Franz Kafka, Der Prozess 1. Kapitel
Der Roman `Der Prozess` von Franz Kafka.
1. Kapitel
ERSTES KAPITEL
VERHAFTUNG • GESPRÄCH MIT FRAU GRUBACH • DANN FRÄULEIN BÜRSTNER
Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan
hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner
Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück
brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das ähnlich den Reiseanzügen mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne daß man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. „Wer sind Sie?“ fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen, und sagte bloß seinerseits: „Sie haben geläutet?“ „Anna soll mir das Frühstück bringen,“ sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber dieser setzte sich nicht allzu lange seinen Blicken aus, sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der offenbar knapp hinter der Tür stand, zu sagen: „Er will, daß Anna ihm das Frühstück bringt.“ Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Trotzdem der fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schon früher gewußt hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer Meldung: „Es ist unmöglich“. „Das wäre neu,“ sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch seine Hosen an. „Ich will doch sehn, was für Leute im Nebenzimmer sind und wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.“ Es fiel ihm zwar gleich ein, daß er das nicht hätte laut sagen müssen und daß er dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber es schien ihm jetzt nicht wichtig. Immerhin faßte es der Fremde so auf, denn er sagte:
„Wollen Sie nicht lieber hierbleiben?“ „Ich will weder hierbleiben, noch von
Ihnen angesprochen werden, solange Sie sich mir nicht vorstellen.“ „Es war gut
gemeint,“ sagte der Fremde und öffnete nun freiwillig die Tür. Im Nebenzimmer,
in das K. langsamer eintrat als er wollte, sah es auf den ersten Blick fast
genau so aus, wie am Abend vorher. Es war das Wohnzimmer der Frau Grubach,
vielleicht war in diesem mit Möbeln, Decken, Porzellan und Photographien
überfüllten Zimmer heute ein wenig mehr Raum als sonst, man erkannte das nicht
gleich, um so weniger, als die Hauptveränderung in der Anwesenheit eines Mannes
bestand, der beim offenen Fenster mit einem Buch saß, von dem er jetzt
aufblickte. „Sie hätten in Ihrem Zimmer bleiben sollen! Hat es Ihnen denn Franz
nicht gesagt?“ „Ja, was wollen Sie denn?“ sagte K. und sah von der neuen
Bekanntschaft zu dem mit Franz Benannten, der in der Tür stehengeblieben war,
und dann wieder zurück. Durch das offene Fenster erblickte man wieder die alte
Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden
Fenster getreten war, um auch weiterhin alles zu sehen. „Ich will doch Frau
Grubach –“, sagte K., machte eine Bewegung, als reiße er sich von den zwei
Männern los, die aber weit von ihm entfernt standen, und wollte weitergehn.
„Nein,“ sagte der Mann beim Fenster, warf das Buch auf ein Tischchen und stand
auf. „Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind ja gefangen.“ „Es sieht so aus,“ sagte
K. „Und warum denn?“ fragte er dann. „Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu
sagen. Gehn Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal
eingeleitet und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe über
meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber ich
hoffe, es hört es niemand sonst als Franz und der ist selbst gegen alle
Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben wie
bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein.“ K.
wollte sich setzen, aber nun sah er, daß im ganzen Zimmer keine Sitzgelegenheit
war, außer dem Sessel beim Fenster. „Sie werden noch einsehn, wie wahr das alles
ist,“ sagte Franz und ging gleichzeitig mit dem andern Mann auf ihn zu.
Besonders der letztere überragte K. bedeutend und klopfte ihm öfters auf die
Schulter. Beide prüften K.s Nachthemd und sagten, daß er jetzt ein viel
schlechteres Hemd werde anziehn müssen, daß sie aber dieses Hemd wie auch seine
übrige Wäsche aufbewahren und, wenn seine Sache günstig ausfallen sollte, ihm
wieder zurückgeben würden. „Es ist besser, Sie geben die Sachen uns als ins
Depot,“ sagten sie, „denn im Depot kommen öfters Unterschleife vor und außerdem
verkauft man dort alle Sachen nach einer gewissen Zeit ohne Rücksicht, ob das
betreffende Verfahren zu Ende ist oder nicht. Und wie lange dauern doch
derartige Prozesse besonders in letzter Zeit. Sie bekämen dann schließlich
allerdings vom Depot den Erlös, aber dieser Erlös ist erstens an sich schon
gering, denn beim Verkauf entscheidet nicht die Höhe des Angebotes, sondern die
Höhe der Bestechung, und weiter verringern sich solche Erlöse erfahrungsgemäß,
wenn sie von Hand zu Hand und von Jahr zu Jahr weitergegeben werden.“ K. achtete
auf diese Reden kaum, das Verfügungsrecht über seine Sachen, das er vielleicht
noch besaß, schätzte er nicht hoch ein, viel wichtiger war es ihm, Klarheit über
seine Lage zu bekommen; in Gegenwart dieser Leute konnte er aber nicht einmal
nachdenken, immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters – es konnten ja
nur Wächter sein – förmlich freundschaftlich an ihn, sah er aber auf, dann
erblickte er ein zu diesem dicken Körper gar nicht passendes trockenes,
knochiges Gesicht mit starker, seitlich gedrehter Nase, das sich über ihn hinweg
mit dem andern Wächter verständigte. Was waren denn das für Menschen? Wovon
sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem
Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer
wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen? Er neigte stets dazu, alles möglichst
leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben,
keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte. Hier schien
ihm das aber nicht richtig, man konnte zwar das Ganze als Spaß ansehn, als einen
groben Spaß, den ihm aus unbekannten Gründen, vielleicht weil heute sein
dreißigster Geburtstag war, die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten, es war
natürlich möglich, vielleicht brauchte er nur auf irgendeine Weise den Wächtern
ins Gesicht zu lachen, und sie würden mitlachen, vielleicht waren es
Dienstmänner von der Straßenecke, sie sahen ihnen nicht unähnlich – trotzdem war
er diesmal förmlich schon seit dem ersten Anblick des Wächters Franz
entschlossen, nicht den geringsten Vorteil, den er vielleicht gegenüber diesen
Leuten besaß, aus der Hand zu geben. Darin, daß man später sagen würde, er habe
keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr, wohl aber erinnerte er
sich – ohne daß es sonst seine Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfahrungen zu
lernen – an einige an sich unbedeutende Fälle, in denen er zum Unterschied von
seinen Freunden mit Bewußtsein, ohne das geringste Gefühl für die möglichen
Folgen sich unvorsichtig benommen hatte und dafür durch das Ergebnis gestraft
worden war. Es sollte nicht wieder geschehen, zumindest nicht diesmal; war es
eine Komödie, so wollte er mitspielen.
Noch war er frei. „Erlauben Sie,“
sagte er und ging eilig zwischen den Wächtern durch in sein Zimmer. „Er scheint
vernünftig zu sein,“ hörte er hinter sich sagen. In seinem Zimmer riß er gleich
die Schubladen des Schreibtischs auf, es lag dort alles in großer Ordnung, aber
gerade die Legitimationspapiere, die er suchte, konnte er in der Aufregung nicht
gleich finden. Schließlich fand er seine Radfahrlegitimation und wollte schon
mit ihr zu den Wächtern gehn, dann aber schien ihm das Papier zu geringfügig und
er suchte weiter, bis er den Geburtsschein fand. Als er wieder in das
Nebenzimmer zurückkam, öffnete sich gerade die gegenüberliegende Tür und Frau
Grubach wollte dort eintreten. Man sah sie nur einen Augenblick, denn kaum hatte
sie K. erkannt, als sie offenbar verlegen wurde, um Verzeihung bat, verschwand
und äußerst vorsichtig die Tür schloß. „Kommen Sie doch herein,“ hatte K. gerade
noch sagen können. Nun aber stand er mit seinen Papieren in der Mitte des
Zimmers, sah noch auf die Tür hin, die sich nicht wieder öffnete, und wurde erst
durch einen Anruf der Wächter aufgeschreckt, die bei dem Tischchen am offenen
Fenster saßen und, wie K. jetzt erkannte, sein Frühstück verzehrten. „Warum ist
sie nicht eingetreten?“ fragte er. „Sie darf nicht,“ sagte der große Wächter.
