Franz Kafka, Der Prozess 7. Kapitel
Der Prozess - Roman von Franz Kafka
7. Kapitel
SIEBENTES KAPITEL
ADVOKAT • FABRIKANT• MALER
An einem Wintervormittag – draußen fiel Schnee im trüben Licht – saß K. trotz
der frühen Stunde schon äußerst müde in seinem Bureau. Um sich wenigstens vor
den untersten Beamten zu schützen, hatte er dem Diener den Auftrag gegeben,
niemanden von ihnen einzulassen, da er mit einer größern Arbeit beschäftigt sei.
Aber statt zu arbeiten, drehte er sich in seinem Sessel,
verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu
wissen, den ganzen Arm ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit
gesenktem Kopf unbeweglich sitzen.
Der Gedanke an den Prozeß verließ ihn
nicht mehr. Öfters schon hatte er überlegt, ob es nicht gut wäre, eine
Verteidigungsschrift auszuarbeiten und bei Gericht einzureichen. Er wollte darin
eine kurze Lebensbeschreibung vorlegen und bei jedem irgendwie wichtigen
Ereignis erklären, aus welchen Gründen er so gehandelt hatte, ob diese
Handlungsweise nach seinem gegenwärtigen Urteil zu verwerfen oder zu billigen
war und welche Gründe er für dieses oder jenes anführen konnte. Die Vorteile
einer solchen Verteidigungsschrift gegenüber der bloßen Verteidigung durch den
übrigens auch sonst nicht einwandfreien Advokaten waren zweifellos. K. wußte ja
gar nicht, was der Advokat unternahm; viel war es jedenfalls nicht, schon einen
Monat lang hatte er ihn nicht mehr zu sich berufen und auch bei keiner der
frühern Besprechungen hatte K. den Eindruck gehabt, daß dieser Mann viel für ihn
erreichen könne.
Vor allem hatte er ihn fast gar nicht ausgefragt. Und hier war doch so viel zu
fragen. Fragen war die Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob er selbst alle
hier nötigen Fragen stellen könnte. Der Advokat dagegen, statt zu fragen,
erzählte selbst oder saß ihm stumm gegenüber, beugte sich, wahrscheinlich wegen
seines schwachen Gehörs, ein wenig über den Schreibtisch vor, zog an einem
Bartstrahn innerhalb seines Bartes und blickte auf den Teppich nieder,
vielleicht gerade auf die Stelle, wo K. mit Leni gelegen war. Hie und da gab er
K. einige leere Ermahnungen, wie man sie Kindern gibt. Ebenso nutzlose wie
langweilige Reden, die K. in der Schlußabrechnung mit keinem Heller zu bezahlen
gedachte. Nachdem der Advokat ihn genügend gedemütigt zu haben glaubte, fing er
gewöhnlich an, ihn wieder ein wenig aufzumuntern. Er habe schon, erzählte er
dann, viele ähnliche Prozesse ganz oder teilweise gewonnen. Prozesse, die, wenn
auch in Wirklichkeit vielleicht nicht so schwierig wie dieser, äußerlich noch
hoffnungsloser waren. Ein Verzeichnis dieser Prozesse habe er hier in der
Schublade – hierbei klopfte er an irgendeine Lade des Tisches –, die Schriften
könne er leider nicht zeigen, da es sich um Amtsgeheimnisse handle. Trotzdem
komme jetzt die große Erfahrung, die er durch alle diese Prozesse erworben habe,
K. zugute. Er habe natürlich sofort zu arbeiten begonnen und die erste Eingabe
sei schon fast fertiggestellt. Sie sei sehr wichtig, weil der erste Eindruck,
den die Verteidigung mache, oft die ganze Richtung des Verfahrens bestimme.
Leider, darauf müsse er K. allerdings aufmerksam machen, geschehe es manchmal,
daß die ersten Eingaben bei Gericht gar nicht gelesen würden. Man lege sie
einfach zu den Akten und weise darauf hin, daß vorläufig die Einvernahme und
Beobachtung des Angeklagten wichtiger sei, als alles Geschriebene. Man fügt,
wenn der Petent dringlich wird, hinzu, daß man vor der Entscheidung, bis alles
Material gesammelt ist, im Zusammenhang natürlich alle Akten, also auch diese
erste Eingabe, überprüfen wird. Leider sei aber auch dies meistens nicht
richtig, die erste Eingabe werde gewöhnlich verlegt oder gehe gänzlich verloren
und, selbst wenn sie bis zum Ende erhalten bleibt, werde sie, wie der Advokat
allerdings nur gerüchtweise erfahren hat, kaum gelesen. Das alles sei
bedauerlich, aber nicht ganz ohne Berechtigung. K. möge doch nicht außer acht
lassen, daß das Verfahren nicht öffentlich sei, es kann, wenn das Gericht es für
nötig hält, öffentlich werden, das Gesetz aber schreibt Öffentlichkeit nicht
vor. Infolgedessen sind auch die Schriften des Gerichts, vor allem die
Anklageschrift dem Angeklagten und seiner Verteidigung unzugänglich, man weiß
daher im allgemeinen nicht oder wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste
Eingabe zu richten hat, sie kann daher eigentlich nur zufälligerweise etwas
enthalten, was für die Sache von Bedeutung ist. Wirklich zutreffende und
beweisführende Eingaben kann man erst später ausarbeiten, wenn im Laufe der
Einvernahmen des Angeklagten die einzelnen Anklagepunkte und ihre Begründung
deutlicher hervortreten oder erraten werden können. Unter diesen Verhältnissen
ist natürlich die Verteidigung in einer sehr ungünstigen und schwierigen Lage.
