungen gingen in ihm auf; das
neue Testament trat ihm hier so entgegen, und eines Morgens ging er hinaus. Wie
Oberlin ihm erzählte, wie ihn eine unaufhaltsame Hand auf der Brücke gehalten
hätte, wie auf der Höhe ein Glanz seine Augen geblendet hätte, wie er eine
Stimme gehört hätte, wie es in der Nacht mit ihm gesprochen, und wie Gott so
ganz bei ihm eingekehrt, dass er kindlich seine Lose aus der Tasche holte, um zu
wissen, was er tun sollte – dieser Glaube, dieser ewige Himmel im Leben, dieses
Sein in Gott: jetzt erst ging ihm die heilige Schrift auf. Wie den Leuten die
Natur so nah trat, alles in himmlischen Mysterien! aber nicht gewaltsam
majestätisch, sondern noch vertraut! – Er ging des Morgens hinaus, die Nacht war
Schnee gefallen, im Tale lag heller Sonnenschein, aber weiterhin die Landschaft
halb im Nebel. Er kam bald vom Weg ab und eine sanfte Höhe hinauf, keine Spur
von Fußtritten mehr, neben einem Tannenwalde hin, die Sonne schnitt Kristalle,
der Schnee war leicht und flockig, hie und da Spur von Wild leicht auf dem
Schnee, die sich ins Gebirge hinzog. Keine Regung in der Luft, als ein leises
Wehen, als das Rauschen eines Vogels, der die Flocken leicht vom Schwanze
stäubte. Alles so still, und die Bäume weithin mit schwankenden weißen Federn in
der tiefblauen Luft. Es wurde ihm heimlich nach und nach, die einförmigen,
gewaltigen Flächen und Linien, vor denen es ihm manchmal war, als ob sie ihn mit
gewaltigen Tönen anredeten, waren verhüllt, ein heimliches Weihnachtsgefühl
beschlich ihn, er meinte manchmal, seine Mutter müsse hinter einem Baume
hervortreten, groß, und ihm sagen, sie hätte ihm dieses alles beschert; wie er
hinunterging, sah er, dass um seinen Schatten sich ein Regenbogen von Strahlen
legte, es wurde ihm, als hätte ihn was an der Stirn berührt, das Wesen sprach
ihn an. Er kam hinunter. Oberlin war im Zimmer, Lenz kam heiter auf ihn zu, und
sagte ihm, er möge wohl einmal predigen. „Sind Sie Theologe?“ – Ja! – „Gut,
nächsten Sonntag“
– Lenz ging vergnügt auf sein Zimmer, er dachte auf einen Text zum Predigen und
verfiel in Sinnen, und seine Nächte wurden ruhig. Der Sonntagmorgen kam, es war
Tauwetter eingefallen. Vorüberstreifende Wolken, Blau dazwischen, die Kirche lag
neben am Berge hinauf, auf einem Vorsprunge, der Kirchhof drum herum. Lenz stand
oben, als die Glocke läutete und die Kirchengänger, die Weiber und Mädchen in
ihrer ernsten schwarzen Tracht, das weiße gefaltete Schnupftuch auf dem
Gesangbuch und den Rosmarinzweig, von den verschiedenen Seiten die schmalen
Pfade zwischen den Felsen herauf- und herabkamen. Ein Sonnenblick lag manchmal
über dem Tal, die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft schwamm im Duft,
fernes Geläute, es war, als löste sich alles in eine harmonische Welle auf. Auf
dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles Moos unter den schwarzen
Kreuzen, ein verspäteter Rosenstrauch lehnte an der Kirchhofmauer, verspätete
Blumen dazu unter dem Moose hervor, manchmal Sonne, dann wieder dunkel. Die
Kirche fing an, die Menschen stimmen begegneten sich im reinen hellen Klang; ein
Eindruck, als schaue man in reines, durchsichtiges Bergwasser. Der Gesang
verhallte, Lenz sprach, er war schüchtern, unter den Tönen hatte sein
Starrkrampf sich ganz gelegt, ein ganzer Schmerz wachte jetzt auf und legte sich
in sein Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach
einfach mit den Leuten, sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn
er über einige müdgeweinte Augen Schlaf und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn
er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, diese dumpfen Leiden,
gen Himmel leiten konnte. Er war fester geworden, wie er schloss, da fingen die
Stimmen wieder an:
Lass in mir die heil'gen Schmerzen,
Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;
Leiden sei all' mein Gewinnst,
Leiden sei mein Gottesdienst.
Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz erschütterte ihn. Das All war für ihn
in Wunden; er fühlte tiefen unnennbaren Schmerz davon. Jetzt ein anderes Sein,
göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihm aus und sogen sich an seine
Lippen; er ging auf sein einsames Zimmer. Er war allein, allein! Da rauschte die
Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen, er krümmte sich in sich, es zuckten
eine Glieder, es war ihm, als müsse er sich auflösen, er konnte kein Ende finden
der Wollust; endlich dämmerte es in ihm, er empfand ein leises tiefes Mitleid
mit sich selbst, er weinte über sich, sein Haupt sank auf die Brust, er schlief
ein, der Vollmond stand am Himmel, die Locken fielen ihm über die Schläfe und
das Gesicht, die Tränen hingen ihm an den Wimpern und trockneten auf den Wangen
– so lag er nun da allein, und alles war ruhig und still und kalt, und der Mond
schien die ganze Nacht und stand über den Bergen. Am folgenden Morgen kam er
herunter, er erzählte Oberlin ganz ruhig, wie ihm die Nacht seine Mutter
erschienen sei; sie sei in einem weißen Kleid aus der dunkeln Kirchhofmauer
hervorgetreten, und habe eine weiße und eine rote Rose an der Brust stecken
gehabt; sie sei dann in eine Ecke gesunken, und die Rosen seien langsam über die
gewachsen, sie sei gewiss tot; er sei ganz ruhig darüber. Oberlin versetzte ihm
nun, wie er bei dem Tode seines Vaters allein auf dem Felde gewesen sei, und er
dann eine Stimme gehört habe, so dass er wusste, dass sein Vater tot sei! und
wie er heimgekommen, sei es so gewesen. Das führte sie weiter, Oberlin sprach
noch von den Leuten im Gebirge, von Mädchen, die das Wasser und Metall unter der
Erde fühlten, von Männern, die auf manchen Berghöhen angefasst würden und mit
einem Geiste rängen; er sagte ihm auch, wie er einmal im Gebirge durch das
Schauen in ein leeres tiefes Bergwasser in eine Art von Somnambulismus versetzt
worden sei. Lenz sagte, dass der Geist des Wassers über ihn gekommen sei, dass
er dann etwas von seinem eigentümlichen Sein empfunden hätte. Er fuhr weiter
fort: Die einfachste, reinste Natur hinge am nächsten mit der elementarischen
zusammen; je feiner der Mensch geistig fühlt und lebt, um so abgestumpfter würde
dieser elementarische Sinn; er halte ihn nicht für einen hohen Zustand, er sei
nicht selbstständig genug, aber er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl
sein, so von dem eigentümlichen Leben jeder Form berührt zu werden, für
Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen eine Seele zu haben, so traumartig jedes
Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen
des Mondes die Luft.
