Franz Kafka, Der Prozess Kapitel 10
Der Roman `Der Prozess` von Franz Kafka.
10. Kapitel
ZEHNTES KAPITEL
ENDE
Am Vorabend seines 31. Geburtstages – es war gegen 9 Uhr abends, die Zeit der
Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in K.s Wohnung. In Gehröcken, bleich
und fett, mit scheinbar unverrückbaren Zylinderhüten. Nach einer kleinen
Förmlichkeit bei der Wohnungstür wegen des ersten Eintretens wiederholte sich
die gleiche Förmlichkeit in größerem Umfange vor K.s Tür.
Ohne daß ihm der Besuch angekündigt gewesen wäre, saß K. gleichfalls schwarz angezogen in einem Sessel in der Nähe der Türe und zog langsam neue, scharf sich über die Finger spannende Handschuhe an, in der Haltung, wie man Gäste erwartet. Er stand gleich auf und sah die Herren neugierig an. „Sie sind also für mich bestimmt,“ fragte er. Die Herren nickten, einer zeigte mit dem Zylinderhut in der Hand auf den andern. K. gestand sich ein, daß er einen andern Besuch erwartet hatte. Er ging zum Fenster und sah noch einmal auf die dunkle Straße. Auch fast alle Fenster auf der andern Straßenseite waren noch dunkel, in vielen die Vorhänge herabgelassen. In einem beleuchteten Fenster des Stockwerkes spielten kleine Kinder hinter einem Gitter miteinander und tasteten, noch unfähig sich von ihren Plätzen fortzubewegen, mit den Händchen nach einander. „Alte untergeordnete Schauspieler schickt man um mich,“ sagte sich K. und sah sich um, um sich nochmals davon zu überzeugen. „Man sucht auf billige Weise mit mir fertig zu werden.“ K. wendete sich plötzlich ihnen zu und fragte: „An welchem Theater spielen Sie?“ „Theater?“ fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den andern um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem widerspenstigsten Organismus kämpft. „Sie sind nicht darauf vorbereitet, gefragt zu werden,“ sagte sich K. und ging seinen Hut holen.
Schon auf der Treppe wollten sich die Herren in K. einhängen, aber K. sagte:
„Erst auf der Gasse, ich bin nicht krank.“ Gleich aber vor dem Tor hängten sie
sich in ihn in einer Weise ein, wie K. noch niemals mit einem Menschen gegangen
war. Sie hielten die Schultern eng hinter den seinen, knickten die Arme nicht
ein, sondern benutzten sie, um K.s Arme in ihrer ganzen Länge zu umschlingen,
unten erfaßten sie K.s Hände mit einem schulmäßigen, eingeübten,
unwiderstehlichen Griff. K. ging straff gestreckt zwischen ihnen, sie bildeten
jetzt alle drei eine solche Einheit, daß, wenn man einen von ihnen zerschlagen
hätte, alle zerschlagen gewesen wären. Es war eine Einheit, wie sie fast nur
Lebloses bilden kann.
Unter den Laternen versuchte K. öfters, so schwer es
bei diesem engen Aneinander ausgeführt werden konnte, seine Begleiter deutlicher
zu sehn, als es in der Dämmerung seines Zimmers möglich gewesen war. Vielleicht
sind es Tenöre, dachte er im Anblick ihres schweren Doppelkinns. Er ekelte sich
vor der Reinlichkeit ihrer Gesichter. Man sah förmlich noch die säubernde Hand,
die in ihre Augenwinkel gefahren, die ihre Oberlippe gerieben, die die Falten am
Kinn ausgekratzt hatte.
Als K. das bemerkte, blieb er stehn, infolgedessen
blieben auch die andern stehn; sie waren auf dem Rand eines freien,
menschenleeren, mit Anlagen geschmückten Platzes. „Warum hat man gerade Sie
geschickt!“ rief er mehr als er fragte. Die Herren wußten scheinbar keine
Antwort, sie warteten mit dem hängenden freien Arm, wie Krankenwärter, wenn der
Kranke sich ausruhn will. „Ich gehe nicht weiter,“ sagte K. versuchsweise.
Darauf brauchten die Herren nicht zu antworten, es genügte, daß sie den Griff
nicht lockerten und K. von der Stelle wegzuheben versuchten, aber K. widerstand.
„Ich werde nicht mehr viel Kraft brauchen, ich werde jetzt alle anwenden,“
dachte er. Ihm fielen die Fliegen ein, die mit zerreißenden Beinchen von der
Leimrute wegstreben. „Die Herren werden schwere Arbeit haben.“
Da stieg vor
ihnen aus einer tiefer gelegenen Gasse auf einer kleinen Treppe Fräulein
Bürstner zum Platz empor. Es war nicht ganz sicher, ob sie es war, die
Ähnlichkeit war freilich groß. Aber K. lag auch nichts daran, ob es bestimmt
Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm gleich
zum Bewußtsein. Es war nichts Heldenhaftes, wenn er widerstand, wenn er jetzt
den Herren Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt in der Abwehr noch den
letzten Schein des Lebens zu genießen versuchte. Er setzte sich in Gang, und von
der Freude, die er dadurch den Herren machte, ging noch etwas auf ihm selbst
über. Sie duldeten es jetzt, daß er die Wegrichtung bestimmte und er bestimmte
sie nach dem Weg, den das Fräulein vor ihnen nahm, nicht etwa, weil er sie
einholen, nicht etwa, weil er sie möglichst lange sehen wollte, sondern nur
deshalb, um die Mahnung, die sie für ihn bedeutete, nicht zu vergessen. „Das
Einzige, was ich jetzt tun kann,“ sagte er sich und das Gleichmaß seiner
Schritte und der Schritte der beiden andern bestätigte seine Gedanken, „das
Einzige, was ich jetzt tue, ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand
behalten. Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und
überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig, soll ich nun
zeigen, daß nicht einmal der einjährige Prozeß mich belehren konnte? Soll ich
als ein begriffsstutziger Mensch abgehn? Soll man mir nachsagen dürfen, daß ich
am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte und jetzt an seinem Ende ihn wieder
beginnen will. Ich will nicht, daß man das sagt. Ich bin dankbar dafür, daß man
mir auf diesem Weg diese halbstummen verständnislosen Herren mitgegeben hat und
daß man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen.“
Das
Fräulein war inzwischen in eine Seitengasse eingebogen, aber K. konnte sie schon
entbehren und überließ sich seinen Begleitern. Alle drei zogen nun in vollem
Einverständnis über eine Brücke im Mondschein, jeder kleinen Bewegung, die K.