„Sie sind doch verhaftet.“ „Wie kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf diese
Weise?“ „Nun fangen Sie also wieder an,“ sagte der Wächter und tauchte ein
Butterbrot ins Honigfäßchen. „Solche Fragen beantworten wir nicht.“ „Sie werden
sie beantworten müssen,“ sagte K. „Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen
Sie mir jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.“ „Du lieber Himmel!“
sagte der Wächter, „daß Sie sich in Ihre Lage nicht fügen können und daß Sie es
darauf angelegt zu haben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlich von
allen Ihren Mitmenschen am nächsten stehn, nutzlos zu reizen.“ „Es ist so,
glauben Sie es doch,“ sagte Franz, führte die Kaffeetasse, die er in der Hand
hielt, nicht zum Mund, sondern sah K. mit einem langen, wahrscheinlich
bedeutungsvollen, aber unverständlichen Blick an. K. ließ sich, ohne es zu
wollen, in ein Zwiegespräch der Blicke mit Franz ein, schlug dann aber doch auf
seine Papiere und sagte: „Hier sind meine Legitimationspapiere.“ „Was kümmern
uns denn die?“ rief nun schon der große Wächter. „Sie führen sich ärger auf als
ein Kind. Was wollen Sie denn? Wollen Sie Ihren großen verfluchten Prozeß
dadurch zu einem raschen Ende bringen, daß Sie mit uns, den Wächtern, über
Legitimation und Verhaftbefehl diskutieren. Wir sind niedrige Angestellte, die
sich in einem Legitimationspapier kaum auskennen und die mit Ihrer Sache nichts
anderes zu tun haben, als daß sie zehn Stunden täglich bei Ihnen Wache halten
und dafür bezahlt werden. Das ist alles, was wir sind, trotzdem aber sind wir
fähig, einzusehen, daß die hohen Behörden, in deren Dienst wir stehn, ehe sie
eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung
und die Person des Verhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum. Unsere
Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht
doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz
heißt, von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz.
Wo gäbe es da einen Irrtum?“ „Dieses Gesetz kenne ich nicht,“ sagte K. „Desto
schlimmer für Sie,“ sagte der Wächter. „Es besteht wohl auch nur in Ihren
Köpfen,“ sagte K., er wollte sich irgendwie in die Gedanken der Wächter
einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort einbürgern. Aber der
Wächter sagte nur abweisend: „Sie werden es zu fühlen bekommen.“ Franz mischte
sich ein und sagte: „Sieh, Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht und
behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.“ „Du hast ganz recht, aber ihm kann
man nichts begreiflich machen,“ sagte der andere. K. antwortete nichts mehr; muß
ich, dachte er, durch das Geschwätz dieser niedrigsten Organe – sie geben selbst
zu, es zu sein – mich noch mehr verwirren lassen? Sie reden doch jedenfalls von
Dingen, die sie gar nicht verstehen. Ihre Sicherheit ist nur durch ihre Dummheit
möglich. Ein paar Worte, die ich mit einem mir ebenbürtigen Menschen sprechen
werde, werden alles unvergleichlich klarer machen als die längsten Reden mit
diesen. Er ging einige Male in dem freien Raum des Zimmers auf und ab, drüben
sah er die alte Frau, die einen noch viel ältern Greis zum Fenster gezerrt
hatte, den sie umschlungen hielt. K. mußte dieser Schaustellung ein Ende machen:
„Führen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten,“ sagte er. „Bis er es wünscht; nicht
früher,“ sagte der Wächter, der Willem genannt worden war. „Und nun rate ich
Ihnen,“ fügte er hinzu, „in Ihr Zimmer zu gehn, sich ruhig zu verhalten und
darauf zu warten, was über Sie verfügt werden wird. Wir raten Ihnen, zerstreuen
Sie sich nicht durch nutzlose Gedanken, sondern sammeln Sie sich, es werden
große Anforderungen an Sie gestellt werden. Sie haben uns nicht so behandelt,
wie es unser Entgegenkommen verdient hätte, Sie haben vergessen, daß wir, mögen
wir auch sein was immer, zumindest jetzt Ihnen gegenüber freie Männer sind, das
ist kein kleines Übergewicht. Trotzdem sind wir bereit, falls Sie Geld haben,
Ihnen ein kleines Frühstück aus dem Kaffeehaus drüben zu bringen.“
Ohne auf
dieses Angebot zu antworten, stand K. ein Weilchen lang still. Vielleicht würden
ihn die beiden, wenn er die Tür des folgenden Zimmers oder gar die Tür des
Vorzimmers öffnen würde, gar nicht zu hindern wagen, vielleicht wäre es die
einfachste Lösung des Ganzen, daß er es auf die Spitze trieb. Aber
vielleicht würden sie ihn doch packen, und war er einmal niedergeworfen, so war
auch alle Überlegenheit verloren, die er jetzt ihnen gegenüber in gewisser
Hinsicht doch wahrte. Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor, wie sie der
natürliche Verlauf bringen mußte, und ging in sein Zimmer zurück, ohne daß von
seiner Seite oder von Seite der Wächter ein weiteres Wort gefallen wäre.
Er
warf sich auf sein Bett und nahm vom Waschtisch einen schönen Apfel, den er sich
gestern abend für das Frühstück vorbereitet hatte. Jetzt war er sein einziges
Frühstück und jedenfalls, wie er sich beim ersten großen Bissen versicherte,
viel besser, als das Frühstück aus dem schmutzigen Nachtcafé gewesen wäre, das
er durch die Gnade der Wächter hätte bekommen können. Er fühlte sich wohl und
zuversichtlich, in der Bank versäumte er zwar heute vormittag seinen Dienst,
aber das war bei der verhältnismäßig hohen Stellung, die er dort einnahm, leicht
entschuldigt. Sollte er die wirkliche Entschuldigung anführen? Er gedachte es zu
tun. Würde man ihm nicht glauben, was in diesem Fall begreiflich war, so konnte
er Frau Grubach als Zeugin führen oder auch die beiden Alten von drüben, die
wohl jetzt auf dem Marsch zum gegenüberliegenden Fenster waren. Es wunderte K.,
wenigstens aus dem Gedankengang der Wächter wunderte es ihn, daß sie ihn in das
Zimmer getrieben und ihn hier allein gelassen hatten, wo er doch mehrfache
Möglichkeit hatte, sich umzubringen. Gleichzeitig allerdings fragte er sich, aus
seinem Gedankengang, was für einen Grund er haben könnte, es zu tun. Etwa, weil
die zwei nebenan saßen und sein Frühstück abgefangen hatten. Es wäre so sinnlos
gewesen sich umzubringen, daß er, selbst wenn er es hätte tun wollen, infolge
der Sinnlosigkeit dazu nicht imstande gewesen wäre. Wäre die geistige
Beschränktheit der Wächter nicht so auffallend gewesen, so hätte man annehmen
können, daß auch sie infolge der gleichen Überzeugung keine Gefahr darin gesehen
hätten, ihn allein zu lassen. Sie mochten jetzt, wenn sie wollten, zusehn, wie
er zu einem Wandschränkchen ging, in dem er einen guten Schnaps aufbewahrte, wie
er ein Gläschen zuerst zum Ersatz des Frühstücks leerte und wie er ein zweites
Gläschen dazu bestimmte, ihm Mut zu machen, das letztere nur aus Vorsicht für
den unwahrscheinlichen Fall, daß es nötig sein sollte.
Da erschreckte ihn
ein Zuruf aus dem Nebenzimmer derartig, daß er mit den Zähnen ans Glas schlug.
„Der Aufseher ruft Sie,“ hieß es. Es war nur das Schreien, das ihn erschreckte,
dieses kurze abgehackte militärische Schreien, das er dem Wächter Franz gar
nicht zugetraut hätte. Der Befehl selbst war ihm sehr willkommen, „endlich“,
rief er zurück, versperrte den Wandschrank und eilte sofort ins Nebenzimmer.
