Franz Kafka, Der Prozess 6. Kapitel
6. Kapitel
SECHSTES KAPITEL
DER ONKEL • LENI
Eines Nachmittags – K. war gerade vor dem Postabschluß sehr beschäftigt –
drängte sich zwischen zwei Dienern, die Schriftstücke hereintrugen, K.s Onkel
Karl, ein kleiner Grundbesitzer vom Lande, ins Zimmer. K. erschrak bei dem
Anblick weniger, als er schon vor längerer Zeit bei der Vorstellung vom Kommen
des Onkels erschrocken war. Der Onkel mußte kommen, das stand bei K. schon etwa
einen Monat lang fest. Schon damals hatte er ihn
zu sehen geglaubt, wie er, ein wenig gebückt, den eingedrückten Panamahut in der Linken, die Rechte schon von weitem ihm entgegenstreckte und sie mit rücksichtsloser Eile über den Schreibtisch hinreichte, alles umstoßend, was ihm im Wege war. Der Onkel befand sich immer in Eile, denn er war von dem unglücklichen Gedanken verfolgt, bei seinem immer nur eintägigen Aufenthalt in der Hauptstadt müsse er alles erledigen können, was er sich vorgenommen hatte, und dürfe überdies auch kein gelegentlich sich darbietendes Gespräch oder Geschäft oder Vergnügen sich entgehen lassen. Dabei mußte ihm K., der ihm als seinem gewesenen Vormund besonders verpflichtet war, in allem möglichen behilflich sein und ihn außerdem bei sich übernachten lassen. „Das Gespenst vom Lande“ pflegte er ihn zu nennen.
Gleich nach der Begrüßung – sich in den Fauteuil zu setzen, wozu ihm K. einlud,
hatte er keine Zeit – bat er K. um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. „Es ist
notwendig,“ sagte er, mühselig schluckend, „zu meiner Beruhigung ist es
notwendig.“ K. schickte sofort die Diener aus dem Zimmer mit der Weisung,
niemand einzulassen. „Was habe ich gehört, Josef?“ rief der Onkel, als sie
allein waren, setzte sich auf den Tisch und stopfte unter sich, ohne hinzusehn,
verschiedene Papiere unter sich, um besser zu sitzen. K. schwieg, er wußte, was
kommen würde, aber, plötzlich von der anstrengenden Arbeit entspannt, wie er
war, gab er sich zunächst einer angenehmen Mattigkeit hin und sah durch das
Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite, von der von seinem Sitz aus nur
ein kleiner dreieckiger Ausschnitt zu sehen war, ein Stück leerer Häusermauer,
zwischen zwei Geschäftsauslagen. „Du schaust aus dem Fenster,“ rief der Onkel
mit erhobenen Armen, „um Himmels willen, Josef, antworte mir doch. Ist es wahr,
kann es denn wahr sein?“ „Lieber Onkel,“ sagte K. und riß sich von seiner
Zerstreutheit los, „ich weiß ja gar nicht, was du von mir willst.“ „Josef,“
sagte der Onkel warnend, „die Wahrheit hast du immer gesagt, soviel ich weiß.
Soll ich deine letzten Worte als schlimmes Zeichen auffassen.“ „Ich ahne ja, was
du willst,“ sagte K. folgsam, „du hast wahrscheinlich von meinem Prozeß gehört.“
„So ist es,“ antwortete der Onkel, langsam nickend, „ich habe von deinem Prozeß
gehört.“ „Von wem denn?“ fragte K. „Erna hat es mir geschrieben,“ sagte der
Onkel, „sie hat ja keinen Verkehr mit dir, du kümmerst dich leider nicht viel um
sie, trotzdem hat sie es erfahren. Heute habe ich den Brief bekommen und bin
natürlich sofort hergefahren. Aus keinem andern Grund, aber es scheint ein
genügender Grund zu sein. Ich kann dir die Briefstelle, die dich betrifft,
vorlesen.“ Er zog den Brief aus der Brieftasche. „Hier ist es. Sie schreibt:
Josef habe ich schon lange nicht gesehn, vorige Woche war ich einmal in der
Bank, aber Josef war so beschäftigt, daß ich nicht vorgelassen wurde; ich habe
fast eine Stunde gewartet, mußte dann aber nach Hause, weil ich Klavierstunde
hatte. Ich hätte gern mit ihm gesprochen, vielleicht wird sich nächstens eine
Gelegenheit finden. Zu meinem Namenstag hat er mir eine große Schachtel
Schokolade geschickt, es war sehr lieb und aufmerksam. Ich hatte vergessen, es
Euch damals zu schreiben, erst jetzt, da Ihr mich fragt, erinnere ich mich
daran. Schokolade, müßt Ihr wissen, verschwindet nämlich in der Pension sofort,
kaum ist man zum Bewußtsein dessen gekommen, daß man mit Schokolade beschenkt
worden ist, ist sie auch schon weg. Aber was Josef betrifft, wollte ich Euch
noch etwas sagen. Wie erwähnt, wurde ich in der Bank nicht zu ihm vorgelassen,
weil er gerade mit einem Herrn verhandelte. Nachdem ich eine Zeitlang ruhig
gewartet hatte, fragte ich einen Diener, ob die Verhandlung noch lange dauern
werde. Er sagte, das dürfte wohl sein, denn es handle sich wahrscheinlich um den
Prozeß, der gegen den Herrn Prokuristen geführt werde. Ich fragte, was denn das
für ein Prozeß sei, ob er sich nicht irre, er aber sagte, er irre sich nicht, es
sei ein Prozeß, und zwar ein schwerer Prozeß, mehr aber wisse er nicht. Er
selbst möchte dem Herrn Prokuristen gerne helfen, denn dieser sei ein guter und
gerechter Herr, aber er wisse nicht, wie er es anfangen sollte, und er möchte
nur wünschen, daß sich einflußreiche Herren seiner annehmen würden. Dies werde
auch sicher geschehn und es werde schließlich ein gutes Ende nehmen, vorläufig
aber stehe es, wie er aus der Laune des Herrn Prokuristen entnehmen könne, gar
nicht gut. Ich legte diesen Reden natürlich nicht viel Bedeutung bei, suchte
auch den einfältigen Diener zu beruhigen, verbot ihm, andern gegenüber davon zu
sprechen und halte das Ganze für ein Geschwätz. Trotzdem wäre es vielleicht gut,
wenn Du, liebster Vater, bei Deinem nächsten Besuch der Sache nachgehn wolltest,
es wird Dir leicht sein, Genaueres zu erfahren und wenn es wirklich nötig sein
sollte, durch Deine großen einflußreichen Bekanntschaften einzugreifen. Sollte
es aber nicht nötig sein, was ja das Wahrscheinlichste ist, so wird es
wenigstens Deiner Tochter bald Gelegenheit geben, Dich zu umarmen, was sie
freuen würde.“ „Ein gutes Kind,“ sagte der Onkel, als er die Vorlesung beendet
hatte, und wischte einige Tränen aus den Augen fort. K. nickte, er hatte infolge
der verschiedenen Störungen der letzten Zeit Erna vollständig vergessen, sogar
ihren Geburtstag hatte er vergessen, und die Geschichte von der Schokolade war
offenbar nur zu dem Zweck erfunden, um ihn vor Onkel und Tante in Schutz zu
nehmen. Es war sehr rührend, und mit den Theaterkarten, die er ihr von jetzt ab
regelmäßig schicken wollte, gewiß nicht genügend belohnt, aber zu Besuchen in
der Pension und zu Unterhaltungen mit einer kleinen 18jährigen Gymnasiastin
fühlte er sich jetzt nicht geeignet. „Und was sagst du jetzt?“ fragte der Onkel,
der durch den Brief alle Eile und Aufregung vergessen hatte und ihn noch einmal
zu lesen schien. „Ja, Onkel,“ sagte K., „es ist wahr.“ „Wahr?“ rief der Onkel.