Aber auch das ist beabsichtigt. Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz
nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet und selbst darüber, ob aus der
betreffenden Gesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen werden soll,
besteht Streit. Es gibt daher strenggenommen gar keine vom Gericht anerkannten
Advokaten, alle, die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten, sind im Grunde
nur Winkeladvokaten. Das wirkt natürlich auf den ganzen Stand sehr entwürdigend
ein und wenn K. nächstens einmal in die Gerichtskanzleien gehen werde, könne er
sich ja, um auch das einmal gesehen zu haben, das Advokatenzimmer ansehn. Er
werde vor der Gesellschaft, die dort beisammen sei, vermutlich erschrecken.
Schon die ihnen zugewiesene enge niedrige Kammer zeige die Verachtung, die das
Gericht für diese Leute hat. Licht bekommt die Kammer nur durch eine kleine
Luke, die so hochgelegen ist, daß man, wenn man hinausschauen will, wo einem
übrigens der Rauch eines knapp davor gelegenen Kamins in die Nase fährt und das
Gesicht schwärzt, erst einen Kollegen suchen muß, der einen auf den Rücken
nimmt. Im Fußboden dieser Kammer – um nur noch ein Beispiel für diese Zustände
anzuführen – ist nun schon seit mehr als einem Jahr ein Loch, nicht so groß, daß
ein Mensch durchfallen könnte, aber groß genug, daß man mit einem Bein ganz
einsinkt. Das Advokatenzimmer liegt auf dem zweiten Dachboden; sinkt also einer
ein, so hängt sein Bein in den ersten Dachboden hinunter und zwar gerade in den
Gang, wo die Parteien warten. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man in
Advokatenkreisen solche Verhältnisse schändlich nennt. Beschwerden an die
Verwaltung haben nicht den geringsten Erfolg, wohl aber ist es den Advokaten auf
das strengste verboten, irgend etwas in dem Zimmer auf eigene Kosten ändern zu
lassen. Aber auch diese Behandlung der Advokaten hat ihre Begründung. Man will
die Verteidigung möglichst ausschalten, alles soll auf den Angeklagten selbst
gestellt sein. Kein schlechter Standpunkt im Grunde, nichts wäre aber
verfehlter, als daraus zu folgern, daß bei diesem Gericht die Advokaten für den
Angeklagten unnötig sind. Im Gegenteil, bei keinem andern Gericht sind sie so
notwendig wie bei diesem. Das Verfahren ist nämlich im allgemeinen nicht nur vor
der Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor dem Angeklagten. Natürlich nur
soweit dies möglich ist, es ist aber in sehr weitem Ausmaß möglich. Auch der
Angeklagte hat nämlich keinen Einblick in die Gerichtsschriften und aus den
Verhören auf die ihnen zugrundeliegenden Schriften zu schließen, ist sehr
schwierig, insbesondere aber für den Angeklagten, der doch befangen ist und alle
möglichen Sorgen hat, die ihn zerstreuen. Hier greift nun die Verteidigung ein.
Bei den Verhören dürfen im allgemeinen Verteidiger nicht anwesend sein, sie
müssen daher nach den Verhören und zwar möglichst noch an der Tür des
Untersuchungszimmers den Angeklagten über das Verhör auszuforschen und diesen
oft schon sehr verwischten Berichten das für die Verteidigung Taugliche
entnehmen. Aber das Wichtigste ist dies nicht, denn viel kann man auf diese
Weise nicht erfahren, wenn natürlich auch hier wie überall ein tüchtiger Mann
mehr erfährt als andere. Das Wichtigste bleiben trotzdem die persönlichen
Beziehungen des Advokaten, in ihnen liegt der Hauptwert der Verteidigung. Nun
habe ja wohl K. schon seinen eigenen Erlebnissen entnommen, daß die
allerunterste Organisation des Gerichtes nicht ganz vollkommen ist,
pflichtvergessene und bestechliche Angestellte aufweist, wodurch gewissermaßen
die strenge Abschließung des Gerichtes Lücken bekommt. Hier nun drängt sich die
Mehrzahl der Advokaten ein, hier wird bestochen und ausgehorcht, ja es kamen
wenigstens in früherer Zeit sogar Fälle von Aktendiebstählen vor. Es ist nicht
zu leugnen, daß auf diese Weise für den Augenblick einige sogar überraschend
günstige Resultate für den Angeklagten sich erzielen lassen, damit stolzieren
auch diese kleinen Advokaten herum und locken neue Kundschaft an, aber für den
weitern Fortgang des Prozesses bedeutet es entweder nichts oder nichts Gutes.