Dort standen die zwei Wächter und jagten ihn, als wäre das selbstverständlich,
wieder in sein Zimmer zurück. „Was fällt Euch ein?“ riefen sie, „im Hemd wollt
Ihr vor den Aufseher? Er läßt Euch durchprügeln und uns mit.“ „Laßt mich, zum
Teufel,“ rief K., der schon bis zu seinem Kleiderkasten zurückgedrängt war,
„wenn man mich im Bett überfällt, kann man nicht erwarten, mich im Festanzug zu
finden.“ „Es hilft nichts,“ sagten die Wächter, die immer, wenn K. schrie, ganz
ruhig, ja fast traurig wurden und ihn dadurch verwirrten oder gewissermaßen zur
Besinnung brachten. „Lächerliche Zeremonien!“ brummte er noch, hob aber schon
einen Rock vom Stuhl und hielt ihn ein Weilchen mit beiden Händen, als
unterbreite er ihn dem Urteil der Wächter. Sie schüttelten die Köpfe. „Es muß
ein schwarzer Rock sein,“ sagten sie. K. warf daraufhin den Rock zu Boden und
sagte – er wußte selbst nicht, in welchem Sinn er es sagte –: „Es ist doch noch
nicht die Hauptverhandlung.“ Die Wächter lächelten, blieben aber bei ihrem: „Es
muß ein schwarzer Rock sein.“ „Wenn ich dadurch die Sache beschleunige, soll es
mir recht sein,“ sagte K., öffnete selbst den Kleiderkasten, suchte lange unter
den vielen Kleidern, wählte sein bestes schwarzes Kleid, ein Jackettkleid, das
durch seine Taille unter den Bekannten fast Aufsehen gemacht hatte, zog nun auch
ein anderes Hemd hervor und begann sich sorgfältig anzuziehn. Im Geheimen
glaubte er eine Beschleunigung des Ganzen damit erreicht zu haben, daß die
Wächter vergessen hatten, ihn zum Bad zu zwingen. Er beobachtete sie, ob sie
sich vielleicht daran doch erinnern würden, aber das fiel ihnen natürlich gar
nicht ein, dagegen vergaß Willem nicht, Franz mit der Meldung, daß sich K.
anziehe, zum Aufseher zu schicken.
Als er vollständig angezogen war, mußte
er knapp vor Willem durch das leere Nebenzimmer in das folgende Zimmer gehn,
dessen Tür mit beiden Flügeln bereits geöffnet war. Dieses Zimmer wurde, wie K.
genau wußte, seit kurzer Zeit von einem Fräulein Bürstner, einer
Schreibmaschinistin, bewohnt, die sehr früh in die Arbeit zu gehen pflegte, spät
nach Hause kam und mit der K. nicht viel mehr als die Grußworte gewechselt
hatte. Jetzt war das Nachttischchen von ihrem Bett als Verhandlungstisch in die
Mitte des Zimmers gerückt und der Aufseher saß hinter ihm. Er hatte die Beine
übereinandergeschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhles gelegt.
In einer Ecke des Zimmers standen drei junge Leute und sahen die Photographien
des Fräulein Bürstner an, die in einer an der Wand aufgehängten Matte steckten.
An der Klinke des offenen Fensters hing eine weiße Bluse. Im gegenüberliegenden
Fenster lagen wieder die zwei Alten, doch hatte sich ihre Gesellschaft
vergrößert, denn hinter ihnen, sie weit überragend, stand ein Mann mit einem auf
der Brust offenen Hemd, der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte
und drehte. „Josef K.?“ fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.s zerstreute
Blicke auf sich zu lenken. K. nickte. „Sie sind durch die Vorgänge des heutigen
Morgens wohl sehr überrascht,“ fragte der Aufseher und verschob dabei mit beiden
Händen die paar Gegenstände, die auf dem Nachttischchen lagen, die Kerze mit
Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen, als seien es Gegenstände, die er zur
Verhandlung benötige. „Gewiß,“ sagte K. und das Wohlgefühl, endlich einem
vernünftigen Menschen gegenüberzustehen und über seine Angelegenheit mit ihm
sprechen zu können, ergriff ihn, „gewiß, ich bin überrascht, aber ich bin
keineswegs sehr überrascht.“ „Nicht sehr überrascht?“ fragte der Aufseher und
stellte nun die Kerze in die Mitte des Tischchens, während er die andern Sachen
um sie gruppierte. „Sie mißverstehen mich vielleicht,“ beeilte sich K. zu
bemerken. „Ich meine“ – Hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sessel
um. „Ich kann mich doch setzen?“ fragte er. „Es ist nicht üblich,“ antwortete
der Aufseher. „Ich meine,“ sagte nun K. ohne weitere Pause, „ich bin allerdings
sehr überrascht, aber man ist, wenn man 30 Jahre auf der Welt ist und sich
allein hat durchschlagen müssen, wie es mir beschieden war, gegen Überraschungen
abgehärtet und nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die heutige nicht.“ „Warum
besonders die heutige nicht?“ „Ich will nicht sagen, daß ich das Ganze für einen
Spaß ansehe, dafür scheinen mir die Veranstaltungen, die gemacht wurden, doch zu
umfangreich. Es müßten alle Mitglieder der Pension daran beteiligt sein und auch
Sie alle, das ginge über die Grenzen eines Spaßes. Ich will also nicht sagen,
daß es ein Spaß ist.“ „Ganz richtig,“ sagte der Aufseher und sah nach, wieviel
Zündhölzchen in der Zündhölzchenschachtel waren. „Andererseits aber,“ fuhr K.
fort und wandte sich hierbei an alle und hätte gern sogar die drei bei den
Photographien sich zugewendet, „andererseits aber kann die Sache auch nicht viel
Wichtigkeit haben. Ich folgere das daraus, daß ich angeklagt bin, aber nicht die
geringste Schuld auffinden kann, wegen deren man mich anklagen könnte. Aber auch
das ist nebensächlich, die Hauptfrage ist, von wem bin ich angeklagt? Welche
Behörde führt das Verfahren? Sind Sie Beamte? Keiner hat eine Uniform, wenn man
nicht Ihr Kleid – hier wandte er sich an Franz – eine Uniform nennen will, aber
es ist doch eher ein Reiseanzug. In diesen Fragen verlange ich Klarheit und ich
bin überzeugt, daß wir nach dieser Klarstellung voneinander den herzlichsten
Abschied werden nehmen können.“ Der Aufseher schlug die Zündhölzchenschachtel
auf den Tisch nieder. „Sie befinden sich in einem großen Irrtum,“ sagte er.
„Diese Herren hier und ich sind für Ihre Angelegenheit vollständig
nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast nichts. Wir könnten die
regelrechtesten Uniformen tragen und Ihre Sache würde um nichts schlechter
stehn. Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen, daß Sie angeklagt sind, oder
vielmehr ich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie sind verhaftet, das ist richtig,
mehr weiß ich nicht. Vielleicht haben die Wächter etwas anderes geschwätzt, dann
ist es eben nur Geschwätz gewesen. Wenn ich nun aber auch Ihre Fragen nicht
beantworte, so kann ich Ihnen doch raten, denken Sie weniger an uns und an das,
was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr an sich. Und machen Sie
keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld, es stört den nicht gerade
schlechten Eindruck, den Sie im übrigen machen. Auch sollten Sie überhaupt im
Reden zurückhaltender sein, fast alles, was Sie vorhin gesagt haben, hätte man
auch, wenn Sie nur ein paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen
können, außerdem war es nichts für Sie übermäßig Günstiges.“
K. starrte den
Aufseher an. Schulmäßige Lehren bekam er hier von einem vielleicht jüngeren
Menschen? Für seine Offenheit wurde er mit einer Rüge bestraft? Und über den
Grund seiner Verhaftung und über deren Auftraggeber erfuhr er nichts?
Er
geriet in eine gewisse Aufregung, ging auf und ab, woran ihn niemand hinderte,
schob seine Manschetten zurück, befühlte die Brust, strich sein Haar zurecht,
kam an den drei Herren vorüber, sagte, „es ist ja sinnlos“, worauf sich diese zu
ihm umdrehten und ihn entgegenkommend, aber ernst ansahen, und machte endlich
wieder vor dem Tisch des Aufsehers halt. „Der Staatsanwalt Hasterer ist mein
guter Freund,“ sagte er „kann ich ihm telephonieren?“ „Gewiß,“ sagte der
Aufseher, „aber ich weiß nicht, welchen Sinn das haben sollte, es müßte denn
sein, daß Sie irgendeine private Angelegenheit mit ihm zu besprechen haben.“
„Welchen Sinn?“ rief K., mehr bestürzt als geärgert. „Wer sind Sie denn? Sie
wollen einen Sinn und führen das Sinnloseste auf, was es gibt. Ist es nicht zum
Steinerweichen? Die Herren haben mich zuerst überfallen und jetzt sitzen oder
stehn sie hier herum und lassen mich vor Ihnen die hohe Schule reiten. Welchen
Sinn es hätte, an einen Staatsanwalt zu telephonieren, wenn ich angeblich
verhaftet bin? Gut, ich werde nicht telephonieren.“ „Aber doch,“ sagte der
Aufseher und streckte die Hand zum Vorzimmer aus, wo das Telephon war, „bitte
telephonieren Sie doch.“ „Nein, ich will nicht mehr,“ sagte K. und ging zum
Fenster. Drüben war noch die Gesellschaft beim Fenster und schien nur jetzt
dadurch, daß K. ans Fenster herangetreten war, in der Ruhe des Zuschauens ein
wenig gestört. Die Alten wollten sich erheben, aber der Mann hinter ihnen
beruhigte sie. „Dort sind auch solche Zuschauer,“ rief K. ganz laut dem Aufseher
zu und zeigte mit dem Zeigefinger hinaus. „Weg von dort,“ rief er dann hinüber.