Er sprach sich selbst weiter aus, wie in allem eine unaussprechliche Harmonie,
ein Ton, eine Seligkeit sei, die in den höheren Formen mit mehr Organen aus sich
herausgriffe, tönte, auffasste und dafür aber auch um so tiefer affiziert würde;
wie in den niedrigen Formen. Alles zurückgedrängter, beschränkter, dafür aber
auch die Ruhe in sich größer sei. Er verfolgte das noch weiter. Oberlin brach es
ab, es führte ihn zu weit von seiner einfachen Art ab. Ein andermal zeigte ihm
Oberlin Farbentäfelchen, er setzte ihm auseinander, in welcher Beziehung jede
Farbe mit dem Menschen stände; er brachte zwölf Apostel heraus, deren jeder
durch eine Farbe repräsentiert würde. Lenz fasste das auf, er spann die Sache
weiter, kam in ängstliche Träume, fing an wie Stilling die Apokalypse zu lesen,
und las viel in der Bibel.
Um diese Zeit kam Kaufmann mit seiner Braut ins Steintal. Lenzen war anfangs das
Zusammentreffen unangenehm, er hatte sich so ein Plätzchen zurechtgemacht, das
bisschen Ruhe war ihm so kostbar, – und jetzt kam ihm jemand entgegen, der ihn
an so vieles erinnerte, mit dem er sprechen, reden musste, der seine
Verhältnisse kannte. Oberlin wusste von allem nichts; er hatte ihn aufgenommen,
gepflegt; er sah es als eine Schickung Gottes, der den Unglücklichen ihm
zugesandt hätte, er liebte ihn herzlich. Auch war es allen notwendig, dass er da
war, er gehörte zu ihnen, als wäre er schon längst da, und niemand frug, woher
er gekommen und wohin er gehen werde. Über Tisch war Lenz wieder in guter
Stimmung, man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete; die idealistische
Periode fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widersprach
heftig. Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit,
hätten auch keine Ahnung davon; doch seien sie immer noch erträglicher, als die,
welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt
wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres
klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich
verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir
haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist. Das Gefühl, dass
was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden und sei das einzige
Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegne es uns nur selten: in Shakespeare
finden wir es, und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Goethe manchmal
entgegen. Alles Übrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute können auch keinen
Hundsstall zeichnen. Da wollte man idealistische Gestalten, aber alles, was ich
davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste
Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal, und senke sich in das
Leben des Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem
ganzen seinen, kaum bemerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im
„Hofmeister“ und den „Soldaten.“ Es sind die prosaischsten Menschen unter der
Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich; nur ist die Hülle
mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muss. Man muss nur Aug und Ohren
dafür haben. Wie ich gestern neben am Tale hinaufging, sah ich auf einem Steine
zwei Mädchen sitzen, die eine band ihre Haare auf, die andere half ihr, das
goldne Haar hing herab, ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die
schwarze Tracht, und die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten
Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte manchmal
ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den
Leuten zurufen. Sie standen auf, die schöne Gruppe war zerstört; aber wie sie so
hinabstiegen, zwischen den Felsen, war es wieder ein anderes Bild. Die schönsten
Bilder, die schwelendsten Töne gruppieren, lösen sich auf. Nur eins bleibt, eine
unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andere tritt, ewig
aufgeblättert, verändert. Man kann sie aber freilich nicht immer festhalten und
in Museen stellen und auf Noten ziehen, und dann Alt und Jung herbeirufen, und
die Buben und Alten darüber radotieren und sich entzücken lassen. Man muss die
Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es darf
einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie
verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tieferen Eindruck, als die
bloße Empfindung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich heraustreten
lassen, ohne etwas vom Äußeren hinein zu kopieren, wo einem kein Leben, keine
Muskeln, kein Puls entgegenschwillt und pocht. Kaufmann warf ihm vor, dass er in
der Wirklichkeit doch keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine
Raphaelische Madonna finden würde. Was liegt daran, versetzte er, ich muss
gestehen, ich fühle mich dabei sehr tot. Wenn ich in mir arbeite, kann ich auch
wohl was dabei fühlen, aber ich tue das Beste daran. Der Dichter und Bildende
ist mir der Liebste, der mir die Natur am Wirklichsten gibt, so dass ich über
seinem Gebilde fühle; alles Übrige stört mich. Die holländischen Maler sind mir
lieber, als die italienischen, sie sind auch die einzigen fasslichen; ich kenne
nur zwei Bilder, und zwar von Niederländern, die mir einen Eindruck gemacht
hätten, wie das neue Testament; das Eine ist, ich weiß nicht von wem, Christus
und die Jünger von Emaus: Wenn man so liest, wie die Jünger hinausgingen, es
liegt gleich die ganze Natur in den paar Worten. Es ist ein trüber, dämmernder
Abend, ein einförmiger roter Streifen am Horizont, halbfinster auf der Straße,