Wirklichen Wert aber haben nur ehrliche persönliche Beziehungen und zwar mit
höhern Beamten, womit natürlich nur höhere Beamten der untern Grade gemeint
sind. Nur dadurch kann der Fortgang des Prozesses, wenn auch zunächst nur
unmerklich, später aber immer deutlicher beeinflußt werden. Das können natürlich
nur wenige Advokaten und hier sei die Wahl K.s sehr günstig gewesen. Nur noch
vielleicht ein oder zwei Advokaten könnten sich mit ähnlichen Beziehungen
ausweisen wie Dr. Huld. Diese kümmern sich allerdings um die Gesellschaft im
Advokatenzimmer nicht und haben auch nichts mit ihr zu tun. Um so enger sei aber
die Verbindung mit den Gerichtsbeamten. Es sei nicht einmal immer nötig, daß Dr.
Huld zu Gericht gehe, in den Vorzimmern der Untersuchungsrichter auf ihr
zufälliges Erscheinen warte, und je nach ihrer Laune einen meist nur scheinbaren
Erfolg erziele oder auch nicht einmal diesen. Nein, K. habe es ja selbst
gesehen, die Beamten und darunter recht hohe kommen selbst, geben bereitwillig
Auskunft, offene oder wenigstens leicht deutbare, besprechen den nächsten
Fortgang der Prozesse, ja sie lassen sich sogar in einzelnen Fällen überzeugen
und nehmen die fremde Ansicht gern an. Allerdings dürfe man ihnen gerade in
dieser letzteren Hinsicht nicht allzusehr vertrauen, so bestimmt sie ihre neue,
für die Verteidigung günstige Absicht, auch aussprechen, gehen sie doch
vielleicht geradewegs in ihre Kanzlei und geben für den nächsten Tag einen
Gerichtsbeschluß heraus, der gerade das Entgegengesetzte enthält und vielleicht
für den Angeklagten noch viel strenger ist, als ihre erste Absicht, von der sie
gänzlich abgekommen zu sein behaupteten. Dagegen könne man sich natürlich nicht
wehren, denn das, was sie zwischen vier Augen gesagt haben, ist eben auch nur
zwischen vier Augen gesagt und lasse keine öffentliche Folgerung zu, selbst wenn
die Verteidigung nicht auch sonst bestrebt sein müßte, sich die Gunst der Herren
zu erhalten. Andererseits sei es allerdings auch richtig, daß die Herren nicht
etwa nur aus Menschenliebe oder aus freundschaftlichen Gefühlen sich mit der
Verteidigung, natürlich nur mit einer sachverständigen Verteidigung, in
Verbindung setzen, sie sind vielmehr in gewisser Hinsicht auch auf sie
angewiesen. Hier mache sich eben der Nachteil einer Gerichtsorganisation
geltend, die selbst in ihren Anfängen den geheimen Bericht festsetzt. Den
Beamten fehlt der Zusammenhang mit der Bevölkerung, für die gewöhnlichen
mittleren Prozesse sind sie gut ausgerüstet, ein solcher Prozeß rollt fast von
selbst auf seiner Bahn ab und braucht nur hier und da einen Anstoß, gegenüber
den ganz einfachen Fällen aber, wie auch gegenüber den besonders schwierigen,
sind sie oft ratlos, sie haben, weil sie fortwährend Tag und Nacht in ihr Gesetz
eingezwängt sind, nicht den richtigen Sinn für menschliche Beziehungen und das
entbehren sie in solchen Fällen schwer. Dann kommen sie zum Advokaten um Rat und
hinter ihnen trägt ein Diener die Akten, die sonst so geheim sind. An diesem
Fenster hätte man manche Herren, von denen man es am wenigsten erwarten würde,
antreffen können wie sie geradezu trostlos auf die Gasse hinaussahen, während
der Advokat an seinem Tisch die Akten studierte, um ihnen einen guten Rat geben
zu können. Übrigens könne man gerade bei solchen Gelegenheiten sehn, wie
ungemein ernst die Herren ihren Beruf nehmen und wie sie über Hindernisse, die
sie ihrer Natur nach nicht bewältigen können, in große Verzweiflung geraten.