Die drei wichen auch sofort ein paar Schritte zurück, die beiden Alten sogar
noch hinter den Mann, der sie mit seinem breiten Körper deckte und, nach seinen
Mundbewegungen zu schließen, irgend etwas auf die Entfernung hin
Unverständliches sagte. Ganz aber verschwanden sie nicht, sondern schienen auf
den Augenblick zu warten, bis sie sich unbemerkt wieder dem Fenster nähern
könnten. „Zudringliche, rücksichtslose Leute!“ sagte K., als er sich im Zimmer
zurückwendete. Der Aufseher stimmte ihm möglicherweise zu, wie K. mit einem
Seitenblick zu erkennen glaubte. Aber es war ebensogut möglich, daß er gar nicht
zugehört hatte, denn er hatte eine Hand fest auf den Tisch gedrückt und schien
die Finger ihrer Länge nach zu vergleichen. Die zwei Wächter saßen auf einen mit
einer Schmuckdecke verhüllten Koffer und rieben ihre Knie. Die drei jungen Leute
hatten die Hände in die Hüften gelegt und sahen ziellos herum. Es war still wie
in irgendeinem vergessenen Bureau. „Nun, meine Herren,“ rief K., es schien ihm
einen Augenblick lang, als trage er alle auf seinen Schultern, „Ihrem Aussehen
nach zu schließen, dürfte meine Angelegenheit beendet sein. Ich bin der Ansicht,
daß es am besten ist, über die Berechtigung oder Nichtberechtigung Ihres
Vorgehns nicht mehr nachzudenken und der Sache durch einen gegenseitigen
Händedruck einen versöhnlichen Abschluß zu geben. Wenn auch Sie meiner Ansicht
sind, dann bitte“ - und er trat an den Tisch des Aufsehers hin und reichte ihm
die Hand. Der Aufseher hob die Augen, nagte an den Lippen und sah auf K.s
ausgestreckte Hand, noch immer glaubte K., der Aufseher werde einschlagen.
Dieser aber stand auf, nahm einen harten runden Hut, der auf Fräulein Bürstners
Bett lag, und setzte sich ihn vorsichtig mit beiden Händen auf, wie man es bei
der Anprobe neuer Hüte tut. „Wie einfach Ihnen alles scheint!“ sagte er dabei zu
K., „wir sollten der Sache einen versöhnlichen Abschluß geben, meinten Sie?
Nein, nein, das geht wirklich nicht. Womit ich andererseits durchaus nicht sagen
will, daß Sie verzweifeln sollen. Nein, warum denn? Sie sind nur verhaftet,
nichts weiter. Das hatte ich Ihnen mitzuteilen, habe es getan und habe auch
gesehn, wie Sie es aufgenommen haben. Damit ist es für heute genug und wir
können uns verabschieden, allerdings nur vorläufig. Sie werden wohl jetzt in die
Bank gehn wollen?“ „In die Bank?“ fragte K., „ich dachte, ich wäre verhaftet.“
K. fragte mit einem gewissen Trotz, denn obwohl sein Handschlag nicht angenommen
worden war, fühlte er sich, insbesondere seitdem der Aufseher aufgestanden war,
immer unabhängiger von allen diesen Leuten. Er spielte mit ihnen. Er hatte die
Absicht, falls sie weggehn sollten, bis zum Haustor nachzulaufen und ihnen seine
Verhaftung anzubieten. Darum wiederholte er auch: „Wie kann ich denn in die Bank
gehn, da ich verhaftet bin?“ „Ach so,“ sagte der Aufseher, der schon bei der Tür
war, „Sie haben mich mißverstanden. Sie sind verhaftet, gewiß, aber das soll Sie
nicht hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen
Lebensweise nicht gehindert sein.“ „Dann ist das Verhaftetsein nicht sehr
schlimm,“ sagte K. und ging nahe an den Aufseher heran. „Ich meinte es niemals
anders,“ sagte dieser. „Es scheint aber dann nicht einmal die Mitteilung der
Verhaftung sehr notwendig gewesen zu sein,“ sagte K. und ging noch näher. Auch
die andern hatten sich genähert. Alle waren jetzt auf einem engen Raum bei der
Tür versammelt. „Es war meine Pflicht,“ sagte der Aufseher. „Eine dumme
Pflicht,“ sagte K. unnachgiebig. „Mag sein,“ antwortete der Aufseher, „aber wir
wollen mit solchen Reden nicht unsere Zeit verlieren. Ich hatte angenommen, daß
Sie in die Bank gehn wollen. Da Sie auf alle Worte aufpassen, füge ich hinzu:
ich zwinge Sie nicht in die Bank zu gehn, ich hatte nur angenommen, daß Sie es
wollen. Und um Ihnen das zu erleichtern, und Ihre Ankunft in der Bank möglichst
unauffällig zu machen, habe ich diese drei Herren, Ihre Kollegen, hier zu Ihrer
Verfügung gehalten.“ „Wie?“ rief K. und staunte die drei an. Diese so
uncharakteristischen blutarmen jungen Leute, die er immer noch nur als Gruppe
bei den Photographien in der Erinnerung hatte, waren tatsächlich Beamte aus
seiner Bank, nicht Kollegen, das war zu viel gesagt und bereits eine Lücke in
der Allwissenheit des Aufsehers, aber untergeordnete Beamte aus der Bank waren
es allerdings. Wie hatte K. das übersehen können? Wie hatte er doch hingenommen
sein müssen, von dem Aufseher und den Wächtern, um diese drei nicht zu erkennen.
Den steifen, die Hände schwingenden Rabensteiner, den blonden Kullich mit den
tiefliegenden Augen und Kaminer mit dem unausstehlichen, durch eine chronische
Muskelzerrung bewirkten Lächeln. „Guten Morgen!“ sagte K. nach einem Weilchen
und reichte den sich korrekt verbeugenden Herren die Hand. „Ich habe Sie gar
nicht erkannt. Nun werden wir also an die Arbeit gehn, nicht?“ Die Herren
nickten lachend und eifrig, als hätten sie die ganze Zeit über darauf gewartet,
nur als K. seinen Hut vermißte, der in seinem Zimmer liegen geblieben war,
liefen sie sämtlich hintereinander ihn holen, was immerhin auf eine gewisse
Verlegenheit schließen ließ. K. stand still und sah ihnen durch die zwei offenen
Türen nach, der letzte war natürlich der gleichgültige Rabensteiner, der bloß
einen eleganten Trab angeschlagen hatte. Kaminer überreichte den Hut und K.
mußte sich, wie dies übrigens auch öfters in der Bank nötig war, ausdrücklich
sagen, daß Kaminers Lächeln nicht Absicht war, ja daß er überhaupt absichtlich
nicht lächeln konnte. Im Vorzimmer öffnete dann Frau Grubach, die gar nicht sehr
schuldbewußt aussah, der ganzen Gesellschaft die Wohnungstür und K. sah, wie so
oft, auf ihr Schürzenband nieder, das so unnötig tief in ihren mächtigen Leib
einschnitt. Unten entschloß sich K., die Uhr in der Hand, ein Automobil zu
nehmen, um die schon halbstündige Verspätung nicht unnötig zu vergrößern.
Kaminer lief zur Ecke, um den Wagen zu holen, die zwei andern versuchten
offensichtlich K. zu zerstreuen, als plötzlich Kullich auf das gegenüberliegende
Haustor zeigte, in dem eben der große Mann mit dem blonden Spitzbart erschien
und im ersten Augenblick, ein wenig verlegen darüber, daß er sich jetzt in
seiner ganzen Größe zeigte, zur Wand zurücktrat und sich anlehnte. Die Alten
waren wohl noch auf der Treppe. K. ärgerte sich über Kullich, daß dieser auf den
Mann aufmerksam machte, den er selbst schon früher gesehen, ja den er sogar
erwartet hatte. „Schauen Sie nicht hin,“ stieß er hervor, ohne zu bemerken, wie
auffallend eine solche Redeweise gegenüber selbständigen Männern war. Es war
aber auch keine Erklärung nötig, denn gerade kam das Automobil, man setzte sich
und fuhr los. Da erinnerte sich K., daß er das Weggehen des Aufsehers und der
Wächter gar nicht bemerkt hatte, der Aufseher hatte ihm die drei Beamten
verdeckt und nun wieder die Beamten den Aufseher. Viel Geistesgegenwart bewies
das nicht, und K. nahm sich vor, sich in dieser Hinsicht genauer zu beobachten.