„Was ist wahr? Wie kann es denn wahr sein? Was für ein Prozeß? Doch nicht ein
Strafprozeß?“ „Ein Strafprozeß,“ antwortete K. „Und du sitzt ruhig hier und hast
einen Strafprozeß auf dem Halse?“ rief der Onkel, der immer lauter wurde. „Je
ruhiger ich bin, desto besser ist es für den Ausgang,“ sagte K. müde. „Fürchte
nichts.“ „Das kann mich nicht beruhigen,“ rief der Onkel, „Josef, lieber Josef,
denke an dich, an deine Verwandten, an unsern guten Namen. Du warst bisher
unsere Ehre, du darfst nicht unsere Schande werden. Deine Haltung,“ er sah K.
mit schief geneigtem Kopfe an, „gefällt mir nicht, so verhält sich kein
unschuldig Angeklagter, der noch bei Kräften ist. Sag mir nur schnell, um was es
sich handelt, damit ich dir helfen kann. Es handelt sich natürlich um die Bank?“
„Nein,“ sagte K. und stand auf, „du sprichst aber zu laut, lieber Onkel, der
Diener steht wahrscheinlich an der Tür und horcht. Das ist mir unangenehm. Wir
wollen lieber weggehn. Ich werde dir dann alle Fragen so gut es geht
beantworten. Ich weiß sehr gut, daß ich der Familie Rechenschaft schuldig bin.“
„Richtig,“ schrie der Onkel, „sehr richtig, beeile dich nur, Josef, beeile
dich.“ „Ich muß nur noch einige Aufträge geben,“ sagte K. und berief
telephonisch seinen Vertreter zu sich, der in wenigen Augenblicken eintrat. Der
Onkel in seiner Aufregung zeigte ihm mit der Hand, daß K. ihn habe rufen lassen,
woran auch sonst kein Zweifel gewesen wäre. K., der vor dem Schreibtisch stand,
erklärte dem jungen Mann, der kühl aber aufmerksam zuhörte, mit leiser Stimme
unter Zuhilfenahme verschiedener Schriftstücke, was in seiner Abwesenheit heute
noch erledigt werden müsse. Der Onkel störte, indem er zuerst mit großen Augen
und nervösem Lippenbeißen dabeistand, ohne allerdings zuzuhören, aber der
Anschein dessen war schon störend genug. Dann aber ging er im Zimmer auf und ab
und blieb hie und da vor dem Fenster oder vor einem Bild stehen, wobei er immer
in verschiedene Ausrufe ausbrach, wie: „Mir ist es vollständig unbegreiflich!“
oder „Jetzt sagt mir nur, was soll denn daraus werden“ oder „Jetzt sagt mir nur,
was soll denn daraus werden.“ Der junge Mann tat, als bemerke er nichts davon,
hörte ruhig K.s Aufträge bis zu Ende an, notierte sich auch einiges und ging,
nachdem er sich vor K. wie auch vor dem Onkel verneigt hatte, der ihm aber
gerade den Rücken zukehrte, aus dem Fenster sah und mit ausgestreckten Händen
die Vorhänge zusammenknüllte. Die Tür hatte sich noch kaum geschlossen, als der
Onkel ausrief: „Endlich ist der Hampelmann weggegangen, jetzt können doch auch
wir gehn. Endlich!“ Es gab leider kein Mittel, den Onkel zu bewegen, in der
Vorhalle, wo einige Beamte und Diener herumstanden und die gerade auch der
Direktor-Stellvertreter kreuzte, die Fragen wegen des Prozesses zu unterlassen.