da kommt ein Unbekannter zu ihnen, sie sprechen, er bricht das Brot, da erkennen
sie ihn, in einfach-menschlicher Art, und die göttlich-leidenden Züge reden
ihnen deutlich, und sie erschrecken, denn es ist finster geworden, und es tritt
sie etwas Unbegreifliches an, aber es ist kein gespenstisches Grauen, es ist,
wie wenn einem ein geliebter Toter in der Dämmerung in der alten Art
entgegenträte; so ist das Bild mit dem einförmigen, bräunlichen Ton darüber, dem
trüben stillen Abend. Dann ein anderes: Eine Frau sitzt in ihrer Kammer, das
Gebetbuch in der Hand. Es ist sonntäglich aufgeputzt, der Sand zerstreut, so
heimlich rein und warm. Die Frau hat nicht zur Kirche gekonnt und sie verrichtet
die Andacht zu Haus; das Fenster ist offen, sie sitzt darnach hingewandt, und es
ist, als schwebten zu dem Fenster über die weite ebne Landschaft die Glockentöne
von dem Dorfe herein und verhallt der Sang der nahen Gemeinde aus der Kirche
her, und die Frau liest den Text nach. – In der Art sprach Lenz weiter, man
horchte auf, es traf Vieles, er war rot geworden über den Reden, und bald
lächelnd, bald ernst, schüttelte er die blonden Locken. Er hatte sich ganz
vergessen. Nach dem Essen nahm ihn Kaufmann bei Seite. Er hatte Briefe von
Lenzens Vater erhalten, sein Sohn sollte zurück, ihn unterstützen. Kaufmann
sagte ihm, wie er sein Leben hier verschleudre, unnütz verliere, er solle sich
ein Ziel stecken und dergleichen mehr. Lenz fuhr ihn an: Hier weg, weg! nach
Haus? Toll werden dort? Du weißt, ich kann es nirgends aushalten, als da herum,
in der Gegend. Wenn ich nicht manchmal auf einen Berg könnte und die Gegend
sehen könnte, und dann wieder herunter ins Haus, durch den Garten gehn, und zum
Fenster hineinsehn, – ich würde toll! toll! Lasst mich doch in Ruhe! Nur ein
bisschen Ruhe jetzt, wo es mir ein wenig wohl wird! Weg? Ich verstehe das nicht,
mit den zwei Worten ist die Welt verhunzt. Jeder hat was nötig; wenn er ruhen
kann, was könnt' er mehr haben! Immer steigen, ringen und so in Ewigkeit. Alles,
was der Augenblick gibt, wegwerfen und immer darben, um einmal zu genießen!
Dürsten, während einem helle Quellen über den Weg springen! Es ist mir jetzt
erträglich, und da will ich bleiben; warum? warum? Eben weil es mir wohl ist;
was will mein Vater? Kann er mir geben? Unmöglich! Lasst mich in Ruhe. – Er
wurde heftig, Kaufmann ging, Lenz war verstimmt.
Am folgenden Tage wollte Kaufmann weg, er beredete Oberlin, mit ihm in die
Schweiz zu gehen. Der Wunsch, Lavater, den er längst durch Briefe kannte, auch
persönlich kennen zu lernen, bestimmte ihn. Er sagte es zu. Man musste einen Tag
länger wegen der Zurüstungen warten. Lenz fiel das aufs Herz, er hatte, um
seiner unendlichen Qual los zu werden, sich ängstlich an alles geklammert; er
fühlte in einzelnen Augenblicken tief, wie er sich alles nur zurecht mache; er
ging mit sich um wie mit einem kranken Kinde, manche Gedanken, mächtige Gefühle
wurde er nur mit der größten Angst los, da trieb es ihn wieder mit unendlicher
Gewalt darauf, er zitterte, das Haar sträubte ihm fast, bis er es in der
ungeheuersten Anspannung erschöpfte. Er rettete sich in eine Gestalt, die ihm
immer vor Augen schwebte, und in Oberlin; seine Worte, sein Gesicht taten ihm
unendlich wohl. So sah er mit Angst dessen Abreise entgegen.
Es war Lenzen unheimlich, jetzt allein im Hause zu bleiben. Das Wetter war milde
geworden, er beschloss, Oberlin zu begleiten, ins Gebirg. Auf der andern Seite,
wo die Täler in die Ebne ausliefen, trennten sie sich. Er ging allein zurück. Er
durchstrich das Gebirge in verschiedenen Richtungen, breite Flächen zogen sich
in die Täler herab, wenig Wald, nichts als gewaltige Linien und weiter hinaus
die weite, rauchende Ebne, in der Luft ein gewaltiges Wehen, nirgends eine Spur
von Menschen, als hie und da eine verlassene Hütte, wo die Hirten den Sommer
zubrachten, an den Abhängen gelehnt. Er wurde still, vielleicht fast träumend,
es verschmolz ihm alles in eine Linie, wie eine steigende und sinkende Welle,
zwischen Himmel und Erde, es war ihm als läge er an einem unendlichen Meer, das
leise auf und ab wogte. Manchmal saß er, dann ging er wieder, aber langsam
träumend. Er suchte keinen Weg. Es war finster Abend, als er an eine bewohnte
Hütte kam, im Abhange nach dem Steintal. Die Türe war verschlossen, er ging ans
Fenster, durch das ein Lichtschimmer fiel. Eine Lampe erhellte fast nur einen
Punkt, ihr Licht fiel auf das bleiche Gesicht eines Mädchens, das mit halb
geöffneten Augen, leise die Lippen bewegend, dahinter ruhte. Weiter weg im
Dunkel saß ein altes Weib, das mit schnarrender Stimme aus einem Gesangbuche
sang. Nach langem Klopfen öffnete sie; sie war halb taub, sie trug Lenz einiges
Essen auf und wies ihm eine Schlafstelle an, wobei sie beständig ihr Lied
fortsang. Das Mädchen hatte sich nicht gerührt. Einige Zeit darauf kam ein Mann
herein, er war lang und hager, Spuren von grauen Haaren, mit unruhigem,
verwirrtem Gesicht. Er trat zum Mädchen, sie zuckte auf und wurde unruhig. Er
nahm ein getrocknetes Kraut von der Wand und legte ihr die Blätter auf die Hand,
so dass sie ruhiger wurde und verständliche Worte in langsam ziehenden,
durchschneidenden Tönen summte. Er erzählte, wie er eine Stimme im Gebirge
gehört und dann über den Tälern ein Wetterleuchten gesehen habe, auch habe es
ihn angefassst, und er habe damit gerungen wie Jakob. Er warf sich nieder und
betete leise mit Inbrunst, während die Kranke in einem langsam ziehenden, leise
verhallenden Tone sang. Dann gab er sich zur Ruhe.