Doch drehte er sich noch unwillkürlich um und beugte sich über das Hinterdeck
des Automobils vor, um möglicherweise den Aufseher und die Wächter noch zu sehn.
Aber gleich wendete er sich wieder zurück, und lehnte sich bequem in die
Wagenecke ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, jemanden zu suchen.
Trotzdem es nicht den Anschein hatte, hätte er gerade jetzt Zuspruch nötig
gehabt, aber nun schienen die Herren ermüdet, Rabensteiner sah rechts aus dem
Wagen, Kullich links und nur Kaminer stand mit seinem Grinsen zur Verfügung,
über das einen Spaß zu machen leider die Menschlichkeit verbot.
In diesem
Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weise zu verbringen, daß er nach der
Arbeit, wenn dies noch möglich war – er saß meistens bis 9 Uhr im Bureau – einen
kleinen Spaziergang allein oder mit Beamten machte und dann in eine Bierstube
ging, wo er an einem Stammtisch mit meist ältern Herren gewöhnlich bis 11 Uhr
beisammen saß. Es gab aber auch Ausnahmen von dieser Einteilung, wenn K. z. B.
vom Bankdirektor, der seine Arbeitskraft und Vertrauenswürdigkeit sehr schätzte,
zu einer Autofahrt oder zu einem Abendessen in seiner Villa eingeladen wurde.
Außerdem ging K. einmal in der Woche zu einem Mädchen namens Elsa, die während
der Nacht bis in den späten Morgen als Kellnerin in einer Weinstube bediente und
während des Tages nur vom Bett aus Besuche empfing.
An diesem Abend aber –
der Tag war unter angestrengter Arbeit und vielen ehrenden und
freundschaftlichen Geburtstagswünschen schnell verlaufen – wollte K. sofort nach
Hause gehn. In allen kleinen Pausen der Tagesarbeit hatte er daran gedacht; ohne
genau zu wissen, was er meinte, schien es ihm, als ob durch die Vorfälle des
Morgens eine große Unordnung in der ganzen Wohnung der Frau Grubach verursacht
worden sei und daß gerade er nötig sei, um die Ordnung wiederherzustellen. War
aber einmal diese Ordnung hergestellt, dann war jede Spur jener Vorfälle
ausgelöscht und alles nahm seinen alten Gang wieder auf. Insbesondere von den
drei Beamten war nichts zu befürchten, sie waren wieder in die große
Beamtenschaft der Bank versenkt, es war keine Veränderung an ihnen zu bemerken.
K. hatte sie öfters einzeln und gemeinsam in sein Bureau berufen, zu keinem
andern Zweck, als um sie zu beobachten; immer hatte er sie befriedigt entlassen
können.
Als er um ½10 Uhr abends vor dem Hause, in dem er wohnte, ankam,
traf er im Haustor einen jungen Burschen, der dort breitbeinig stand und eine
Pfeife rauchte. „Wer sind Sie,“ fragte K. sofort und brachte sein Gesicht nahe
an den Burschen, man sah nicht viel im Halbdunkel des Flurs. „Ich bin der Sohn
des Hausmeisters, gnädiger Herr,“ antwortete der Bursche, nahm die Pfeife aus
dem Mund und trat zur Seite. „Der Sohn des Hausmeisters?“ fragte K. und klopfte
mit seinem Stock ungeduldig den Boden. „Wünscht der gnädige Herr etwas? Soll ich
den Vater holen?“ „Nein, nein,“ sagte K., in seiner Stimme lag etwas
Verzeihendes, als habe der Bursche etwas Böses ausgeführt, er aber verzeihe ihm.
„Es ist gut,“ sagte er dann und ging weiter, aber ehe er die Treppe hinaufstieg,
drehte er sich noch einmal um.
Er hätte geradewegs in sein Zimmer gehen
können, aber da er mit Frau Grubach sprechen wollte, klopfte er gleich an ihre
Türe an. Sie saß mit einem Strickstrumpf am Tisch, auf dem noch ein Haufen alter
Strümpfe lag. K. entschuldigte sich zerstreut, daß er so spät komme, aber Frau
Grubach war sehr freundlich und wollte keine Entschuldigung hören, für ihn sei
sie immer zu sprechen, er wisse sehr gut, daß er ihr bester und liebster Mieter
sei. K. sah sich im Zimmer um, es war wieder vollkommen in seinem alten Zustand,
das Frühstücksgeschirr, das früh auf dem Tischchen beim Fenster gestanden hatte,
war auch schon weggeräumt. Frauenhände bringen doch im Stillen viel fertig,
dachte er, er hätte das Geschirr vielleicht auf der Stelle zerschlagen, aber
gewiß nicht hinaustragen können. Er sah Frau Grubach mit einer gewissen
Dankbarkeit an. „Warum arbeiten Sie noch so spät,“ fragte er. Sie saßen nun
beide am Tisch und K. vergrub von Zeit zu Zeit seine Hand in die Strümpfe. „Es
gibt viel Arbeit,“ sagte sie, „während des Tages gehöre ich den Mietern; wenn
ich meine Sachen in Ordnung bringen will, bleiben mir nur die Abende.“ „Ich habe
Ihnen heute wohl noch eine außergewöhnliche Arbeit gemacht.“ „Wieso denn,“
fragte sie, etwas eifriger werdend, die Arbeit ruhte in ihrem Schoße. „Ich meine
die Männer, die heute früh hier waren.“ „Ach so,“ sagte sie und kehrte wieder in
ihre Ruhe zurück, „das hat mir keine besondere Arbeit gemacht.“ K. sah
schweigend zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vornahm. Sie scheint sich zu
wundern, daß ich davon spreche, dachte er, sie scheint es nicht für richtig zu
halten, daß ich davon spreche. Desto wichtiger ist es, daß ich es tue. Nur mit
einer alten Frau kann ich davon sprechen. „Doch, Arbeit hat es gewiß gemacht,“
sagte er dann, „aber es wird nicht wieder vorkommen.“ „Nein, das kann nicht
wieder vorkommen,“ sagte sie bekräftigend und lächelte K. fast wehmütig an.
„Meinen Sie das ernstlich?“ fragte K. „Ja“, sagte sie leiser, „aber vor allem
dürfen Sie es nicht zu schwer nehmen. Was geschieht nicht alles in der Welt! Da
Sie so vertraulich mit mir reden, Herr K., kann ich Ihnen ja eingestehen, daß
ich ein wenig hinter der Tür gehorcht habe und daß mir auch die beiden Wächter
einiges erzählt haben. Es handelt sich ja um Ihr Glück, und das liegt mir
wirklich am Herzen, mehr als mir vielleicht zusteht, denn ich bin ja bloß die
Vermieterin. Nun, ich habe also einiges gehört, aber ich kann nicht sagen, daß
es etwas besonders Schlimmes war. Nein. Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so
wie ein Dieb verhaftet wird. Wenn man wie ein Dieb verhaftet wird, so ist es
schlimm, aber diese Verhaftung –. Es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor,
entschuldigen Sie, wenn ich etwas Dummes sage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes
vor, das ich zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muß.“
„Es ist gar nichts Dummes, was Sie gesagt haben, Frau Grubach, wenigstens bin
auch ich zum Teil Ihrer Meinung, nur urteile ich über das Ganze noch schärfer
als Sie, und halte es einfach nicht einmal für etwas Gelehrtes, sondern
überhaupt für nichts. Ich wurde überrumpelt, das war es. Wäre ich gleich nach
dem Erwachen, ohne mich durch das Ausbleiben der Anna beirren zu lassen,
aufgestanden und ohne Rücksicht auf irgend jemand, der mir in den Weg getreten
wäre, zu Ihnen gegangen, hätte ich diesmal ausnahmsweise etwa in der Küche
gefrühstückt, hätte mir von Ihnen die Kleidungsstücke aus meinem Zimmer bringen
lassen, kurz, hätte ich vernünftig gehandelt, so wäre nichts weiter geschehen,
es wäre alles, was werden wollte, erstickt worden. Man ist aber so wenig
vorbereitet. In der Bank z. B. bin ich vorbereitet, dort könnte mir etwas
Derartiges unmöglich geschehn, ich habe dort einen eigenen Diener, das
allgemeine Telephon und das Bureautelephon stehn vor mir auf dem Tisch,
immerfort kommen Leute, Parteien und Beamte, außerdem aber und vor allem bin ich
dort immerfort im Zusammenhang der Arbeit, daher geistesgegenwärtig, es würde
mir geradezu ein Vergnügen machen, dort einer solchen Sache gegenübergestellt zu
werden. Nun, es ist vorüber und ich wollte eigentlich auch gar nicht mehr
darüber sprechen, nur Ihr Urteil, das Urteil einer vernünftigen Frau wollte ich
hören und bin sehr froh, daß wir darin übereinstimmen. Nun müssen Sie mir aber
die Hand reichen, eine solche Übereinstimmung muß durch Handschlag bekräftigt
werden.“
Ob sie mir die Hand reichen wird? Der Aufseher hat mir die Hand
nicht gereicht, dachte er und sah die Frau anders als früher, prüfend an. Sie
stand auf, weil auch er aufgestanden war, sie war ein wenig befangen, weil ihr
nicht alles, was K. gesagt hatte, verständlich gewesen war. Infolge dieser
Befangenheit sagte sie aber etwas, was sie gar nicht wollte und was auch gar
nicht am Platze war: „Nehmen Sie es doch nicht so schwer, Herr K.,“ sagte sie,
hatte Tränen in der Stimme und vergaß natürlich auch den Handschlag. „Ich wüßte
nicht, daß ich es schwer nehme,“ sagte K. plötzlich ermüdet und das Wertlose
aller Zustimmungen dieser Frau einsehend.