„Also, Josef,“ begann der Onkel, während er die Verbeugungen der Umstehenden
durch leichtes Salutieren beantwortete, „jetzt sag’ mir offen, was es für ein
Prozeß ist.“ K. machte einige nichtssagende Bemerkungen, lachte auch ein wenig
und erst auf der Treppe erklärte er dem Onkel, daß er vor den Leuten nicht habe
offen reden wollen. „Richtig,“ sagte der Onkel, „aber jetzt rede.“ Mit geneigtem
Kopf, eine Zigarre in kurzen, eiligen Zügen rauchend, hörte er zu. „Vor allem,
Onkel,“ sagte K., „handelt es sich gar nicht um einen Prozeß vor dem
gewöhnlichen Gericht.“ „Das ist schlimm,“ sagte der Onkel. „Wie?“ sagte K. und
sah den Onkel an. „Daß das schlimm ist, meine ich,“ wiederholte der Onkel. Sie
standen auf der Freitreppe, die zur Straße führte; da der Portier zu horchen
schien, zog K. den Onkel hinunter; der lebhafte Straßenverkehr nahm sie auf. Der
Onkel, der sich in K. eingehängt hatte, fragte nicht mehr so dringend nach dem
Prozeß, sie gingen sogar eine Zeitlang schweigend weiter. „Wie ist es aber
geschehn?“ fragte endlich der Onkel, so plötzlich stehen bleibend, daß die
hinter ihm gehenden Leute erschreckt auswichen. „Solche Dinge kommen doch nicht
plötzlich, sie bereiten sich seit langem vor, es müssen Anzeichen gewesen sein,
warum hast du mir nicht geschrieben. Du weißt, daß ich für dich alles tue, ich
bin ja gewissermaßen noch dein Vormund und war bis heute stolz darauf. Ich werde
dir natürlich auch jetzt noch helfen, nur ist es jetzt, wenn der Prozeß schon im
Gange ist, sehr schwer. Am besten wäre es jedenfalls, wenn du dir jetzt einen
kleinen Urlaub nimmst und zu uns aufs Land kommst. Du bist auch ein wenig
abgemagert, jetzt merke ich es. Auf dem Land wirst du dich kräftigen, das wird
gut sein, es stehen dir ja gewiß Anstrengungen bevor. Außerdem aber wirst du
dadurch dem Gericht gewissermaßen entzogen sein. Hier haben sie alle möglichen
Machtmittel, die sie notwendigerweise automatisch auch dir gegenüber anwenden;
auf das Land müßten sie aber erst Organe delegieren oder nur brieflich,
telegraphisch, telephonisch auf dich einzuwirken suchen. Das schwächt natürlich
die Wirkung ab, befreit dich zwar nicht, aber läßt dich aufatmen.“ „Sie könnten
mir ja verbieten, wegzufahren,“ sagte K., den die Rede des Onkels ein wenig in
ihren Gedankengang gezogen hatte. „Ich glaube nicht, daß sie das tun werden,“
sagte der Onkel nachdenklich, „so groß ist der Verlust an Macht nicht, den sie
durch deine Abreise erleiden.“ „Ich dachte,“ sagte K. und faßte den Onkel unterm
Arm, um ihn am Stehenbleiben hindern zu können, „daß du dem Ganzen noch weniger
Bedeutung beimessen würdest als ich, und jetzt nimmst du es selbst so schwer.“
„Josef,“ rief der Onkel und wollte sich ihm entwinden, um stehn bleiben zu
können, aber K. ließ ihn nicht, „du bist verwandelt, du hattest doch immer ein
so richtiges Auffassungsvermögen und gerade jetzt verläßt es dich? Willst du
denn den Prozeß verlieren? Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, daß du
einfach gestrichen wirst. Und daß die ganze Verwandtschaft mitgerissen oder
wenigstens bis auf den Boden gedemütigt wird. Josef, nimm dich doch zusammen.
Deine Gleichgültigkeit bringt mich um den Verstand. Wenn man dich ansieht,
möchte man fast dem Sprichwort glauben: „Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn
schon verloren haben.“ „Lieber Onkel,“ sagte K., „die Aufregung ist so unnütz,
sie ist es auf deiner Seite und wäre es auch auf meiner. Mit Aufregung gewinnt
man die Prozesse nicht, laß auch meine praktischen Erfahrungen ein wenig gelten,
so wie ich deine, selbst wenn sie mich überraschen, immer und auch jetzt sehr
achte. Da du sagst, daß auch die Familie durch den Prozeß in Mitleidenschaft
gezogen würde, – was ich für meinen Teil durchaus nicht begreifen kann, das ist
aber Nebensache – so will ich dir gerne in allem folgen. Nur den Landaufenthalt
halte ich selbst in deinem Sinn nicht für vorteilhaft, denn das würde Flucht und
Schuldbewußtsein bedeuten. Überdies bin ich hier zwar mehr verfolgt, kann aber
auch selbst die Sache mehr betreiben.“ „Richtig,“ sagte der Onkel in einem Ton,
als kämen sie jetzt endlich einander näher, „ich machte den Vorschlag nur, weil
ich, wenn du hier bliebst, die Sache von deiner Gleichgültigkeit gefährdet sah
und es für besser hielt, wenn ich statt deiner für dich arbeitete. Willst
du sie aber mit aller Kraft selbst betreiben, so ist es natürlich weit besser.“
„Darin wären wir also einig,“ sagte K. „Und hast du jetzt einen Vorschlag dafür,
was ich zunächst machen soll?“ „Ich muß mir natürlich die Sache noch überlegen,“
sagte der Onkel, „du mußt bedenken, daß ich jetzt schon 20 Jahre fast
ununterbrochen auf dem Lande bin, dabei läßt der Spürsinn in diesen Richtungen
nach. Verschiedene wichtige Verbindungen mit Persönlichkeiten, die sich hier
vielleicht besser auskennen, haben sich von selbst gelockert. Ich bin auf dem
Land ein wenig verlassen, das weißt du ja. Selbst merkt man es eigentlich erst
bei solchen Gelegenheiten. Zum Teil kam mir deine Sache auch unerwartet, wenn
ich auch merkwürdigerweise nach Ernas Brief schon etwas derartiges ahnte und es
heute bei deinem Anblick fast mit Bestimmtheit wußte. Aber das ist gleichgültig,
das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren.“ Schon während seiner Rede
hatte er auf den Fußspitzen stehend einem Automobil gewinkt und zog jetzt,
während er gleichzeitig dem Wagenlenker eine Adresse zurief, K. hinter sich in
den Wagen. „Wir fahren jetzt zum Advokaten Huld,“ sagte er, „er war mein
Schulkollege. Du kennst den Namen gewiß auch? Nicht? Das ist aber merkwürdig. Er
hat doch als Verteidiger und Armenadvokat einen bedeutenden Ruf. Ich aber habe
besonders zu ihm als Menschen großes Vertrauen.“ „Mir ist alles recht, was du
unternimmst,“ sagte K., trotzdem ihm die eilige und dringliche Art, mit der der
Onkel die Angelegenheit behandelte, Unbehagen verursachte. Es war nicht sehr
erfreulich, als Angeklagter zu einem Armenadvokaten zu fahren. „Ich wußte
nicht,“ sagte er, „daß man in einer solchen Sache auch einen Advokaten zuziehen
könne.“ „Aber natürlich,“ sagte der Onkel, „das ist ja selbstverständlich. Warum
denn nicht? Und nun erzähle mir, damit ich über die Sache genau unterrichtet
bin, alles, was bisher geschehen ist.“ K. begann sofort zu erzählen, ohne irgend
etwas zu verschweigen, seine vollständige Offenheit war der einzige Protest, den
er sich gegen des Onkels Ansicht, der Prozeß sei eine große Schande, erlauben
konnte. Fräulein Bürstners Namen erwähnte er nur einmal und flüchtig, aber das
beeinträchtigte nicht die Offenheit, denn Fräulein Bürstner stand mit dem Prozeß
in keiner Verbindung. Während er erzählte, sah er aus dem Fenster und
beobachtete, wie sie sich gerade jener Vorstadt näherten, in der die
Gerichtskanzleien waren, er machte den Onkel darauf aufmerksam, der aber das
Zusammentreffen nicht besonders auffallend fand. Der Wagen hielt vor einem
dunklen Haus. Der Onkel läutete gleich im Parterre bei der ersten Tür; während
sie warteten, fletschte er lächelnd seine großen Zähne und flüsterte: „8 Uhr,
eine ungewöhnliche Zeit für Parteienbesuche. Huld nimmt es mir aber nicht übel.“
Im Guckfenster der Tür erschienen zwei große schwarze Augen, sahen ein Weilchen
die zwei Gäste an und verschwanden; die Tür öffnete sich aber nicht. Der Onkel
und K. bestätigten einander gegenseitig die Tatsache, die zwei Augen gesehen zu
haben. „Ein neues Stubenmädchen, das sich vor Fremden fürchtet,“ sagte der Onkel
und klopfte nochmals. Wieder erschienen die Augen, man konnte sie jetzt fast für
traurig halten, vielleicht war das aber auch nur eine Täuschung, hervorgerufen
durch die offene Gasflamme, die nahe über den Köpfen stark zischend brannte,
aber wenig Licht gab. „Öffnen Sie,“ rief der Onkel und hieb mit der Faust gegen
die Tür, „es sind Freunde des Herrn Advokaten.“ „Der Herr Advokat ist krank,“
flüsterte es hinter ihnen. In einer Tür am andern Ende des kleinen Ganges stand
ein Herr im Schlafrock und machte mit äußerst leiser Stimme diese Mitteilung.