Ihre Stellung sei auch sonst nicht leicht und man dürfe ihnen nicht Unrecht tun
und ihre Stellung nicht für leicht ansehn. Die Rangordnung und die Steigerung
des Gerichtes sei unendlich und selbst für den Eingeweihten nicht absehbar. Das
Verfahren vor den Gerichtshöfen sei aber im allgemeinen auch für die untern
Beamten geheim, sie können daher die Angelegenheiten, die sie bearbeiten, in
ihrem fernern Weitergang kaum jemals vollständig verfolgen, die Gerichtssache
erscheint also in ihrem Gesichtskreis, ohne daß sie oft wissen, woher sie kommt,
und sie geht weiter, ohne daß sie erfahren, wohin. Die Belehrung also, die man
aus dem Studium der einzelnen Prozeßstadien, der schließlichen Entscheidung und
ihrer Gründe schöpfen kann, entgeht diesen Beamten. Sie dürfen sich nur mit
jenem Teil des Prozesses befassen, der vom Gesetz für sie abgegrenzt ist und
wissen von dem Weiteren, also von den Ergebnissen ihrer eigenen Arbeit meist
weniger als die Verteidigung, die doch in der Regel fast bis zum Schluß des
Prozesses mit dem Angeklagten in Verbindung bleibt. Auch in dieser Richtung also
können sie von der Verteidigung manches Wertvolle erfahren. Wundere sich K.
noch, wenn er alles dieses im Auge behalte über die Gereiztheit der Beamten, die
sich manchmal den Parteien gegenüber in – jeder mache diese Erfahrung –
beleidigender Weise äußert. Alle Beamten seien gereizt, selbst wenn sie ruhig
scheinen. Natürlich haben kleine Advokaten besonders viel darunter zu leiden.
Man erzählt z. B. folgende Geschichte, die sehr den Anschein der Wahrheit hat.
Ein alter Beamter, ein guter stiller Herr, hatte eine schwierige Gerichtssache,
welche besonders durch die Eingaben des Advokaten verwickelt worden war, einen
Tag und eine Nacht ununterbrochen studiert – diese Beamten sind tatsächlich
fleißig, wie niemand sonst. Gegen Morgen nun, nach 24stündiger, wahrscheinlich
nicht sehr ergiebiger Arbeit ging er zur Eingangstür, stellte sich dort in
Hinterhalt und warf jeden Advokaten der eintreten wollte, die Treppe hinunter.
Die Advokaten sammelten sich unten auf dem Treppenansatz und berieten, was sie
tun sollten; einerseits haben sie keinen eigentlichen Anspruch darauf,
eingelassen zu werden, können daher rechtlich gegen den Beamten kaum etwas
unternehmen und müssen sich, wie schon erwähnt, auch hüten, die Beamtenschaft
gegen sich aufzubringen. Andererseits aber ist jeder nicht bei Gericht
verbrachte Tag für sie verloren und es lag ihnen also viel daran einzudringen.
Schließlich einigten sie sich darauf, daß sie den alten Herren ermüden wollten.
Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt, der die Treppe hinauflief und sich
dann unter möglichstem, allerdings passivem Widerstand hinunterwerfen ließ, wo
er dann von den Kollegen aufgefangen wurde. Das dauerte etwa eine Stunde, dann
wurde der alte Herr, er war ja auch von der Nachtarbeit schon erschöpft,
wirklich müde und ging in seine Kanzlei zurück. Die unten wollten es erst gar
nicht glauben und schickten zuerst einen aus, der hinter der Tür nachsehen
sollte, ob dort wirklich leer war. Dann erst zogen sie ein und wagten
wahrscheinlich nicht einmal zu murren. Denn den Advokaten – und selbst der
kleinste kann doch die Verhältnisse wenigstens zum Teil übersehn – liegt es
vollständig ferne, bei Gericht irgendwelche Verbesserungen einführen oder
durchsetzen zu wollen, während – und dies ist sehr bezeichnend – fast jeder
Angeklagte, selbst ganz einfältige Leute, gleich beim allerersten Eintritt in
den Prozeß an Verbesserungsvorschläge zu denken anfängt und damit oft Zeit und
Kraft verschwendet, die anders viel besser verwendet werden könnten. Das einzig
Richtige sei es, sich mit den vorhandenen Verhältnissen abzufinden. Selbst wenn
es möglich wäre, Einzelheiten zu verbessern – es ist aber ein unsinniger
Aberglaube – hätte man bestenfalls für künftige Fälle etwas erreicht, sich
selbst aber unermeßlich dadurch geschadet, daß man die besondere Aufmerksamkeit
der immer rachsüchtigen Beamtenschaft erregt hat. Nur keine Aufmerksamkeit
erregen! Sich ruhig verhalten, selbst wenn es einem noch so sehr gegen den Sinn
geht! Einzusehen versuchen, daß dieser große Gerichtsorganismus gewissermaßen
ewig in Schwebe bleibt und daß man zwar, wenn man auf seinem Platz selbständig
etwas ändert, den Boden unter den Füßen sich wegnimmt und selbst abstürzen kann,
während der große Organismus sich selbst für die kleine Störung leicht an einer
andern Stelle – alles ist doch in Verbindung – Ersatz schafft und unverändert
bleibt, wenn er nicht etwa, was sogar wahrscheinlich ist, noch geschlossener,