Bei der Tür fragte er noch: „Ist
Fräulein Bürstner zu Hause?“ „Nein,“ sagte Frau Grubach und lächelte bei dieser
trockenen Auskunft mit einer verspäteten vernünftigen Teilnahme. „Sie ist im
Theater. Wollten Sie etwas von ihr? Soll ich ihr etwas ausrichten?“ „Ach, ich
wollte nur ein paar Worte mit ihr reden.“ „Ich weiß leider nicht, wann sie
kommt; wenn sie im Theater ist, kommt sie gewöhnlich spät.“ „Das ist ja ganz
gleichgültig,“ sagte K. und drehte schon den gesenkten Kopf der Tür zu, um
wegzugehn, „ich wollte mich nur bei ihr entschuldigen, daß ich heute ihr Zimmer
in Anspruch genommen habe.“ „Das ist nicht nötig, Herr K., Sie sind zu
rücksichtsvoll, das Fräulein weiß ja von gar nichts, sie war seit dem frühen
Morgen noch nicht zu Hause, es ist auch schon alles in Ordnung gebracht, sehen
Sie selbst.“ Und sie öffnete die Tür zu Fräulein Bürstners Zimmer. „Danke, ich
glaube es,“ sagte K., ging dann aber doch zu der offenen Tür. Der Mond schien
still in das dunkle Zimmer. Soviel man sehen konnte, war wirklich alles an
seinem Platz, auch die Bluse hing nicht mehr an der Fensterklinke. Auffallend
hoch schienen die Polster im Bett, sie lagen zum Teil im Mondlicht. „Das
Fräulein kommt oft spät nach Hause,“ sagte K. und sah Frau Grubach an, als trage
sie die Verantwortung dafür. „Wie eben junge Leute sind!“ sagte Frau Grubach
entschuldigend. „Gewiß, gewiß,“ sagte K., „es kann aber zu weit gehen.“ „Das
kann es,“ sagte Frau Grubach, „wie sehr haben Sie recht, Herr K. Vielleicht
sogar in diesem Fall. Ich will Fräulein Bürstner gewiß nicht verleumden, sie ist
ein gutes liebes Mädchen, freundlich, ordentlich, pünktlich, arbeitsam, ich
schätze das alles sehr, aber eines ist wahr, sie sollte stolzer, zurückhaltender
sein. Ich habe sie in diesem Monat schon zweimal in entlegenen Straßen und immer
mit einem andern Herrn gesehn. Es ist mir sehr peinlich, ich erzähle es beim
wahrhaftigen Gott nur Ihnen, Herr K., aber es wird sich nicht vermeiden lassen,
daß ich auch mit dem Fräulein selbst darüber spreche. Es ist übrigens nicht das
einzige, das sie mir verdächtig macht.“ „Sie sind auf ganz falschem Weg,“ sagte
K. wütend und fast unfähig es zu verbergen, „übrigens haben Sie offenbar auch
meine Bemerkung über das Fräulein mißverstanden, so war es nicht gemeint. Ich
warne Sie sogar aufrichtig, dem Fräulein irgend etwas zu sagen, Sie sind
durchaus im Irrtum, ich kenne das Fräulein sehr gut, es ist nichts davon wahr,
was Sie sagten. Übrigens vielleicht gehe ich zu weit, ich will Sie nicht
hindern, sagen Sie ihr, was Sie wollen. Gute Nacht.“ „Herr K.,“ sagte Frau
Grubach bittend und eilte K. bis zu seiner Tür nach, die er schon geöffnet
hatte, „ich will ja noch gar nicht mit dem Fräulein reden, natürlich will ich
sie vorher noch weiter beobachten, nur Ihnen habe ich anvertraut, was ich wußte.
Schließlich muß es doch im Sinne jedes Mieters sein, wenn man die Pension rein
zu erhalten sucht, und nichts anderes ist mein Bestreben dabei.“ „Die Reinheit!“
rief K. noch durch die Spalte der Tür, „wenn Sie die Pension rein erhalten
wollen, müssen Sie zuerst mir kündigen.“ Dann schlug er die Tür zu, ein
leises Klopfen beachtete er nicht mehr.
Dagegen beschloß er, da er gar
keine Lust zum Schlafen hatte, noch wachzubleiben und bei dieser Gelegenheit
auch festzustellen, wann Fräulein Bürstner kommen würde. Vielleicht wäre es dann
auch möglich, so unpassend es sein mochte, noch ein paar Worte mit ihr zu reden.
Als er im Fenster lag und die müden Augen drückte, dachte er einen Augenblick
sogar daran, Frau Grubach zu bestrafen und Fräulein Bürstner zu überreden,
gemeinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber erschien ihm das entsetzlich
übertrieben und er hatte sogar den Verdacht gegen sich, daß er darauf ausging,
die Wohnung wegen der Vorfälle am Morgen zu wechseln. Nichts wäre unsinniger und
vor allem zweckloser und verächtlicher gewesen.
Als er des Hinausschauens
auf die leere Straße überdrüssig geworden war, legte er sich auf das Kanapee,
nachdem er die Tür zum Vorzimmer ein wenig geöffnet hatte, um jeden, der die
Wohnung betrat, gleich vom Kanapee aus sehen zu können. Etwa bis 11 Uhr lag er
ruhig, eine Zigarre rauchend, auf dem Kanapee. Von da ab hielt er es aber nicht
mehr dort aus, sondern ging ein wenig ins Vorzimmer, als könne er dadurch die
Ankunft des Fräulein Bürstner beschleunigen. Er hatte kein besonderes Verlangen
nach ihr, er konnte sich nicht einmal genau erinnern, wie sie aussah, aber nun
wollte er mit ihr reden und es reizte ihn, daß sie durch ihr spätes Kommen auch
noch in den Abschluß dieses Tages Unruhe und Unordnung brachte. Sie war auch
schuld daran, daß er heute nicht zu Abend gegessen und daß er den für heute
beabsichtigten Besuch bei Elsa unterlassen hatte. Beides konnte er allerdings
noch dadurch nachholen, daß er jetzt in das Weinlokal ging, in dem Elsa
bedienstet war. Er wollte es auch noch später nach der Unterredung mit Fräulein
Bürstner tun.
Es war ½12 vorüber, als jemand im Treppenhaus zu hören war.