Der Onkel, der schon wegen des langen Wartens wütend war, wandte sich mit einem
Ruck um, rief: „Krank? Sie sagen, er ist krank?“ und ging fast drohend, als sei
der Herr die Krankheit, auf ihn zu. „Man hat schon geöffnet,“ sagte der Herr,
zeigte auf die Tür des Advokaten, raffte seinen Schlafrock zusammen und
verschwand. Die Tür war wirklich geöffnet worden, ein junges Mädchen – K.
erkannte die dunklen, ein wenig hervorgewälzten Augen wieder – stand in langer
weißer Schürze im Vorzimmer und hielt eine Kerze in der Hand. „Nächstens öffnen
Sie früher,“ sagte der Onkel statt einer Begrüßung, während das Mädchen einen
kleinen Knix machte. „Komm, Josef,“ sagte er dann zu K., der sich langsam an dem
Mädchen vorüberschob. „Der Herr Advokat ist krank,“ sagte das Mädchen, da der
Onkel, ohne sich aufzuhalten, auf eine Tür zueilte. K. staunte das Mädchen noch
an, während es sich schon umgedreht hatte, um die Wohnungstüre wieder zu
versperren, es hatte ein puppenförmig gerundetes Gesicht, nicht nur die bleichen
Wangen und das Kinn verliefen rund, auch die Schläfen und die Stirnränder.
„Josef,“ rief der Onkel wieder und das Mädchen fragte er: „Es ist das
Herzleiden?“ „Ich glaube wohl,“ sagte das Mädchen, es hatte Zeit gefunden mit
der Kerze voranzugehn und die Zimmertür zu öffnen. In einem Winkel des Zimmers,
wohin das Kerzenlicht noch nicht drang, erhob sich im Bett ein Gesicht mit
langem Bart. „Leni, wer kommt denn,“ fragte der Advokat, der, durch die Kerze
geblendet, die Gäste nicht erkannte. „Albert, dein alter Freund ist es,“ sagte
der Onkel. „Ach, Albert,“ sagte der Advokat und ließ sich auf die Kissen
zurückfallen, als bedürfe es diesem Besuch gegenüber keiner Verstellung. „Steht
es wirklich so schlecht?“ fragte der Onkel und setzte sich auf den Bettrand.
„Ich glaube es nicht. Es ist ein Anfall deines Herzleidens und wird vorübergehn
wie die frühern.“ „Möglich,“ sagte der Advokat leise, „es ist aber ärger, als es
jemals gewesen ist. Ich atme schwer, schlafe gar nicht und verliere täglich an
Kraft.“ „So,“ sagte der Onkel und drückte den Panamahut mit seiner großen Hand
fest aufs Knie. „Das sind schlechte Nachrichten. Hast du übrigens die richtige
Pflege? Es ist auch so traurig hier, so dunkel. Es ist schon lange her, seitdem
ich zum letztenmal hier war, damals schien es mir freundlicher. Auch dein
kleines Fräulein hier scheint nicht sehr lustig oder sie verstellt sich.“ Das
Mädchen stand noch immer mit der Kerze nahe bei der Tür; soweit ihr unbestimmter
Blick erkennen ließ, sah sie eher K. an als den Onkel, selbst als dieser jetzt
von ihr sprach. K. lehnte an einem Sessel, den er in die Nähe des Mädchens
geschoben hatte. „Wenn man so krank ist wie ich,“ sagte der Advokat, „muß man
Ruhe haben. Mir ist es nicht traurig.“ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu:
„Und Leni pflegt mich gut, sie ist brav.“ Den Onkel konnte das aber nicht
überzeugen, er war sichtlich gegen die Pflegerin voreingenommen, und wenn er
auch dem Kranken nichts entgegnete, so verfolgte er doch die Pflegerin mit
strengen Blicken, als sie jetzt zum Bett hinging, die Kerze auf das
Nachttischchen stellte, sich über den Kranken hinbeugte und beim Ordnen der
Kissen mit ihm flüsterte. Er vergaß fast die Rücksicht auf den Kranken, stand
auf, ging hinter der Pflegerin hin und her, und K. hätte es nicht gewundert,
wenn er sie hinten an den Röcken erfaßt und vom Bett fortgezogen hätte. K.