Lenz schlummerte träumend ein, und dann hörte er im Schlafe, wie die Uhr pickte.
Durch das leise Singen des Mädchens und die Stimme der Alten zugleich tönte das
Sausen des Windes bald näher, bald ferner, und der bald helle, bald verhüllte
Mond warf ein wechselndes Licht traumartig in die Stube. Einmal wurden die Töne
lauter, das Mädchen redete deutlich und bestimmt, sie sagte, wie auf der Klippe
gegenüber eine Kirche stehe. Lenz sah auf, und sie saß mit weit geöffneten Augen
aufrecht hinter dem Tisch, und der Mond warf ein stilles Licht auf ihre Züge,
von denen ein unheimlicher Glanz zu strahlen schien; zugleich schnarrte die
Alte, und über diesem Wechseln und Sinken des Lichts, den Tönen und Stimmen
schlief endlich Lenz tief ein.
Er erwachte früh, in der dämmernden Stube schlief alles, auch das Mädchen war
ruhig geworden, sie lag zurückgelehnt, die Hände gefaltet unter der linken
Wange; das Geisterhafte aus ihren Zügen war verschwunden, sie hatte jetzt einen
Ausdruck unbeschreiblichen Leidens. Er trat ans Fenster und öffnete es, die
kalte Morgenluft schlug ihm entgegen. Das Haus lag am Ende eines schmalen,
tiefen Tales, das sich nach Osten öffnete, rote Strahlen schossen durch den
grauen Morgenhimmel in das dämmernde Tal, das im weißen Rauch lag, und funkelten
am grauen Gestein und trafen in die Fenster der Hütten. Der Mann erwachte, seine
Augen trafen auf ein erleuchtet Bild an der Wand, die richteten sich fest und
starr darauf, nun fing er an die Lippen zu bewegen und betete leise, dann laut
und immer lauter. Indem kamen Leute zur Hütte herein, sie warfen sich schweigend
nieder. Das Mädchen lag in Zuckungen, die Alte schnarrte ihr Lied und plauderte
mit den Nachbarn. Die Leute erzählten Lenzen, der Mann sei vor langer Zeit in
die Gegend gekommen, man wisse nicht woher; er stehe im Ruf eines Heiligen, er
sehe das Wasser unter der Erde und könne Geister beschwören, und man wallfahre
zu ihm. Lenz erfuhr zugleich, dass er weiter vom Steintal abgekommen, er ging
weg mit einigen Holzhauern, die in die Gegend gingen. Es tat ihm wohl,
Gesellschaft zu finden; es war ihm jetzt unheimlich mit dem gewaltigen Menschen,
von dem es ihm manchmal war, als rede er in entsetzlichen Tönen. Auch fürchtete
er sich vor sich selbst in der Einsamkeit.
Er kam heim. Doch hatte die verflossene Nacht einen gewaltigen Eindruck auf ihn
gemacht. Die Welt war ihm helle gewesen, und er spürte an sich ein Regen und
Wimmeln nach einem Abgrunde, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt hinriss. Er
wühlte jetzt in sich. Er aß wenig; halbe Nächte im Gebet und fieberhaften
Träumen. Ein gewaltsames Drängen, und dann erschöpft zurückgeschlagen; er lag in
den heißesten Tränen, und dann bekam er plötzlich eine Stärke und erhob sich
kalt und gleichgültig, seine Tränen waren ihm dann wie Eis, er musste lachen. Je
höher er sich aufriss, desto tiefer stürzte er hinunter. Alles strömte wieder
zusammen. Ahnungen von seinem alten Zustande durchzuckten ihn und warfen
Streiflichter in das wüste Chaos seines Geistes. Des Tags saß er gewöhnlich
unten im Zimmer; Madame Oberlin ging ab und zu, er zeichnete, malte, las, griff
nach jeder Zerfreuung, Alles hastig von einem zum andern. Doch schloss er sich
jetzt besonders an Madame Oberlin an, wenn sie so dasaß, das schwarze
Gesangbuch vor sich, neben einer Pflanze, im Zimmer gezogen, das jüngste Kind
zwischen den Knien; auch machte er sich viel mit dem Kinde zu tun. So saß er
einmal, da wurde ihm ängstlich, er sprang auf, ging auf und ab. Die Türe halb
offen, da hörte er die Magd singen, erst unverständlich, dann kamen die Worte:
Auf dieser Welt hab' ich kein' Freud',
Ich hab' mein Schatz und der ist weit.
Das fiel auf ihn, er verging fast unter den Tönen. Madame Oberlin sah ihn an. Er
fasste sich ein Herz, er konnte nicht mehr schweigen, er musste davon sprechen.
„Beste Madame Oberlin, können Sie mir nicht sagen, was das Frauenzimmer macht,
dessen Schicksal mir so zentnerschwer auf dem Herzen liegt?“ – „Aber Herr Lenz,
ich weiß von nichts.“
– Er schwieg dann wieder und ging hastig im Zimmer auf und ab; dann fing er
wieder an: Sehen Sie, ich will gehen; Gott, Sie find noch die einzigen Menschen,
wo ich's aushalten könnte, und doch – doch, ich muss weg, zu ihr – aber ich kann
nicht, ich darf nicht. – Er war heftig bewegt und ging hinaus.
Gegen Abend kam Lenz wieder, es dämmerte in der Stube; er setzte sich neben
Madame Oberlin. „Sehen Sie,“ fing er wieder an, „wenn sie so durchs Zimmer ging
und so halb für sich allein sang, und jeder Tritt war eine Musik, es war so eine
Glückseligkeit in ihr, und das strömte in mich über, ich war immer ruhig, wenn
ich sie ansah, oder sie so den Kopf an mich lehnte, und Gott! Gott – ich war
schon lange nicht mehr ruhig. . . . Ganz Kind; es war, als wär' ihr die Welt zu
weit, sie zog sich so in sich zurück, sie suchte das engste Plätzchen im ganzen
Haus, und da saß sie, als wäre ihre ganze Seligkeit nur in einem kleinen Punkt,
und dann war mir's auch so; wie ein Kind hätte ich dann spielen können. Jetzt
ist es mir so eng, so eng, sehen Sie, es ist mir manchmal, als stieß ich mit den
Händen an den Himmel; o, ich ersticke! Es ist mir dabei oft, als fühlt' ich
physischen Schmerz, da in der linken Seite, im Arm, womit ich sie sonst fasste.