K., der seinen Gedanken hingegeben im Vorzimmer so als wäre es sein eigenes
Zimmer laut auf und ab ging, flüchtete hinter seine Tür. Es war Fräulein
Bürstner, die gekommen war. Fröstelnd zog sie, während sie die Tür versperrte,
einen seidenen Schal um ihre schmalen Schultern zusammen. Im nächsten Augenblick
mußte sie in ihr Zimmer gehen, in das K. gewiß um Mitternacht nicht eindringen
durfte; er mußte sie also jetzt ansprechen, hatte aber unglücklicherweise
versäumt, das elektrische Licht in seinem Zimmer anzudrehen, so daß sein
Vortreten aus dem dunklen Zimmer den Anschein eines Überfalls hatte und
wenigstens sehr erschrecken mußte. In seiner Hilflosigkeit und da keine Zeit zu
verlieren war, flüsterte er durch den Türspalt: „Fräulein Bürstner.“ Es klang
wie eine Bitte, nicht wie ein Anruf. „Ist jemand hier,“ fragte Fräulein Bürstner
und sah sich mit großen Augen um. „Ich bin es,“ sagte K. und trat vor. „Ach,
Herr K.!“ sagte Fräulein Bürstner lächelnd. „Guten Abend“ und sie reichte ihm
die Hand. „Ich wollte ein paar Worte mit Ihnen sprechen, wollen Sie mir das
jetzt erlauben?“ „Jetzt?“ fragte Fräulein Bürstner, „muß es jetzt sein? Es ist
ein wenig sonderbar, nicht?“ „Ich warte seit 9 Uhr auf Sie.“ „Nun ja, ich war im
Theater, ich wußte doch nichts von Ihnen.“ „Der Anlaß für das, was ich Ihnen
sagen will, hat sich erst heute ergeben.“ „So, nun ich habe ja nichts
Grundsätzliches dagegen, außer daß ich zum Hinfallen müde bin. Also kommen Sie
auf ein paar Minuten in mein Zimmer. Hier könnten wir uns auf keinen Fall
unterhalten, wir wecken ja alle und das wäre mir unseretwegen noch unangenehmer
als der Leute wegen. Warten Sie hier, bis ich in meinem Zimmer angezündet habe,
und drehen Sie dann hier das Licht ab.“ K. tat so, wartete dann aber noch, bis
Fräulein Bürstner ihn aus ihrem Zimmer nochmals leise aufforderte zu kommen.
„Setzen Sie sich,“ sagte sie und zeigte auf die Ottomane, sie selbst blieb
aufrecht am Bettpfosten trotz der Müdigkeit, von der sie gesprochen hatte; nicht
einmal ihren kleinen, aber mit einer Überfülle von Blumen geschmückten Hut legte
sie ab. „Was wollten Sie also? Ich bin wirklich neugierig?“ Sie kreuzte leicht
die Beine. „Sie werden vielleicht sagen,“ begann K., „daß die Sache nicht so
dringend war, um jetzt besprochen zu werden, aber –“ „Einleitungen überhöre ich
immer,“ sagte Fräulein Bürstner. „Das erleichtert meine Aufgabe,“ sagte K. „Ihr
Zimmer ist heute früh, gewissermaßen durch meine Schuld, ein wenig in Unordnung
gebracht worden, es geschah durch fremde Leute gegen meinen Willen und doch wie
gesagt durch meine Schuld; dafür wollte ich um Entschuldigung bitten.“ „Mein
Zimmer?“ fragte Fräulein Bürstner, und sah statt des Zimmers K. prüfend an. „Es
ist so,“ sagte K., und nun sahen einander beide zum erstenmal in die Augen, „die
Art und Weise, in der es geschah, ist an sich keines Wortes wert.“ „Aber doch
das eigentlich Interessante,“ sagte Fräulein Bürstner. „Nein,“ sagte K. „Nun,“
sagte Fräulein Bürstner, „ich will mich nicht in Geheimnisse eindrängen,
bestehen Sie darauf, daß es uninteressant ist, so will ich auch nichts dagegen
einwenden. Die Entschuldigung, um die Sie bitten, gebe ich Ihnen hiermit gern,
besonders da ich keine Spur einer Unordnung finden kann.“ Sie machte, die
flachen Hände tief an die Hüften gelegt, einen Rundgang durch das Zimmer. Bei
der Matte mit den Photographien blieb sie stehen. „Sehen Sie doch,“ rief sie,
„meine Photographien sind wirklich durcheinandergeworfen. Das ist aber häßlich.
Es ist also jemand unberechtigterweise in meinem Zimmer gewesen.“ K. nickte und
verfluchte im stillen den Beamten Kaminer, der seine öde sinnlose Lebhaftigkeit
niemals zähmen konnte. „Es ist sonderbar,“ sagte Fräulein Bürstner, „daß ich
gezwungen bin, Ihnen etwas zu verbieten, was Sie sich selbst verbieten müßten,
nämlich in meiner Abwesenheit mein Zimmer zu betreten.“ „Ich erklärte Ihnen
doch, Fräulein,“ sagte K. und ging auch zu den Photographien, „daß nicht ich es
war, der sich an Ihren Photographien vergangen hat; aber da Sie mir nicht
glauben, so muß ich also eingestehen, daß die Untersuchungskommission drei
Bankbeamte mitgebracht hat, von denen der eine, den ich bei nächster Gelegenheit
aus der Bank hinausbefördern werde, die Photographien wahrscheinlich in die Hand
genommen hat.“ „Ja es war eine Untersuchungskommission hier,“ fügte K. hinzu, da
ihn das Fräulein mit einem fragenden Blick ansah. „Ihretwegen?“ fragte das
Fräulein. „Ja,“ antwortete K. „Nein,“ rief das Fräulein und lachte. „Doch,“
sagte K., „glauben Sie denn, daß ich schuldlos bin?“ „Nun, schuldlos,“ sagte das
Fräulein, „ich will nicht gleich ein vielleicht folgenschweres Urteil
aussprechen, auch kenne ich Sie doch nicht, immerhin, es muß doch schon ein
schwerer Verbrecher sein, dem man gleich eine Untersuchungskommission auf den
Leib schickt. Da Sie aber doch frei sind – ich schließe wenigstens aus Ihrer
Ruhe, daß Sie nicht aus dem Gefängnis entlaufen sind – so können Sie doch kein
solches Verbrechen begangen haben.“ „Ja,“ sagte K., „aber die
Untersuchungskommission kann doch eingesehen haben, daß ich unschuldig bin oder
doch nicht so schuldig, wie angenommen wurde.“ „Gewiß, das kann sein,“ sagte
Fräulein Bürstner sehr aufmerksam. „Sehen Sie,“ sagte K., „Sie haben nicht viel
Erfahrung in Gerichtssachen.“ „Nein, das habe ich nicht,“ sagte Fräulein
Bürstner „und habe es auch schon oft bedauert, denn ich möchte alles wissen, und
gerade Gerichtssachen interessieren mich ungemein. Das Gericht hat eine
eigentümliche Anziehungskraft, nicht? Aber ich werde in dieser Richtung meine
Kenntnisse sicher vervollständigen, denn ich trete nächsten Monat als
Kanzleikraft in ein Advokatenbureau ein.“ „Das ist sehr gut,“ sagte K., „Sie
werden mir dann in meinem Prozeß ein wenig helfen können.“ „Das könnte sein,“
sagte Fräulein Bürstner, „warum denn nicht? Ich verwende gern meine Kenntnisse.“
„Ich meine es auch im Ernst,“ sagte K., „oder zumindest in dem halben Ernst, in
dem Sie es meinen. Um einen Advokaten heranzuziehen, dazu ist die Sache doch zu
kleinlich, aber einen Ratgeber könnte ich gut brauchen.“ „Ja, aber wenn ich
Ratgeber sein soll, müßte ich wissen, worum es sich handelt,“ sagte Fräulein
Bürstner. „Das ist eben der Haken,“ sagte K., „das weiß ich selbst nicht.“ „Dann
haben Sie sich also einen Spaß aus mir gemacht,“ sagte Fräulein Bürstner
übermäßig enttäuscht, „es war höchst unnötig, sich diese späte Nachtzeit dazu
auszusuchen.“ Und sie ging von den Photographien weg, wo sie so lange vereinigt
gestanden hatten. „Aber mein Fräulein,“ sagte K., „ich mache keinen Spaß. Daß
Sie mir nicht glauben wollen! Was ich weiß, habe ich Ihnen schon gesagt. Sogar
mehr als ich weiß, denn es war gar keine Untersuchungskommission, ich nenne es
so, weil ich keinen andern Namen dafür weiß. Es wurde gar nichts untersucht, ich
wurde nur verhaftet, aber von einer Kommission.“ Fräulein Bürstner saß auf der
Ottomane und lachte wieder. „Wie war es denn?“ fragte sie. „Schrecklich“ sagte
K., aber er dachte jetzt gar nicht daran, sondern war ganz vom Anblick des
Fräulein Bürstner ergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stützte – der
Ellbogen ruhte auf dem Kissen der Ottomane – während die andere Hand langsam die
Hüfte strich. „Das ist zu allgemein,“ sagte Fräulein Bürstner. „Was ist zu
allgemein?“ fragte K. Dann erinnerte er sich und fragte: „Soll ich Ihnen zeigen,
wie es gewesen ist?“ Er wollte Bewegung machen und doch nicht weggehen. „Ich bin
schon müde,“ sagte Fräulein Bürstner. „Sie kamen so spät,“ sagte K. „Nun endet
es damit, daß ich Vorwürfe bekomme, es ist auch berechtigt, denn ich hätte Sie
nicht mehr hereinlassen sollen. Notwendig war es ja auch nicht, wie es sich
gezeigt hat.“ „Es war notwendig, daß werden Sie erst jetzt sehn,“ sagte K. „Darf
ich das Nachttischchen von ihrem Bett herrücken?“ „Was fällt Ihnen ein?“ sagte
Fräulein Bürstner, „das dürfen Sie natürlich nicht!“ „Dann kann ich es Ihnen
nicht zeigen,“ sagte K. aufgeregt, als füge man ihm dadurch einen unermeßlichen
Schaden zu. „Ja, wenn Sie es zur Darstellung brauchen, dann rücken Sie das
Tischchen nur ruhig fort,“ sagte Fräulein Bürstner und fügte nach einem Weilchen
mit schwächerer Stimme hinzu: „Ich bin so müde, daß ich mehr erlaube, als gut
ist.“ K. stellte das Tischchen in die Mitte des Zimmers und setzte sich
dahinter. „Sie müssen sich die Verteilung der Personen richtig vorstellen, es
ist sehr interessant. Ich bin der Aufseher, dort auf dem Koffer sitzen zwei
Wächter, bei den Photographien stehen drei junge Leute. An der Fensterklinke
hängt, was ich nur nebenbei erwähne, eine weiße Bluse. Und jetzt fängt es an.