selbst sah allem ruhig zu, die Krankheit des Advokaten war ihm sogar nicht ganz
unwillkommen, dem Eifer, den der Onkel für seine Sache entwickelt hatte, hatte
er sich nicht entgegenstellen können, die Ablenkung, die dieser Eifer jetzt ohne
sein Zutun erfuhr, nahm er gerne hin. Da sagte der Onkel, vielleicht nur in der
Absicht, die Pflegerin zu beleidigen: „Fräulein, bitte, lassen Sie uns ein
Weilchen allein, ich habe mit meinem Freund eine persönliche Angelegenheit zu
besprechen.“ Die Pflegerin, die noch weit über den Kranken hingebeugt war und
gerade das Leintuch an der Wand glättete, wendete nur den Kopf und sagte sehr
ruhig, was einen auffallenden Unterschied zu den vor Wut stockenden und dann
wieder überfließenden Reden des Onkels bildete: „Sie sehen, der Herr ist so
krank, er kann keine Angelegenheiten besprechen.“ Sie hatte die Worte des Onkels
wahrscheinlich nur aus Bequemlichkeit wiederholt, immerhin konnte es selbst von
einem Unbeteiligten als spöttisch aufgefaßt werden, der Onkel aber fuhr
natürlich wie ein Gestochener auf. „Du Verdammte,“ sagte er im ersten Gurgeln
der Aufregung noch ziemlich unverständlich, K. erschrak, trotzdem er etwas
Ähnliches erwartet hatte, und lief auf den Onkel zu, mit der bestimmten Absicht,
ihm mit beiden Händen den Mund zu schließen. Glücklicherweise erhob sich aber
hinter dem Mädchen der Kranke, der Onkel machte ein finsteres Gesicht, als
schlucke er etwas Abscheuliches hinunter, und sagte dann ruhiger: „Wir haben
natürlich auch noch den Verstand nicht verloren; wäre das, was ich verlange,
nicht möglich, würde ich es nicht verlangen. Bitte gehn Sie jetzt.“ Die
Pflegerin stand aufgerichtet am Bett dem Onkel voll zugewendet, mit der einen
Hand streichelte sie, wie K. zu bemerken glaubte, die Hand des Advokaten. „Du
kannst vor Leni alles sagen,“ sagte der Kranke, zweifellos im Ton einer
dringenden Bitte. „Es betrifft mich nicht,“ sagte der Onkel, „es ist nicht mein
Geheimnis.“ Und er drehte sich um, als gedenke er in keine Verhandlungen mehr
einzugehn, gebe aber noch eine kleine Bedenkzeit. „Wen betrifft es denn?“ fragte
der Advokat mit erlöschender Stimme und legte sich wieder zurück. „Meinen
Neffen,“ sagte der Onkel, „ich habe ihn auch mitgebracht.“ Und er stellte vor:
Prokurist Josef K. „Oh,“ sagte der Kranke viel lebhafter und streckte K. die
Hand entgegen, „verzeihen Sie, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Geh, Leni,“ sagte
er dann zu der Pflegerin, die sich auch gar nicht mehr wehrte, und reichte ihr
die Hand, als gelte es einen Abschied für lange Zeit. „Du bist also,“ sagte er
endlich zum Onkel, der, auch versöhnt nähergetreten war, „nicht gekommen, mir
einen Krankenbesuch zu machen, sondern du kommst in Geschäften.“ Es war, als
hätte die Vorstellung eines Krankenbesuches den Advokaten bisher gelähmt, so
gekräftigt sah er jetzt aus, blieb ständig auf einen Ellbogen aufgestützt, was
ziemlich anstrengend sein mußte, und zog immer wieder an einem Bartstrahn in der
Mitte seines Bartes. „Du siehst schon viel gesünder aus,“ sagte der Onkel,
„seitdem diese Hexe draußen ist.“ Er unterbrach sich, flüsterte: „Ich wette, daß
sie horcht“ und er sprang zur Tür. Aber hinter der Tür war niemand, der Onkel
kam zurück, nicht enttäuscht, denn ihr Nichthorchen erschien ihm als eine noch
größere Bosheit, wohl aber verbittert: „Du verkennst sie,“ sagte der Advokat,
ohne die Pflegerin weiter in Schutz zu nehmen; vielleicht wollte er damit
ausdrücken, daß sie nicht schutzbedürftig sei. Aber in viel teilnehmenderem Tone
fuhr er fort: „Was die Angelegenheit deines Herrn Neffen betrifft, so würde ich
mich allerdings glücklich schätzen, wenn meine Kraft für diese äußerst
schwierige Aufgabe ausreichen könnte; ich fürchte sehr, daß sie nicht ausreichen
wird, jedenfalls will ich nichts unversucht lassen; wenn ich nicht ausreiche,
könnte man ja noch jemanden andern beiziehen. Um aufrichtig zu sein,
interessiert mich die Sache zu sehr, als daß ich es über mich bringen könnte,
auf jede Beteiligung zu verzichten. Hält es mein Herz nicht aus, so wird es doch
wenigstens hier eine würdige Gelegenheit finden, gänzlich zu versagen.“ K.
glaubte kein Wort dieser ganzen Rede zu verstehn, er sah den Onkel an, um doch
eine Erklärung zu finden, aber dieser saß mit der Kerze in der Hand auf dem
Nachttischchen, von dem bereits eine Arzneiflasche auf den Teppich gerollt war,
nickte zu allem, was der Advokat sagte, war mit allem einverstanden und sah hie
und da auf K. mit der Aufforderung zu gleichem Einverständnis hin. Hatte
vielleicht der Onkel schon früher dem Advokaten von dem Prozeß erzählt? Aber das
war unmöglich, alles was vorhergegangen war, sprach dagegen. „Ich verstehe
nicht“ - sagte er deshalb. „Ja, habe vielleicht ich Sie mißverstanden?“ fragte
der Advokat ebenso erstaunt und verlegen wie K. „Ich war vielleicht voreilig.
Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen? Ich dachte, es handle sich um Ihren
Prozeß?“ „Natürlich,“ sagte der Onkel und fragte dann K.: „Was willst du denn?“
„Ja, aber woher wissen Sie denn etwas über mich und meinen Prozeß?“ fragte K.
„Ach so,“ sagte der Advokat lächelnd, „ich bin doch Advokat, ich verkehre in
Gerichtskreisen, man spricht über verschiedene Prozesse und auffallendere,
besonders wenn es den Neffen eines Freundes betrifft, behält man im Gedächtnis.
Das ist doch nichts Merkwürdiges.“ „Was willst du denn?“ fragte der Onkel K.
nochmals. „Du bist so unruhig.“ „Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen,“
fragte K. „Ja,“ sagte der Advokat. „Du fragst wie ein Kind,“ sagte der Onkel.