Doch kann ich fiel mir nicht mehr vorstellen, das Bild läuft mir fort, und dies
martert mich; nur wenn es mir manchmal ganz hell wird, so ist mir wieder recht
wohl.“ – Er sprach später noch oft mit Madame Oberlin davon, aber meist in
abgebrochenen Sätzen; sie wusste wenig zu antworten, doch tat es ihm wohl.
Unterdessen ging es fort mit seinen religiösen Quälereien. Je leerer, je kälter,
je sterbender er sich innerlich fühlte, desto mehr drängte es ihn, eine Glut in
sich zu wecken, es kamen ihm Erinnerungen an die Zeiten, wo alles in ihm sich
drängte, wo er unter all seinen Empfindungen keuchte; und jetzt so tot! Er
verzweifelte an sich selbst, dann warf er sich nieder, er rang die Hände, er
rührte. Alles in sich auf; aber tot! tot! Dann flehte er, Gott möge ein Zeichen
an ihm tun, dann wühlte er in sich, fastete, lag träumend am Boden. Am dritten
Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sei gestorben, er fasste es auf, wie eine
fixe Idee. Er zog sich in sein Zimmer und fastete einen Tag. Am vierten trat er
plötzlich ins Zimmer zu Madame Oberlin, er hatte sich das Gesicht mit Asche
beschmiert und forderte einen alten Sack; sie erschrak, man gab ihm, was er
verlangte. Er wickelte den Sack um sich, wie ein Büßender, und schlug den Weg
nach Fouday ein. Die Leute im Tale waren ihn schon gewohnt; man erzählte sich
allerlei Seltsames von ihm. Er kam ins Haus, wo das Kind lag. Die Leute gingen
gleichgültig ihrem Geschäfte nach; man wies ihm eine Kammer, das Kind lag im
Hemde auf Stroh, auf einem Holztisch.
Lenz schauderte, wie er die kalten Glieder berührte und die halbgeöffneten
gläsernen Augen sah. Das Kind kam ihm so verlassen vor, und er sich so allein
und einsam; er warf sich über die Leiche nieder; der Tod erschreckte ihn, ein
heftiger Schmerz fasste ihn an, diese Züge, dieses stille Gesicht sollten
verwesen, er warf sich nieder; er betete mit allem Jammer der Verzweiflung, dass
Gott ein Zeichen an ihm tue, und das Kind beleben möge, wie er schwach und
unglücklich sei; dann sank er ganz in sich und wühlte all' seinen Willen auf
einen Punkt; so saß er lange starr. Dann erhob er sich und fasste die Hände des
Kindes und sprach laut und fest: „Stehe auf und wandle!“ Aber die Wände halten
ihm nüchtern den Ton nach, dass es zu spotten schien, und die Leiche blieb kalt.
Da stürzte er halb wahnsinnig nieder, dann jagte es ihn auf, hinaus ins Gebirge.
Wolken zogen rasch über den Mond; bald alles im Finstern, bald zeigten sie die
nebelhaft verschwindende Landschaft im Mondschein. Er rannte auf und ab. In
seiner Brust war ein Triumphgesang der Hölle. Der Wind klang wie ein
Titanenlied, es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel
ballen und Gott herbeireißen und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er
die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien; er
schwur, er lästerte. So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse
Licht dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen lagen, und der Himmel war
ein dummes blaues Auge, und der Mond stand ganz lächerlich drin, einfältig. Lenz
musste laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und fasste ihn
ganz sicher und ruhig und fest. Er wuss te nicht mehr, was ihn vorhin so bewegt
hatte, es fror ihn, er dachte, er wolle jetzt zu Bette gehn, und er ging kalt
und unerschütterlich durch das unheimliche Dunkel, – es war ihm alles leer und
hohl, er musste laufen und ging zu Bette.
Am folgenden Tage befiel ihn ein großes Grauen vor seinem gestrigen Zustand, er
stand nun am Abgrunde, wo eine wahnsinnige Lust ihn trieb, immer wieder
hineinzuschauen und sich diese Qual zu wiederholen. Dann steigerte sich eine
Angst, die Sünde und der heilige Geist standen vor ihm. Einige Tage darauf kam
Oberlin aus der Schweiz zurück, viel früher, als man es erwartet hatte. Lenz war
darüber betroffen. Doch wurde er heiter, als Oberlin ihm von seinen Freunden im
Elsass erzählte. Oberlin ging dabei im Zimmer hin und her und packte aus, legte
hin. Dabei erzählte er von Pfeffel, das Leben eines Landgeistlichen glücklich
preisend. Dabei ermahnte er ihn, sich in den Wunsch seines Vaters zu fügen,
seinem Berufe gemäß zu leben, heimzukehren. Er sagte ihm: Ehre Vater und Mutter,
und dergleichen mehr. Über dem Gespräch geriet Lenz in heftige Unruhe; er stieß
tiefe Seufzer aus, Tränen drangen ihm aus den Augen, er sprach abgebrochen. Ja,
ich halt' es aber nicht aus; wollen Sie mich verstoßen? Nur in Ihnen ist der Weg
zu Gott. Doch mit mir ist's aus! Ich bin abgefallen, verdammt in Ewigkeit, ich
bin der ewige Jude*. Oberlin sagte ihm, dafür sei Jesus gestorben, er möge sich
brünstig an ihn wenden, und er würde Teil haben an einer Gnade. Lenz erhob das
Haupt, rang die Hände und sagte: Ach! ach! göttlicher Trost. Dann frug er
plötzlich freundlich, was das Frauenzimmer mache. Oberlin sagte, er wisse von
nichts, er wolle ihm aber in allem helfen und raten, er müsse ihm aber Ort,
Umstände und Person angeben. Er antwortete nichts, wie gebrochene Worte: ach sie
ist tot! Lebt sie noch? du Engel, sie liebte mich – ich liebte sie, sie war's
würdig, o du Engel! Verfluchte Eifersucht, ich habe sie aufgeopfert – sie liebte
noch einen andern – ich liebte sie, sie war's würdig, – o gute Mutter, auch die
liebte mich. Ich bin ein Mörder. Oberlin versetzte: vielleicht lebten alle diese
Personen noch, vielleicht vergnügt; es möge sein, wie es wolle, so könne und
werde Gott, wenn er sich zu ihm bekehrt haben würde, diesen Personen auf ein
Gebet und Tränen soviel Gutes erweisen, dass der Nutzen, den sie alsdann von ihm
hätten, den Schaden, den er ihnen zugefügt, vielleicht überwiegen würde. Er
wurde darauf nach und nach ruhiger und ging - wieder an sein Malen.