noch aufmerksamer, noch strenger, noch böser wird. Man überlasse doch die Arbeit
dem Advokaten, statt sie zu stören. Vorwürfe nützen ja nicht viel, besonders
wenn man ihre Ursachen in ihrer ganzen Bedeutung nicht begreiflich machen kann,
aber gesagt müsse es doch werden, wie viel K. seiner Sache durch das Verhalten
gegenüber dem Kanzleidirektor geschadet habe. Dieser einflußreiche Mann sei aus
der Liste jener, bei denen man für K. etwas unternehmen könne, schon fast zu
streichen. Selbst flüchtige Erwähnungen des Prozesses überhöre er mit deutlicher
Absicht. In manchem seien ja die Beamten wie Kinder. Oft können sie durch
Harmlosigkeiten, unter die allerdings K.s Verhalten leider nicht gehörte,
derartig verletzt werden, daß sie selbst mit guten Freunden zu reden aufhören,
sich von ihnen abwenden, wenn sie ihnen begegnen, und ihnen in allem möglichen
entgegenarbeiten. Dann aber einmal, überraschenderweise, ohne besondern Grund,
lassen sie sich durch einen kleinen Scherz, den man nur deshalb wagt, weil alles
aussichtslos scheint, zum Lachen bringen und sind versöhnt. Es sei eben
gleichzeitig schwer und leicht, sich mit ihnen zu verhalten, Grundsätze dafür
gibt es kaum. Manchmal sei es zum Verwundern, daß ein einziges
Durchschnittsleben dafür hinreiche, um soviel zu erfassen, daß man hier mit
einigem Erfolg arbeiten könne. Es kommen allerdings trübe Stunden, wie sie ja
jeder hat, wo man glaubt, nicht das geringste erzielt zu haben, wo es einem
scheint, als hätten nur die von Anfang an für einen guten Ausgang bestimmten
Prozesse ein gutes Ende genommen, wie es auch ohne Mithilfe geschehen wäre,
während alle andern verlorengegangen sind, trotz alles Nebenherlaufens, aller
Mühe, aller kleinen scheinbaren Erfolgen, über die man solche Freude hatte. Dann
scheint einem allerdings nichts mehr sicher und man würde auf bestimmte Fragen
hin nicht einmal zu leugnen wagen, daß man ihrem Wesen nach gut verlaufende
Prozesse gerade durch die Mithilfe auf Abwege gebracht hat. Auch das ist ja eine
Art Selbstvertrauen, aber es ist das einzige, daß dann übrigbleibt. Solchen
Anfällen – es sind natürlich nur Anfälle, nichts weiter – sind Advokaten
besonders dann ausgesetzt, wenn ihnen ein Prozeß, den sie weit genug und
zufriedenstellend geführt haben, plötzlich aus der Hand genommen wird. Das ist
wohl das Ärgste, was einem Advokaten geschehen kann. Nicht etwa durch den
Angeklagten wird ihnen der Prozeß entzogen, das geschieht wohl niemals, ein
Angeklagter, der einmal einen bestimmten Advokaten genommen hat, muß bei ihm
bleiben, geschehe was immer. Wie könnte er sich überhaupt, wenn er einmal Hilfe
in Anspruch genommen hat, allein noch erhalten. Das geschieht also nicht, wohl
aber geschieht es manchmal, daß der Prozeß eine Richtung nimmt, wo der Advokat
nicht mehr mitkommen darf. Der Prozeß und der Angeklagte und alles wird dem
Advokaten einfach entzogen; dann können auch die besten Beziehungen zu den
Beamten nicht mehr helfen, denn sie selbst wissen nichts. Der Prozeß ist eben in
ein Stadium getreten, wo keine Hilfe mehr geleistet werden darf, wo ihn
unzugängliche Gerichtshöfe bearbeiten, wo auch der Angeklagte für den Advokaten
nicht mehr erreichbar ist. Man kommt dann eines Tages nach Hause und findet auf
seinem Tisch alle die vielen Eingaben, die man mit allem Fleiß und mit den
schönsten Hoffnungen in dieser Sache gemacht hat, sie sind zurückgestellt
worden, da sie in das neue Prozeßstadium nicht übertragen werden dürfen, es sind
wertlose Fetzen. Dabei muß der Prozeß noch nicht verloren sein, durchaus nicht,
wenigstens liegt kein entscheidender Grund für diese Annahme vor, man weiß bloß
nichts mehr von dem Prozeß und wird auch nichts mehr von ihm erfahren. Nun sind
ja solche Fälle glücklicherweise Ausnahmen, und selbst wenn K.s Prozeß ein
solcher Fall sein sollte, sei er doch vorläufig noch weit von solchen Stadium
entfernt. Hier sei aber noch reichliche Gelegenheit für Advokatenarbeit gegeben,
und daß sie ausgenutzt werde, dessen dürfe K. sicher sein. Die Eingabe sei, wie
erwähnt, noch nicht überreicht, das eile aber auch nicht, viel wichtiger seien
die einleitenden Besprechungen mit maßgebenden Beamten und die hätten schon
stattgefunden. Mit verschiedenem Erfolg, wie offen zugestanden werden soll. Es
sei viel besser, vorläufig Einzelheiten nicht zu verraten, durch die K. nur
ungünstig beeinflußt und allzu hoffnungsfreudig oder allzu ängstlich gemacht
werden könnte, nur so viel sei gesagt, daß sich einzelne sehr günstig
ausgesprochen und sich auch sehr bereitwillig gezeigt haben, während andere sich
weniger günstig geäußert, aber doch ihre Mithilfe keineswegs verweigert haben.