„Mit wem sollte ich denn verkehren, wenn nicht mit Leuten meines Faches?“ fügte
der Advokat hinzu. Es klang so unwiderleglich, daß K. gar nicht antwortete. „Sie
arbeiten doch bei dem Gericht im Justizpalast, und nicht bei dem auf dem
Dachboden,“ hatte er sagen wollen, konnte sich aber nicht überwinden, es
wirklich zu sagen. „Sie müssen doch bedenken,“ fuhr der Advokat fort, in einem
Tone, als erkläre er etwas Selbstverständliches überflüssigerweise und nebenbei,
„Sie müssen doch bedenken, daß ich aus einem solchen Verkehr auch große Vorteile
für meine Klientel ziehe, und zwar in vielfacher Hinsicht, man darf nicht einmal
immer davon reden. Natürlich bin ich jetzt infolge meiner Krankheit ein wenig
behindert, aber ich bekomme trotzdem Besuch von guten Freunden vom Gericht und
erfahre doch einiges. Erfahre vielleicht mehr als manche, die in bester
Gesundheit den ganzen Tag bei Gericht verbringen. So habe ich z. B. gerade jetzt
einen lieben Besuch.“ Und er zeigte in eine dunkle Zimmerecke. „Wo denn?“ fragte
K. in der ersten Überraschung fast grob. Er sah unsicher herum; das Licht der
kleinen Kerze drang bei weitem nicht bis zur gegenüberliegenden Wand. Und
wirklich begann sich dort in der Ecke etwas zu rühren. Im Licht der Kerze, die
der Onkel jetzt hochhielt, sah man dort bei einem kleinen Tischchen einen
älteren Herrn sitzen. Er hatte wohl gar nicht geatmet, daß er so lange unbemerkt
geblieben war. Jetzt stand er umständlich auf, offenbar unzufrieden damit, daß
man auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Es war, als wolle er mit den Händen, die
er wie kurze Flügel bewegte, alle Vorstellungen und Begrüßungen abwehren, als
wolle er auf keinen Fall die andern durch seine Anwesenheit stören und als bitte
er dringend wieder um die Versetzung ins Dunkel und um das Vergessen seiner
Anwesenheit. Das konnte man ihm nun aber nicht mehr zugestehn. „Ihr habt uns
nämlich überrascht,“ sagte der Advokat zur Erklärung und winkte dabei dem Herrn
aufmunternd zu, näherzukommen, was dieser langsam, zögernd, herumblickend und
doch mit einer gewissen Würde tat, „der Herr Kanzleidirektor – ach so,
Verzeihung, ich habe nicht vorgestellt – hier mein Freund Albert K., hier sein
Neffe, Prokurist Josef K., und hier der Herr Kanzleidirektor – der Herr
Kanzleidirektor also war so freundlich, mich zu besuchen. Den Wert eines solchen
Besuches kann eigentlich nur der Eingeweihte würdigen, welcher weiß, wie der
liebe Kanzleidirektor mit Arbeit überhäuft ist. Nun, er kam aber trotzdem, wir
unterhielten uns friedlich, soweit meine Schwäche es erlaubte, wir hatten zwar
Leni nicht verboten, Besuche einzulassen, denn es waren keine zu erwarten, aber
unsere Meinung war doch, daß wir allein bleiben sollten, dann aber kamen deine
Fausthiebe, Albert, der Herr Kanzleidirektor rückte mit Sessel und Tisch in den
Winkel, nun aber zeigt sich, daß wir möglicherweise, d. h. wenn der Wunsch
danach besteht, gemeinsame Angelegenheit zu besprechen haben und sehr gut wieder
zusammenrücken können. – Herr Kanzleidirektor,“ sagte er mit Kopfneigen und
unterwürfigem Lächeln und zeigte auf einen Lehnstuhl in der Nähe des Bettes.
„Ich kann leider nur noch ein paar Minuten bleiben,“ sagte der Kanzleidirektor
freundlich, setzte sich breit in den Lehnstuhl und sah auf die Uhr, „die
Geschäfte rufen mich. Jedenfalls will ich nicht die Gelegenheit vorübergehen
lassen, einen Freund meines Freundes kennenzulernen.“ Er neigte den Kopf
leicht gegen den Onkel, der von der neuen Bekanntschaft sehr befriedigt schien,
aber infolge seiner Natur Gefühle der Ergebenheit nicht ausdrücken konnte und
die Worte des Kanzleidirektors mit verlegenem, aber lautem Lachen begleitete.
Ein häßlicher Anblick! K. konnte ruhig alles beobachten, denn um ihn kümmerte
sich niemand, der Kanzleidirektor nahm, wie es seine Gewohnheit schien, da er
nun schon einmal hervorgezogen war, die Herrschaft über das Gespräch an sich,
der Advokat, dessen erste Schwäche vielleicht nur dazu hatte dienen sollen, den
neuen Besuch zu vertreiben, hörte aufmerksam, die Hand am Ohre, zu, der Onkel
als Kerzenträger – er balancierte die Kerze auf seinem Schenkel, der Advokat sah
öfter besorgt hin – war bald frei von Verlegenheit und nur noch entzückt, sowohl
von der Art der Rede des Kanzleidirektors, als auch von den sanften
wellenförmigen Handbewegungen, mit denen er sie begleitete. K., der am
Bettpfosten lehnte, wurde vom Kanzleidirektor vielleicht sogar mit Absicht
vollständig vernachlässigt und diente den alten Herren nur als Zuhörer. Übrigens
wußte er kaum, wovon die Rede war und dachte bald an die Pflegerin und an die
schlechte Behandlung, die sie vom Onkel erfahren hatte, bald daran, ob er den
Kanzleidirektor nicht schon einmal gesehn hatte, vielleicht sogar in der
Versammlung bei seiner ersten Untersuchung. Wenn er sich auch vielleicht auch
täuschte, so hätte sich doch der Kanzleidirektor den Versammlungsteilnehmern in
der ersten Reihe, den alten Herren mit den schüttern Bärten, vorzüglich
eingefügt.
Da ließ ein Lärm aus dem Vorzimmer wie von zerbrechendem
Porzellan, alle aufhorchen. „Ich will nachsehn, was geschehen ist,“ sagte K. und
ging langsam hinaus, als gebe er den andern noch Gelegenheit, ihn
zurückzuhalten. Kaum war er ins Vorzimmer getreten und wollte sich im Dunkel
zurechtfinden, als sich auf die Hand, mit der er die Tür noch festhielt, eine
kleine Hand legte, viel kleiner als K.s Hand und die Tür leise schloß. Es war
die Pflegerin, die hier gewartet hatte. „Es ist nichts geschehn,“ flüsterte sie,
„ich habe nur einen Teller gegen die Mauer geworfen, um Sie herauszuholen.“ In
seiner Befangenheit sagte K.: „Ich habe auch an Sie gedacht.“ „Desto besser,“
sagte die Pflegerin, „kommen Sie.“ Nach ein paar Schritten kamen sie zu einer
Tür aus mattem Glas, welche die Pflegerin vor K. öffnete. „Treten Sie doch ein,“
sagte sie. Es war jedenfalls das Arbeitszimmer des Advokaten; soweit man im
Mondlicht sehen konnte, das jetzt nur einen kleinen viereckigen Teil des
Fußbodens an jedem der zwei großen Fenster erhellte, war es mit schweren alten
Möbelstücken ausgestattet. „Hierher,“ sagte die Pflegerin und zeigte auf eine
dunkle Truhe mit holzgeschnitzter Lehne. Noch als er sich gesetzt hatte, sah
sich K. im Zimmer um, es war ein hohes großes Zimmer, die Kundschaft des
Armenadvokaten mußte sich hier verloren vorkommen. K. glaubte die kleinen
Schritte zu sehn, mit denen die Besucher zu dem gewaltigen Schreibtisch
vorrückten. Dann aber vergaß er daran und hatte nur noch Augen für die
Pflegerin, die ganz nahe neben ihm saß und ihn fast an die Seitenlehne drückte.