Den Nachmittag kam er wieder, auf der linken Schulter hatte er ein Stück Pelz
und in der Hand ein Bündel Gerten, die man Oberlin nebst einem Briefe für Lenz
mitgegeben hatte. Er reichte Oberlin die Gerten mit dem Begehren, er sollte ihn
damit schlagen. Oberlin nahm die Gerten aus seiner Hand, drückte ihm einige
Küsse auf den Mund und sagte: dies wären die Streiche, die er ihm zu geben
hätte, er möchte ruhig sein, seine Sache mit Gott allein ausmachen, alle
möglichen Schläge würden keine einzige seiner Sünden tilgen; dafür hätte Jesus
gesorgt, zu dem möchte er sich wenden. Er ging. Beim Nachtessen war er wie
gewöhnlich etwas tiefsinnig. Doch sprach er von allerlei, aber mit ängstlicher
Haft. Um Mitternacht wurde Oberlin durch ein Geräusch geweckt. Lenz rannte durch
den Hof, rief mit hohler, harter Stimme den Namen Friederike, mit äußerster
Schnelle, Verwirrung und Verzweiflung ausgesprochen, er stürzte sich dann in den
Brunnentrog, patschte darin, wieder heraus und herauf in sein Zimmer, wieder
herunter in den Trog, und so einige Mal, endlich wurde er still. Die Mägde, die
in der Kinderstube unter ihm schliefen, sagten, sie hätten oft, insonderheit
aber in selbiger Nacht, ein Brummen gehört, das sie mit nichts als mit dem Tone
einer Haberpfeife zu vergleichen wussten. Vielleicht war es ein Winseln, mit
hohler, fürchterlicher, verzweifelnder Stimme.
Am folgenden Morgen kam Lenz lange nicht. Endlich ging Oberlin hinauf in sein
Zimmer, er lag im Bett ruhig und unbeweglich. Oberlin musste lange fragen, ehe
er Antwort bekam; endlich sagte er: Ja, Herr Pfarrer, sehen Sie, die Langeweile!
die Langeweile! o! so langweilig, ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll,
ich habe schon alle Figuren auf die Wand gezeichnet. Oberlin sagte ihm, er möge
sich zu Gott wenden; da lachte er und sagte: ja wenn ich so glücklich wäre, wie
Sie, einen so behaglichen Zeitvertreib aufzufinden, ja man könnte sich die Zeit
schon so ausfüllen. Alles aus Müßiggang. Denn die meisten beten aus Langeweile,
die anderen verlieben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die
Vierten lasterhaft, und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal
umbringen: es ist zu langweilig:
O Gott! in Deines Lichtes Welle,
In Deines glüh'nden Mittags Helle,
Sind meine Augen wund gewacht.
Wird es denn niemals wieder Nacht?
Oberlin blickte ihn unwillig an und wollte gehen. Lenz huschte ihm nach und,
indem er ihn mit unheimlichen Augen ansah: Sehn Sie, jetzt kommt mir doch was
ein, wenn ich nur unterscheiden könnte, ob ich träume oder wache; sehn Sie, das
ist sehr wichtig, wir wollen es untersuchen, – er huschte dann wieder ins Bett.
Den Nachmittag wollte Oberlin in der Nähe einen Besuch machen; seine Frau war
schon fort; er war im Begriffe wegzugehen, als es an seine Türe klopfte, und
Lenz hereintrat mit vorwärts gebogenem Leib, niederwärts hängendem Haupt, das
Gesicht über und über und das Kleid hie und da mit Asche bestreut, mit der
rechten Hand den linken Arm haltend. Er bat Oberlin, ihm den Arm zu ziehen, er
hätte ihn verrenkt, er hätte sich zum Fenster heruntergestürzt; weil es aber
niemand gesehen, wolle er es auch niemand sagen. Oberlin erschrak heftig, doch
sagte er nichts, er tat, was Lenz begehrte; zugleich schrieb er an den
Schulmeister von Bellefosse, er möge herunterkommen, und gab ihm Instruktionen,
dann ritt er weg. Der Mann kam. Lenz hatte ihn schon oft gesehen und hatte sich
an ihn attachiert. Er tat, als hätte er mit Oberlin etwas reden wollen, wollte
dann wieder weg. Lenz bat ihn zu bleiben, und so blieben sie beisammen. Lenz
schlug noch einen Spaziergang nach Fouday vor. Er besuchte das Grab des Kindes,
das er hatte erwecken wollen, kniete zu verschiedenen Malen nieder, küsste die
Erde des Grabes, schien betend, doch mit großer Verwirrung, riss etwas von den
auf dem Grabe stehenden Blumen ab, als ein Andenken, ging wieder zurück nach
Waldbach, kehrte wieder um und Sebastian mit. Bald ging er langsam und klagte
über große Schwäche in den Gliedern, dann ging er mit verzweifelnder
Schnelligkeit; die Landschaft beängstigte ihn, sie war so eng, dass er an alles
zu stoßen fürchtete. Ein unbeschreibliches Gefühl des Missbehagens befiel ihn,
sein Begleiter ward ihm endlich lästig, auch mochte er seine Absicht erraten und
suchte ihn zu entfernen. Sebastian schien ihm nachzugeben, fand aber heimlich
Mittel, seinen Bruder von der Gefahr zu benachrichtigen, und nun hatte Lenz zwei
Aufseher, statt einen. Er zog sie weiter herum; endlich ging er nach Waldbach
zurück, und da sie nahe am Dorfe waren, kehrte er wie ein Blitz wieder um und
sprang wie ein Hirsch gen Fouday zurück. Indem sie ihn in Fouday suchten, kamen