Das Ergebnis sei also im ganzen sehr erfreulich, nur dürfe man daraus keine
besondern Schlüsse ziehen, da alle Vorverhandlungen ähnlich beginnen und
durchaus erst die weitere Entwicklung den Wert dieser Vorverhandlungen zeigt.
Jedenfalls sei noch nichts verloren und wenn es noch gelingen sollte, den
Kanzleidirektor trotz allem zu gewinnen – es sei schon verschiedenes zu diesem
Zwecke eingeleitet – dann sei das Ganze –, wie die Chirurgen sagen, eine reine
Wunde und man könne getrost das Folgende erwarten.
In solchen und ähnlichen
Reden war der Advokat unerschöpflich. Sie wiederholten sich bei jedem Besuch.
Immer gab es Fortschritte, niemals aber konnte die Art dieser Fortschritte
mitgeteilt werden. Immerfort wurde an der ersten Eingabe gearbeitet, aber sie
wurde nicht fertig, was sich meistens beim nächsten Besuch als gewisser Vorteil
herausstellte, da die letzte Zeit, was man nicht hatte voraussehen können, für
die Übergabe sehr ungünstig gewesen wäre. Bemerkte K. manchmal, ganz ermattet
von den Reden, daß es doch selbst unter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten,
sehr langsam vorwärtsgehe, wurde ihm entgegnet, es gehe gar nicht langsam
vorwärts, wohl aber wäre man schon viel weiter, wenn K. sich rechtzeitig an den
Advokaten gewendet hätte. Das hatte er aber leider versäumt und diese Versäumnis
werde auch noch weitere Nachteile bringen, nicht nur zeitliche.
Die einzige
wohltätige Unterbrechung dieser Besuche war Leni, die es immer so einzurichten
wußte, daß sie dem Advokaten in Anwesenheit K.s den Tee brachte. Dann stand sie
hinter K., sah scheinbar zu, wie der Advokat mit einer Art Gier tief zur Tasse
herabgebeugt den Tee eingoß und trank, und ließ im Geheimen ihre Hand von K.
erfassen. Es herrschte völliges Schweigen. Der Advokat trank, K. drückte Lenis
Hand und Leni wagte es manchmal K.s Haare sanft zu streicheln. „Du bist noch
hier?“ fragte der Advokat, nachdem er fertig war. „Ich wollte das Geschirr
wegnehmen“, sagte Leni, es gab noch einen letzten Händedruck, der Advokat
wischte sich den Mund und begann mit neuer Kraft auf K. einzureden.
War es
Trost oder Verzweiflung, was der Advokat erreichen wollte? K. wußte es nicht,
wohl aber hielt er es bald für feststehend, daß seine Verteidigung nicht in
guten Händen war. Es mochte ja alles richtig sein, was der Advokat erzählte,
wenn es auch durchsichtig war, daß er sich möglichst in den Vordergrund stellen
wollte und wahrscheinlich noch niemals einen so großen Prozeß geführt hatte, wie
es K.s Prozeß seiner Meinung nach war. Verdächtig aber blieben die unaufhörlich
hervorgehobenen persönlichen Beziehungen zu den Beamten. Mußten sie denn
ausschließlich zu K.s Nutzen ausgebeutet werden? Der Advokat vergaß nie zu
bemerken, daß es sich nur um niedrige Beamte handelte, also um Beamte in sehr
abhängiger Stellung, für deren Fortkommen gewisse Wendungen der Prozesse
wahrscheinlich von Bedeutung sein konnten. Benutzten sie vielleicht den
Advokaten dazu, um solche für den Angeklagten natürlich immer ungünstige
Wendungen zu erzielen? Vielleicht taten sie das nicht in jedem Prozeß, gewiß,
das war nicht wahrscheinlich, es gab dann wohl wieder Prozesse, in deren Verlauf
sie dem Advokaten für seine Dienste Vorteile einräumten, denn es mußte ihnen ja
auch daran gelegen sein, seinen Ruf ungeschädigt zu erhalten. Verhielt es sich
aber wirklich so, in welcher Weise würden sie bei K.s Prozeß eingreifen, der,
wie der Advokat erklärte, ein sehr schwieriger, also wichtiger Prozeß war und
gleich anfangs bei Gericht große Aufmerksamkeit erregt hatte? Es konnte nicht
sehr zweifelhaft sein, was sie tun würden. Anzeichen dessen konnte man ja schon
darin sehn, daß die erste Eingabe noch immer nicht überreicht war, trotzdem der
Prozeß schon Monate dauerte und daß sich alles den Angaben des Advokaten nach in
den Anfängen befand, was natürlich sehr geeignet war, den Angeklagten
einzuschläfern und hilflos zu erhalten, um ihn dann plötzlich mit der
Entscheidung zu überfallen oder wenigstens mit der Bekanntmachung, daß die zu
seinen Ungunsten abgeschlossene Untersuchung an die höhern Behörden
weitergegeben werde.