„Ich dachte,“ sagte sie, „Sie würden allein zu mir herauskommen, ohne daß ich
Sie erst rufen müßte. Es war doch merkwürdig. Zuerst sahen Sie mich gleich beim
Eintritt ununterbrochen an und dann ließen Sie mich warten. Nennen Sie mich
übrigens Leni,“ fügte sie noch rasch und unvermittelt zu, als solle kein
Augenblick dieser Aussprache versäumt werden. „Gern,“ sagte K. „Was aber die
Merkwürdigkeit betrifft, Leni, so ist sie leicht zu erklären. Erstens mußte ich
doch das Geschwätz der alten Herren anhören und konnte nicht grundlos weglaufen,
zweitens aber bin ich nicht frech, sondern eher schüchtern und auch Sie, Leni,
sahen wahrhaftig nicht so aus, als ob Sie in einem Sprung zu gewinnen wären.“
„Das ist es nicht,“ sagte Leni, legte den Arm über die Lehne und sah K. an,
„aber ich gefiel Ihnen nicht und gefalle Ihnen wahrscheinlich auch jetzt nicht.“
„Gefallen wäre ja nicht viel,“ sagte K. ausweichend. „Oh!“ sagte sie lächelnd
und gewann durch K.s Bemerkung und diesen kleinen Ausruf eine gewisse
Überlegenheit. Deshalb schwieg K. ein Weilchen. Da er sich an das Dunkel im
Zimmer schon gewöhnt hatte, konnte er verschiedene Einzelheiten der Einrichtung
unterscheiden. Besonders fiel ihm ein großes Bild auf, das rechts von der Tür
hing, er beugte sich vor, um es besser zu sehn. Es stellte einen Mann im
Richtertalar dar; er saß auf einem hohen Thronsessel, dessen Vergoldung vielfach
aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war, daß dieser Richter nicht in
Ruhe und Würde dort saß, sondern den linken Arm fest an Rücken- und Seitenlehne
drückte, den rechten Arm aber völlig frei hatte und nur mit der Hand die
Seitenlehne umfaßte, als wolle er im nächsten Augenblick mit einer heftigen und
vielleicht empörten Wendung aufspringen, um etwas Entscheidendes zu sagen oder
gar das Urteil zu verkünden. Der Angeklagte war wohl zu Füßen der Treppe zu
denken, deren oberste, mit einem gelben Teppich bedeckte Stufen noch auf dem
Bilde zu sehen waren. „Vielleicht ist das mein Richter,“ sagte K. und zeigte mit
einem Finger auf das Bild. „Ich kenne ihn,“ sagte Leni und sah auch zum Bilde
auf, „er kommt öfters hierher. Das Bild stammt aus seiner Jugend, er kann aber
niemals dem Bilde auch nur ähnlich gewesen sein, denn er ist fast winzig klein.
Trotzdem hat er sich auf dem Bild so in die Länge ziehen lassen, denn er ist
unsinnig eitel, wie alle hier. Aber auch ich bin eitel und sehr unzufrieden
damit, daß ich Ihnen gar nicht gefalle.“ Auf die letzte Bemerkung antwortete K.
nur damit, daß er Leni umfaßte und an sich zog, sie lehnte still den Kopf an
seine Schulter. Zu dem übrigen aber sagte er: „Was für einen Rang hat er?“ „Er
ist Untersuchungsrichter,“ sagte sie, ergriff K.s Hand, mit der er sie umfaßt
hielt, und spielte mit seinen Fingern. „Wieder nur Untersuchungsrichter,“ sagte
K. enttäuscht, „die hohen Beamten verstecken sich. Aber er sitzt doch auf einem
Thronsessel.“ „Das ist alles Erfindung,“ sagte Leni, das Gesicht über K.s Hand
gebeugt, „in Wirklichkeit sitzt er auf einem Küchensessel, auf dem eine alte
Pferdedecke zusammengelegt ist. Aber müssen Sie denn immerfort an Ihren Prozeß
denken?“ fügte sie langsam hinzu. „Nein, durchaus nicht,“ sagte K., „ich denke
wahrscheinlich sogar zu wenig an ihn.“ „Das ist nicht der Fehler, den Sie
machen,“ sagte Leni, „Sie sind zu unnachgiebig, so habe ich es gehört.“ „Wer hat
das gesagt?“ fragte K., er fühlte ihren Körper an seiner Brust und sah auf ihr
reiches dunkles fest gedrehtes Haar hinab. „Ich würde zuviel verraten, wenn ich
das sagte,“ antwortete Leni. „Fragen Sie, bitte, nicht nach Namen, stellen Sie
aber Ihren Fehler ab, seien Sie nicht mehr so unnachgiebig, gegen dieses Gericht
kann man sich ja nicht wehren, man muß das Geständnis machen. Machen Sie doch
bei nächster Gelegenheit das Geständnis. Erst dann ist die Möglichkeit, zu
entschlüpfen, gegeben, erst dann. Jedoch selbst das ist ohne fremde Hilfe nicht
möglich, wegen dieser Hilfe aber müssen Sie sich nicht ängstigen, die will ich
Ihnen selbst leisten.“ „Sie verstehen viel von diesem Gericht und von den
Betrügereien, die hier nötig sind,“ sagte K. und hob sie, da sie sich allzu
stark an ihn drängte, auf seinen Schoß. „So ist es gut,“ sagte sie und richtete
sich auf seinem Schoß ein, indem sie den Rock glättete und die Bluse zurechtzog.