zwei Krämer und erzählten ihnen, man hätte in einem Hause einen Fremden
gebunden, der sich für einen Mörder ausgäbe, der aber gewiss kein Mörder sein
könne. Sie liefen in dies Haus und fanden es so. Ein junger Mensch hatte ihn auf
ein ungestümes Drängen in der Angst gebunden. Sie banden ihn los und brachten
ihn glücklich nach Waldbach, wo Oberlin indessen mit seiner Frau zurückgekommen
war. Er sah verwirrt aus, da er aber merkte, dass er liebreich und freundlich
empfangen wurde, bekam er wieder Mut, sein Gesicht veränderte sich vorteilhaft,
er dankte seinen beiden Begleitern freundlich und zärtlich, und der Abend ging
ruhig herum. Oberlin bat ihn inständig, nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im
Bette zu bleiben, und wenn er nicht schlafen könne, sich mit Gott zu
unterhalten. Er versprach's und tat es so die folgende Nacht; die Mägde hörten
ihn fast die ganze Nacht hindurch beten. – “ Den folgenden Morgen kam er mit
vergnügter Miene auf Oberlins Zimmer. Nachdem sie verschiedenes gesprochen
hatten, sagte er mit ausnehmender Freundlichkeit: Liebster Herr Pfarrer, das
Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben, der Engel! –
„Woher wissen Sie das?“ – Hieroglyphen, Hieroglyphen – und dann zum Himmel
geschaut und wieder: ja gestorben – Hieroglyphen. – Es war dann nichts weiter
aus ihm zu bringen. Er setzte sich und schrieb einige Briefe, gab sie dann
Oberlin mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu setzen.
Siehe die Briefe. Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden. Alles,
was er an Ruhe aus der Nähe Oberlins und aus der Stille des Tales geschöpft
hatte, war weg; die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuern
Riss; er hatte keinen Hass, keine Liebe, keine Hoffnung – eine schreckliche
Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er hatte. Nichts. Was er
tat, tat er mit Bewusstsein, und doch zwang ihn ein innerlicher Instinkt. Wenn
er allein war, war es ihm so entsetzlich einsam, dass er beständig laut mit sich
redete, rief, und dann erschrak er wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde
Stimme mit ihm gesprochen. Im Gespräche stotterte er oft, eine unbeschreibliche
Angst befiel ihn, er hatte das Ende seines Satzes verloren; dann meinte er, er
müsse das zuletzt gesprochene Wort behalten und immer sprechen, nur mit großer
Anstrengung unterdrückte er diese Gelüste. Es bekümmerte die guten Leute tief,
wenn er manchmal in ruhigen Augenblicken bei ihnen saß und unbefangen sprach,
und er dann stotterte, und eine unaussprechliche Angst sich in seinen Zügen
malte, er die Personen, die ihm zunächst saßen, krampfhaft am Arme fasste und
erst nach und nach wieder zu sich kam. War er allein, oder las er, war's noch
ärger, all seine geistige Tätigkeit blieb manchmal in einem Gedanken hängen;
dachte er an eine fremde Person, oder stellte er sie sich lebhaft vor, so war es
ihm, als würde er sie selbst, er verwirrte sich selbst, und dabei hatte er einen
unendlichen Trieb, mit allem um ihn im Geiste willkürlich umzugehen; die Natur,
Menschen, nur Oberlin ausgenommen, – Alles traumartig, kalt; er amüsierte sich
die Häuser auf die Dächer zu stellen, die Menschen an - und auszukleiden, die
wahnwitzigsten Possen auszusinnen. Manchmal fühlte er einen unwiderstehlichen
Drang, das Ding, das er gerade im Sinne hatte, auszuführen, und dann schnitt er
entsetzliche Fratzen. Einst saß er neben Oberlin, die Katze lag gegenüber auf
einem Stuhl. Plötzlich wurden seine Augen starr, er hielt sie unverrückt auf das
Tier gerichtet; dann glitt er langsam den Stuhl hinunter, die Katze ebenfalls,
sie war wie bezaubert von seinem Blick, sie geriet in ungeheure Angst, sie
sträubte sich scheu, Lenz mit den nämlichen Tönen, mit fürchterlichem,
entstelltem Gesichte; wie in Verzweiflung stürzten. Beide aufeinander los, da
endlich erhob sich Madame Oberlin, um sie zu trennen. Dann war er wieder tief
beschämt. Die Zufälle des Nachts steigerten sich aufs Schrecklichste. Nur mit
der größten Mühe schlief er ein, während er zuvor noch die schreckliche Leere zu
füllen versucht hatte. Dann geriet er zwischen Schlaf und Wachen in einen
entsetzlichen Zustand; er stieß an etwas Grauenhaftes, Entsetzliches, der
Wahnsinn packte ihn, er fuhr mit fürchterlichem Schreien, in Schweiß gebadet,
auf, und erst nach und nach fand er sich wieder. Er musste dann mit den
einfachsten Dingen anfangen, um wieder zu sich zu kommen. Eigentlich nicht er
tat es, sondern ein mächtiger Erhaltungstrieb; es war als sei er doppelt, und
der eine Teil suche den andern zu retten, und riefe sich selbst zu; er erzählte,
er sagte in der heftigsten Angst Gedichte her, bis er wieder zu sich kam.