Es war unbedingt nötig, daß K. selbst eingriff. Gerade
in Zuständen großer Müdigkeit, wie an diesem Wintervormittag, wo ihm alles
willenlos durch den Kopf zog, war diese Überzeugung unabweisbar. Die Verachtung,
die er früher für den Prozeß gehabt hatte, galt nicht mehr. Wäre er allein in
der Welt gewesen, hätte er den Prozeß leicht mißachten können, wenn es
allerdings auch sicher war, daß dann der Prozeß überhaupt nicht entstanden wäre.
Jetzt aber hatte ihn der Onkel schon zum Advokaten gezogen, Familienrücksichten
sprachen mit; seine Stellung war nicht mehr vollständig unabhängig von dem
Verlauf des Prozesses, er selbst hatte unvorsichtigerweise mit einer gewissen
unerklärlichen Genugtuung vor Bekannten den Prozeß erwähnt, andere hatten auf
unbekannte Weise davon erfahren, das Verhältnis zu Fräulein Bürstner schien
entsprechend dem Prozeß zu schwanken – kurz, er hatte kaum mehr die Wahl, den
Prozeß anzunehmen oder abzulehnen, er stand mitten darin und mußte sich wehren.
War er müde, dann war es schlimm.
Zu übertriebener Sorge war allerdings
vorläufig kein Grund. Er hatte es verstanden, sich in der Bank in
verhältnismäßig kurzer Zeit zu seiner hohen Stellung emporzuarbeiten und sich
von allen anerkannt in dieser Stellung zu erhalten, er mußte jetzt nur diese
Fähigkeiten, die ihm das ermöglicht hatten, ein wenig dem Prozeß zuwenden und es
war kein Zweifel, daß es gut ausgehn müßte. Vor allem war es, wenn etwas
erreicht werden sollte, notwendig, jeden Gedanken an eine mögliche Schuld von
vornherein abzulehnen. Es gab keine Schuld. Der Prozeß war nichts anderes als
ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil für die Bank abgeschlossen
hatte, ein Geschäft, innerhalb dessen, wie das die Regel war, verschiedene
Gefahren lauerten, die eben abgewehrt werden mußten. Zu diesem Zwecke durfte man
allerdings nicht mit Gedanken an irgendeine Schuld spielen, sondern den Gedanken
an den eigenen Vorteil möglichst festhalten. Von diesem Gesichtspunkt aus war es
auch unvermeidlich, dem Advokaten die Vertretung sehr bald, am besten noch an
diesem Abend, zu entziehen. Es war zwar nach seinen Erzählungen etwas Unerhörtes
und wahrscheinlich sehr Beleidigendes, aber K. konnte nicht dulden, daß seinen
Anstrengungen in dem Prozeß Hindernisse begegneten, die vielleicht von seinem
eigenen Advokaten veranlaßt waren. War aber einmal der Advokat abgeschüttelt,
dann mußte die Eingabe sofort überreicht und womöglich jeden Tag darauf gedrängt
werden, daß man sie berücksichtige. Zu diesem Zwecke würde es natürlich nicht
genügen, daß K. wie die andern im Gang saß und den Hut unter die Bank
stellte. Er selbst oder die Frauen oder andere Boten mußten Tag für Tag die
Beamten überlaufen und sie zwingen, statt durch das Gitter auf den Gang zu
schauen, sich zu ihrem Tisch zu setzen und K.s Eingabe zu studieren. Von diesen
Anstrengungen dürfte man nicht ablassen, alles müßte organisiert und überwacht
werden, das Gericht sollte einmal auf einen Angeklagten stoßen, der sein Recht
zu wahren verstand.
Wenn sich aber auch K. dies alles durchzuführen
getraute, die Schwierigkeit der Abfassung der Eingabe war überwältigend. Früher,
etwa noch vor einer Woche, hatte er nur mit einem Gefühl der Scham daran denken
können, daß er einmal genötigt sein könnte, eine solche Eingabe selbst zu
machen; daß dies auch schwierig sein konnte, daran hatte er gar nicht gedacht.