Dann hing sie sich mit beiden Händen an seinen Hals, lehnte sich zurück und sah
ihn lange an. „Und wenn ich das Geständnis nicht mache, dann können Sie mir
nicht helfen?“ fragte K. versuchsweise. Ich werbe Helferinnen, dachte er fast
verwundert, zuerst Fräulein Bürstner, dann die Frau des Gerichtsdieners und
endlich diese kleine Pflegerin, die ein unbegreifliches Bedürfnis nach mir zu
haben scheint. Wie sie auf meinem Schoß sitzt, als sei es ihr einzig richtiger
Platz! „Nein,“ antwortete Leni und schüttelte langsam den Kopf, „dann kann ich
Ihnen nicht helfen. Aber Sie wollen ja meine Hilfe gar nicht, es liegt Ihnen
nichts daran, Sie sind eigensinnig und lassen sich nicht überzeugen.“ „Haben Sie
eine Geliebte?“ fragte sie nach einem Weilchen. „Nein,“ sagte K. „O doch,“ sagte
sie. „Ja, wirklich,“ sagte K., „denken Sie nur, ich habe sie verleugnet und
trage doch sogar ihre Photographie bei mir.“ Auf ihre Bitten zeigte er ihr eine
Photographie Elsas, zusammengekrümmt auf seinem Schoß studierte sie das Bild. Es
war eine Momentphotographie, Elsa war nach einem Wirbeltanz aufgenommen, wie sie
ihn in dem Weinlokal gern tanzte, ihr Rock flog noch im Faltenwurf der Drehung
um sie her, die Hände hatte sie auf die festen Hüften gelegt und sah mit
straffem Hals lachend zur Seite; wem ihr Lachen galt, konnte man aus dem Bild
nicht erkennen. „Sie ist stark geschnürt,“ sagte Leni und zeigte auf die Stelle,
wo dies ihrer Meinung nach zu sehen war. „Sie gefällt mir nicht, sie ist
unbeholfen und roh. Vielleicht ist sie aber Ihnen gegenüber sanft und
freundlich, darauf könnte man nach dem Bilde schließen. So große starke Mädchen
wissen oft nichts anderes, als sanft und freundlich zu sein. Würde sie sich aber
für Sie opfern können?“ „Nein,“ sagte K., „sie ist weder sanft und freundlich,
noch würde sie sich für mich opfern können. Auch habe ich bisher weder das eine
noch das andere von ihr verlangt. Ja, ich habe noch nicht einmal das Bild so
genau angesehn wie Sie.“ „Es liegt Ihnen also gar nicht viel an ihr,“ sagte
Leni, „sie ist also gar nicht Ihre Geliebte.“ „Doch,“ sagte K. „Ich nehme mein
Wort nicht zurück.“ „Mag sie also jetzt Ihre Geliebte sein,“ sagte Leni, „Sie
würden sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie sie verlieren oder für jemand
andern, z. B. für mich, eintauschen würden.“ „Gewiß,“ sagte K. lächelnd, „das
wäre denkbar, aber sie hat einen großen Vorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts
von meinem Prozeß, und selbst wenn sie etwas davon wüßte, würde sie nicht daran
denken. Sie würde mich nicht zur Nachgiebigkeit zu überreden suchen.“ „Das ist
kein Vorteil,“ sagte Leni. „Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich
nicht den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler?“ „Einen körperlichen
Fehler?“ fragte K. „Ja,“ sagte Leni, „ich habe nämlich einen solchen kleinen
Fehler, sehen Sie.“ Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand
auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk
der kurzen Finger reichte. K. merkte im Dunkel nicht gleich, was sie ihm zeigen
wollte, sie führte deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste. „Was für ein
Naturspiel,“ sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt hatte, hinzu.
„Was für eine hübsche Kralle!“ Mit einer Art Stolz sah Leni zu, wie K. staunend
immer wieder ihre zwei Finger auseinanderzog und zusammenlegte, bis er sie
schließlich flüchtig küßte und losließ. „Oh!“ rief sie aber sofort, „Sie haben
mich geküßt!“ Eilig, mit offenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen
Schoß, K. sah fast bestürzt zu ihr auf, jetzt, da sie ihm so nahe war, ging ein
bitterer anfeurender Geruch wie von Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf an
sich, beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst in
seine Haare. „Sie haben mich eingetauscht,“ rief sie von Zeit zu Zeit, „sehen
Sie, nun haben Sie mich doch eingetauscht!“ Da glitt ihr Knie aus, mit einem
kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K. umfaßte sie, um sie noch zu
halten, und wurde zu ihr hinabgezogen. „Jetzt gehörst du mir,“ sagte sie.
„Hier hast du den Hausschlüssel, komm, wann du willst,“ waren ihre letzten Worte
und ein zielloser Kuß traf ihn noch im Weggehn auf den Rücken. Als er aus dem
Haustor trat, fiel ein leichter Regen, er wollte in die Mitte der Straße gehn,
um vielleicht Leni noch beim Fenster erblicken zu können, da stürzte aus einem
Automobil, das vor dem Hause wartete und das K. in seiner Zerstreutheit gar
nicht bemerkt hatte, der Onkel, faßte ihn bei den Armen und stieß ihn gegen das
Haustor, als wolle er ihn dort festnageln. „Junge,“ rief er, „wie konntest du
nur das tun! Du hast deiner Sache, die auf gutem Wege war, schrecklich
geschadet. Verkriechst dich mit einem kleinen schmutzigen Ding, das überdies
offensichtlich die Geliebte des Advokaten ist, und bleibst stundenlang weg.
Suchst nicht einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts, nein, bist ganz offen,
läufst zu ihr und bleibst bei ihr. Und unterdessen sitzen wir beisammen, der
Onkel, der sich für dich abmüht, der Advokat, der für dich gewonnen werden soll,
der Kanzleidirektor vor allem, dieser große Herr, der deine Sache in ihrem
jetzigen Stadium geradezu beherrscht. Wir wollen beraten, wie dir zu helfen
wäre, ich muß den Advokaten vorsichtig behandeln, dieser wieder den
Kanzleidirektor und du hättest doch allen Grund, mich wenigstens zu
unterstützen. Statt dessen bleibst du fort. Schließlich läßt es sich nicht
verheimlichen, nun, es sind höfliche gewandte Männer, sie sprechen nicht davon,
sie schonen mich, schließlich können aber auch sie sich nicht mehr überwinden
und da sie von der Sache nicht reden können, verstummen sie. Wir sind
minutenlang schweigend dagesessen und haben gehorcht, ob du nicht doch endlich
kämest. Alles vergebens. Endlich steht der Kanzleidirektor, der viel länger
geblieben ist, als er ursprünglich wollte, auf, verabschiedet sich, bedauert
mich sichtlich, ohne mir helfen zu können, wartet in unbegreiflicher
Liebenswürdigkeit noch eine Zeitlang in der Tür, dann geht er. Ich war natürlich
glücklich, daß er weg war, mir war schon die Luft zum Atmen ausgegangen. Auf den
kranken Advokaten hat alles noch stärker eingewirkt, er konnte, der gute Mann,
gar nicht sprechen, als ich mich von ihm verabschiedete. Du hast wahrscheinlich
zu seinem vollständigen Zusammenbrechen beigetragen und beschleunigst so den Tod
eines Mannes, auf den du angewiesen bist. Und mich, deinen Onkel, läßt du hier
im Regen, fühle nur, ich bin ganz durchnäßt, stundenlang warten.“
zum 7. Kapitel
Balladen
Fabeln
Märchen
Gedichte
Texte für die Klasse 7, Klasse 8, Klasse 9 und Klasse 10.
Der Prozess von Franz Kafka, Texte von Kafka zum Lesen und Bearbeiten im Deutschunterricht.