Auch bei Tage bekam er diese Zufälle, die waren dann noch schrecklicher; denn
sonst hatte ihn die Helle davor bewahrt. Es war ihm dann, als existiere er
allein, als bestände die Welt nur in seiner Einbildung, als sei nichts, als er;
er sei das ewig Verdammte, der Satan, allein mit seinen folternden
Vorstellungen. Er jagte mit rasender Schnelligkeit sein Leben durch, und dann
sagte er: konsequent, konsequent; wenn jemand etwas sprach: inkonsequent,
inkonsequent; es war die Kluft unrettbaren Wahnsinns, eines Wahnsinns durch die
Ewigkeit. Der Trieb der geistigen Erhaltung jagte ihn auf; er stürzte sich in
Oberlins Arme, er klammerte sich an ihn, als wolle er sich in ihn drängen; er
war das einzige Wesen, das für ihn lebte und durch den ihm wieder das Leben
offenbart wurde. Allmählich brachten ihn Oberlins Worte dann zu sich, er lag auf
den Knien vor Oberlin, seine Hände in den Händen Oberlins, sein mit kaltem
Schweiße bedecktes Gesicht auf dessen Schoß, am ganzen Leibe bebend und
zitternd. Oberlin empfand unendliches Mitleid, die Familie lag auf den Knien und
betete für den Unglücklichen, die Mägde flohen und hielten ihn für einen
Besessenen. Und wenn er ruhiger wurde, war es wie der Jammer eines Kindes, er
schluchzte, er empfand ein tiefes, tiefes Mitleid mit sich selbst; das waren
auch seine seligsten Augenblicke. Oberlin sprach von Gott. Lenz wand sich ruhig
los und sah ihn mit einem Ausdruck unendlichen Leidens an und sagte endlich:
aber ich, wär' ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, ich könnte das
Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten; ich will ja nichts als Ruhe,
Ruhe, nur ein wenig Ruhe, um schlafen zu können. Oberlin sagte, dies sei eine
Prosanation. Lenz schüttelte trostlos mit dem Kopf. Die halben Versuche zum
Entleiben, die er indes fortwährend machte, waren nicht ganz Ernst. Es war
weniger der Wunsch des Todes, – für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tode,
– es war mehr in Augenblicken der fürchterlichsten Angst oder der dumpfen, ans
Nichtsein grenzenden Ruhe ein Versuch, sich zu sich selbst zu bringen durch
physischen Schmerz. Augenblicke, worin sein Geist sonst auf irgendeiner
wahnwitzigen Idee zu reiten schien, waren noch die glücklichsten. Es war doch
ein wenig Ruhe, und sein wirrer Blick war nicht so entsetzlich, als die nach
Rettung dürstende Angst, die ewige Qual der Unruhe! Oft schlug er sich den Kopf
an die Wand, oder verursachte sich sonst einen heftigen physischen Schmerz.
Den 8. Morgens blieb er im Bette, Oberlin ging hinauf; er lag fast nackt auf dem
Bette und war heftig bewegt. Oberlin wollte ihn zudecken, er klagte aber sehr,
wie schwer alles sei, so schwer, er glaube gar nicht, dass er gehen könne, jetzt
endlich empfinde er die ungeheure Schwere der Luft. Oberlin sprach ihm Mut zu.
Er blieb aber in seiner frühern Lage und blieb den größten Teil des Tages so,
auch nahm er keine Nahrung zu sich. Gegen Abend wurde Oberlin zu einem Kranken
nach Bellefosse gerufen. Es war gelindes Wetter und Mondschein. Auf dem Rückwege
begegnete ihm Lenz. Er schien ganz vernünftig und sprach ruhig und freundlich
mit Oberlin. Der bat ihn nicht zurück zu gehen; er versprach's; im Weggehen
wandte er sich plötzlich um und trat wieder ganz nahe zu Oberlin und sagte
rasch: Sehen Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören müsste, mir
wäre geholfen. – „Was denn, mein Lieber?“ – Hören Sie denn nichts, hören Sie
denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die
man gewöhnlich die Stille heißt. Seitdem ich in dem stillen Tale bin, hör ich's
immer, es lässt mich nicht schlafen, ja Herr Pfarrer, wenn ich wieder einmal
schlafen könnte! Er ging dann kopfschüttelnd weiter. Oberlin ging zurück nach
Waldbach und wollte ihm jemand nachschicken, als er ihn die Stiege hinauf in
sein Zimmer gehen hörte. Einen Augenblick darauf platzte etwas im Hofe mit so
starkem Schalle, dass es Oberlin unmöglich von dem Falle eines Menschen
herzukommen schien. Die Kindsmagd kam todblass und ganz zitternd. . . . . .
Er saß mit kalter Resignation im Wagen, wie sie das Tal hervor nach Westen
fuhren. Es war ihm einerlei, wohin man ihn führte; mehrmals, wo der Wagen bei
dem schlechten Wege in Gefahr geriet, blieb er ganz ruhig sitzen; er war
vollkommen gleichgültig. In diesem Zustande legte er den Weg durchs Gebirge
zurück. Gegen Abend waren sie im Rheintale. Sie entfernten sich allmählich vom
Gebirge, das nun wie eine tiefblaue Kristallwelle sich in das Abendrot hob, und
auf deren warmer Flut die roten Strahlen des Abends spielten; über die Ebene hin
am Fuße des Gebirges lag ein schimmerndes, bläuliches Gespinst. Es wurde
finster, je mehr sie sich Straßburg näherten; hoher Vollmond, alle fernen
Gegenstände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie; die Erde war
wie ein goldener Pokal, über den schäumend die Goldwellen des Mondes liefen.
Lenz starrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang; nur wuchs eine dumpfe Angst
in ihm, je mehr die Gegenstände sich in der Finsternis verloren. Sie mussten
einkehren, da machte er wieder mehrere Versuche, Hand an sich zu legen, war aber
zu scharf bewacht. Am folgenden Morgen, bei trübem, regnerischem Wetter, traf er
in Straßburg ein. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er hat alles
wie es die andern taten; es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte
keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – –
So lebte er hin. . . . . . .
(Ausdrucken PDF)
*Eine Figur aus christlichen Volkssagen, die Jesus Christus auf dem Weg zur
Kreuzigung verspottet und dafür verflucht wird, durch die Welt zu wandern. Diese
Figur wurde immer wieder von Antisemiten verwendet, um Juden die Schuld am Tod
von Jesus Christus zu geben.
Kafka im Deutschunterricht
Balladen
Fabeln
Märchen
Gedichte
Quelle: Nachgelassene Schriften von Georg Büchner, Frankfurt am Main 1850
Texte für die Klasse 9, Klasse 10, Klasse 11 und Klasse 12.
Erzählungen, Texte von Georg Bücher für den Deutschunterricht.