Ja, ich vergesse mich, die wichtigste Person, also ich, stehe hier vor dem
Tischchen. Der Aufseher sitzt äußerst bequem, die Beine übereinander gelegt, den
Arm hier über die Lehne hinunterhängend, ein Lümmel sondergleichen. Und jetzt
fängt es also wirklich an. Der Aufseher ruft, als ob er mich wecken müßte, er
schreit geradezu, ich muß leider, wenn ich es Ihnen begreiflich machen will,
auch schreien, es ist übrigens nur mein Name, den er so schreit.“ Fräulein
Bürstner, die lachend zuhörte, legte den Zeigefinger an den Mund, um K. am
Schreien zu hindern, aber es war zu spät, K. war zu sehr in der Rolle, er rief
langsam: „Josef K.,“, übrigens nicht so laut wie er gedroht hatte, aber doch so,
daß sich der Ruf, nachdem er plötzlich ausgestoßen war, erst allmählich im
Zimmer zu verbreiten schien.
Da klopfte es an die Tür des Nebenzimmers
einigemal, stark, kurz und regelmäßig. Fräulein Bürstner erbleichte und legte
die Hand aufs Herz. K. erschrak deshalb besonders stark, weil er noch ein
Weilchen ganz unfähig gewesen war, an etwas anderes zu denken als an die
Vorfälle des Morgens und an das Mädchen, dem er sie vorführte. Kaum hatte er
sich gefaßt, sprang er zu Fräulein Bürstner und nahm ihre Hand. „Fürchten Sie
nichts,“ flüsterte er, „ich werde alles in Ordnung bringen. Wer kann es aber
sein? Hier nebenan ist doch nur das Wohnzimmer, in dem niemand schläft.“ „Doch,“
flüsterte Fräulein Bürstner an K.’s Ohr, „seit gestern schläft hier ein Neffe
von Frau Grubach, ein Hauptmann. Es ist gerade kein anderes Zimmer frei. Auch
ich habe daran vergessen. Daß Sie so schreien mußten! Ich bin unglücklich
darüber.“ „Dafür ist gar kein Grund,“ sagte K. und küßte, als sie jetzt auf das
Kissen zurücksank, ihre Stirn. „Weg, weg,“ sagte sie und richtete sich eilig
wieder auf, „gehn Sie doch, gehn Sie doch, was wollen Sie, er horcht doch an der
Tür, er hört doch alles. Wie Sie mich quälen!“ „Ich gehe nicht früher,“ sagte
K., „bis Sie ein wenig beruhigt sind. Kommen Sie in die andere Ecke des Zimmers,
dort kann er uns nicht hören.“ Sie ließ sich dorthin führen. „Sie überlegen
nicht,“ sagte er, „daß es sich zwar um eine Unannehmlichkeit für Sie handelt,
aber durchaus nicht um eine Gefahr. Sie wissen, wie mich Frau Grubach, die in
dieser Sache doch entscheidet, besonders da der Hauptmann ihr Neffe ist,
geradezu verehrt und alles, was ich sage, unbedingt glaubt. Sie ist auch im
übrigen von mir abhängig, denn sie hat eine größere Summe von mir geliehen.
Jeden Ihrer Vorschläge über eine Erklärung für unser Beisammen nehme ich an,
wenn es nur ein wenig zweckentsprechend ist, und verbürge mich, Frau Grubach
dazu zu bringen, die Erklärung nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern
wirklich und aufrichtig zu glauben. Mich müssen Sie dabei in keiner Weise
schonen. Wollen Sie verbreitet haben, daß ich Sie überfallen habe, so wird Frau
Grubach in diesem Sinne unterrichtet werden und wird es glauben, ohne das
Vertrauen zu mir zu verlieren, so sehr hängt sie an mir.“ Fräulein Bürstner sah,
still und ein wenig zusammengesunken, vor sich auf den Boden. „Warum sollte Frau
Grubach nicht glauben, daß ich Sie überfallen habe,“ fügte K. hinzu. Vor sich
sah er ihr Haar, geteiltes, niedrig gebauschtes, fest zusammengehaltenes,
rötliches Haar. Er glaubte, sie werde ihm den Blick zuwenden, aber sie sagte in
unveränderter Haltung: „Verzeihen Sie, ich bin durch das plötzliche Klopfen
erschreckt worden, nicht so sehr durch die Folgen, die die Anwesenheit des
Hauptmanns haben könnte. Es war so still nach Ihrem Schrei und da klopfte es,
deshalb bin ich so erschrocken, ich saß auch in der Nähe der Tür, es klopfte
fast neben mir. Für Ihre Vorschläge danke ich, aber ich nehme sie nicht an. Ich
kann für alles, was in meinem Zimmer geschieht, die Verantwortung tragen, und
zwar gegenüber jedem. Ich wundere mich, daß Sie nicht merken, was für eine
Beleidigung für mich in Ihren Vorschlägen liegt, neben den guten Absichten
natürlich, die ich gewiß anerkenne. Aber nun gehen Sie, lassen Sie mich allein,
ich habe es jetzt noch nötiger als früher. Aus den paar Minuten, um die Sie
gebeten haben, ist nun eine halbe Stunde und mehr geworden.“ K. faßte sie bei
der Hand und dann beim Handgelenk: „Sie sind mir aber nicht böse?“ sagte er. Sie
streifte seine Hand ab und antwortete: „Nein, nein, ich bin niemals und
niemandem böse.“ Er faßte wieder nach ihrem Handgelenk, sie duldete es jetzt und
führte ihn so zur Tür. Er war fest entschlossen, wegzugehen. Aber vor der Tür,
als hätte er nicht erwartet, hier eine Tür zu finden, stockte er, diesen
Augenblick benutzte Fräulein Bürstner, sich loszumachen, die Tür zu öffnen, ins
Vorzimmer zu schlüpfen und von dort aus K. leise zu sagen: „Nun kommen Sie doch,
bitte. Sehen Sie“ – sie zeigte auf die Tür des Hauptmanns, unter der ein
Lichtschein hervorkam – „er hat angezündet und unterhält sich über uns.“ „Ich
komme schon,“ sagte K., lief vor, faßte sie, küßte sie auf den Mund und dann
über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich
gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küßte er sie auf den Hals, wo die
Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen. Ein Geräusch aus dem
Zimmer des Hauptmanns ließ ihn aufschauen. „Jetzt werde ich gehn,“ sagte er, er
wollte Fräulein Bürstner beim Taufnamen nennen, wußte ihn aber nicht. Sie nickte
müde, überließ ihm schon halb abgewendet die Hand zum Küssen, als wisse sie
nichts davon und ging gebückt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag K. in seinem Bett.
Er schlief sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über
sein Verhalten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, daß er nicht
noch zufriedener war; wegen des Hauptmanns machte er sich für Fräulein Bürstner
ernstliche Sorgen.
zum 2. Kapitel
Balladen
Fabeln
Märchen
Gedichte
Texte für die Klasse 7, Klasse 8, Klasse 9 und Klasse 10.
Der Prozess von Franz Kafka, Texte von Kafka zum Lesen und Bearbeiten im Deutschunterricht.