machte, gaben die Herren jetzt bereitwillig nach, als er ein wenig zum Geländer
sich wendete, drehten auch sie sich in ganzer Front dorthin. Das im Mondlicht
glänzende und zitternde Wasser teilte sich um eine kleine Insel, auf der wie
zusammengedrängt Laubmassen von Bäumen und Sträuchern sich aufhäuften. Unter
ihnen, jetzt unsichtbar, führten Kieswege mit bequemen Bänken, auf denen K. in
manchem Sommer sich gestreckt und gedehnt hatte. „Ich wollte ja gar nicht stehn
bleiben,“ sagte er zu seinen Begleitern, beschämt durch ihre Bereitwilligkeit.
Der Eine schien dem Andern hinter K.s Rücken einen sanften Vorwurf wegen des
mißverständlichen Stehenbleibens zu machen, dann gingen sie weiter. Sie
kamen durch einige ansteigende Gassen, in denen hie und da Polizisten standen
oder gingen; bald in der Ferne, bald in nächster Nähe. Einer mit buschigem
Schnurrbart, die Hand am Griff des Säbels, trat wie mit Absicht nahe an die
nicht ganz unverdächtige Gruppe. Die Herren stockten, der Polizeimann schien
schon den Mund zu öffnen, da zog K. mit Macht die Herren vorwärts. Öfters drehte
er sich vorsichtig um, ob der Polizeimann nicht folge; als sie aber eine Ecke
zwischen sich und dem Polizeimann hatten, fing K. zu laufen an, die Herren
mußten trotz großer Atemnot auch mit laufen.
So kamen sie rasch aus der
Stadt hinaus, die sich in dieser Richtung fast ohne Übergang an die Felder
anschloß. Ein kleiner Steinbruch, verlassen und öde, lag in der Nähe eines noch
ganz städtischen Hauses. Hier machten die Herren halt, sei es, daß dieser Ort
von allem Anfang an ihr Ziel gewesen war, sei es, daß sie zu erschöpft waren, um
noch weiter zu laufen. Jetzt ließen sie K. los, der stumm wartete, nahmen die
Zylinderhüte ab und wischten sich, während sie sich im Steinbruch umsahen, mit
den Taschentüchern den Schweiß von der Stirn. Überall lag der Mondschein mit
seiner Natürlichkeit und Ruhe, die keinem andern Licht gegeben ist.
Nach
Austausch einiger Höflichkeiten hinsichtlich dessen, wer die nächsten Aufgaben
auszuführen habe – die Herren schienen die Aufträge ungeteilt bekommen zu haben
– ging der Eine zu K. und zog ihm den Rock, die Weste und schließlich das Hemd
aus. K. fröstelte unwillkürlich, worauf ihm der Herr einen leichten beruhigenden
Schlag auf den Rücken gab. Dann legte er die Sachen sorgfältig zusammen, wie
Dinge, die man noch gebrauchen wird, wenn auch nicht in allernächster Zeit. Um
K. nicht ohne Bewegung der immerhin kühlen Nachtluft auszusetzen, nahm er ihn
unter den Arm und ging mit ihm ein wenig auf und ab, während der andere Herr den
Steinbruch nach irgendeiner passenden Stelle absuchte. Als er sie gefunden
hatte, winkte er und der andere Herr geleitete K. hin. Es war nahe der
Bruchwand, es lag dort ein losgebrochener Stein. Die Herren setzten K. auf die
Erde nieder, lehnten ihn an den Stein und betteten seinen Kopf obenauf. Trotz
aller Anstrengung, die sie sich gaben, und trotz alles Entgegenkommens, das
ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehr gezwungene und unglaubwürdige.
Der eine Herr bat daher den andern, ihm für ein Weilchen das Hinlegen K.s allein
zu überlassen, aber auch dadurch wurde es nicht besser. Schließlich ließen sie
K. in einer Lage, die nicht einmal die beste von den bereits erreichten Lagen
war. Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die
an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes beiderseitig
geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfen im Licht.
Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das
Messer dem andern, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wußte jetzt
genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand
über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht,
sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich
nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für
diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt
hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch
angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines
Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe,
beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer
war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer der helfen
wollte? War es ein Einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände,
die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar
unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo
war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem
er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.
Aber an K.s
Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm
ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie
die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinander gelehnt, die
Entscheidung beobachteten. „Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte die
Scham ihn überleben.
zu Franz Kafka
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Texte für die Klasse 7, Klasse 8, Klasse 9 und Klasse 10.
Der Prozess von Franz Kafka, Texte von Kafka zum Lesen und Bearbeiten im Deutschunterricht.