Er erinnerte sich, wie er einmal an einem Vormittag, als er gerade mit Arbeit
überhäuft war, plötzlich alles zur Seite geschoben und den Schreibblock
vorgenommen hatte, um versuchsweise den Gedankengang einer derartigen Eingabe zu
entwerfen und ihn vielleicht dem schwerfälligen Advokaten zur Verfügung zu
stellen und wie gerade in diesem Augenblick die Tür des Direktionszimmers sich
öffnete und der Direktor-Stellvertreter mit großem Gelächter eintrat. Es war für
K. damals sehr peinlich gewesen, obwohl der Direktor-Stellvertreter natürlich
nicht über die Eingabe gelacht hatte, von der er nichts wußte, sondern über
einen Börsenwitz, den er eben gehört hatte, einen Witz, der zum Verständnis eine
Zeichnung erforderte, die nun der Direktor-Stellvertreter über K.s Tisch gebeugt
mit K.s Bleistift, den er ihm aus der Hand nahm, auf dem Schreibblock ausführte,
der für die Eingabe bestimmt gewesen war.
Heute wußte K. nichts mehr von
Scham, die Eingabe mußte gemacht werden. Wenn er im Bureau keine Zeit für sie
fand, was sehr wahrscheinlich war, dann mußte er sie zu Hause in den Nächten
machen. Würden auch die Nächte nicht genügen, dann mußte er einen Urlaub nehmen.
Nur nicht auf halbem Wege stehnbleiben, das war nicht nur in Geschäften, sondern
immer und überall das Unsinnigste. Die Eingabe bedeutete freilich eine fast
endlose Arbeit. Man mußte keinen sehr ängstlichen Charakter haben und konnte
doch leicht zu dem Glauben kommen, daß es unmöglich war, die Eingabe jemals
fertigzustellen. Nicht aus Faulheit oder Hinterlist, die den Advokaten allein an
der Fertigstellung hindern konnten, sondern weil in Unkenntnis der vorhandenen
Anklage und gar ihrer möglichen Erweiterungen das ganze Leben in den kleinsten
Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt und von
allen Seiten überprüft werden mußte. Und wie traurig war eine solche Arbeit
überdies. Sie war vielleicht geeignet, einmal nach der Pensionierung den
kindisch gewordenen Geist zu beschäftigen und ihm zu helfen, die langen Tage
hinzubringen. Aber jetzt, wo K. alle Gedanken zu seiner Arbeit brauchte, wo jede
Stunde, da er noch im Aufstieg war und schon für den Direktor- Stellvertreter
eine Drohung bedeutete, mit größter Schnelligkeit verging und wo er die kurzen
Abende und Nächte als junger Mensch genießen wollte, jetzt sollte er mit der
Verfassung dieser Eingabe beginnen. Wieder ging sein Denken in Klagen aus. Fast
unwillkürlich, nur um dem ein Ende zu machen, tastete er mit dem Finger nach dem
Knopf der elektrischen Glocke, die ins Vorzimmer führte. Während er ihn
niederdrückte, blickte er zur Uhr auf. Es war 11 Uhr, zwei Stunden, eine lange
kostbare Zeit hatte er verträumt und war natürlich noch matter als vorher.
Immerhin war die Zeit nicht verloren, er hatte Entschlüsse gefaßt, die wertvoll
sein konnten. Die Diener brachten außer verschiedener Post zwei Visitenkarten
von Herren, die schon längere Zeit auf K. warteten. Es waren gerade sehr
wichtige Kundschaften der Bank, die man eigentlich auf keinen Fall hätte warten
lassen sollen. Warum kamen sie zu so ungelegener Zeit? - und warum, so schienen
wieder die Herren hinter der geschlossenen Tür zu fragen, verwendete der
fleißige K. für Privatangelegenheiten die beste Geschäftszeit? Müde von dem
Vorhergegangenen und müde das Folgende erwartend, stand K. auf, um den ersten zu
empfangen.
Es war ein kleiner munterer Herr, ein Fabrikant, den K. gut
kannte. Er bedauerte, K. in wichtiger Arbeit gestört zu haben und K. bedauerte
seinerseits, daß er den Fabrikanten so lange hatte warten lassen. Schon dieses
Bedauern aber sprach er in derartig mechanischer Weise und mit fast falscher
Betonung aus, daß der Fabrikant, wenn er nicht ganz von der Geschäftssache
eingenommen gewesen wäre, es hätte bemerken müssen. Statt dessen zog er eilig
Rechnungen und Tabellen aus allen Taschen, breitete sie vor K. aus, erklärte
verschiedene Posten, verbesserte einen kleinen Rechenfehler, der ihm sogar bei
diesem flüchtigen Überblick aufgefallen war, erinnerte K. an ein ähnliches
Geschäft, das er mit ihm vor etwa einem Jahr abgeschlossen hatte, erwähnte
nebenbei, daß sich diesmal eine andere Bank unter größten Opfern um das Geschäft
bewerbe und verstummte schließlich, um nun K.s Meinung zu erfahren. K. hatte
auch tatsächlich im Anfang die Rede des Fabrikanten gut verfolgt, der Gedanke an
das wichtige Geschäft hatte dann auch ihn ergriffen, nur leider nicht für die
Dauer, er war bald vom Zuhören abgekommen, hatte dann noch ein Weilchen zu den
lauteren Ausrufen des Fabrikanten mit dem Kopf genickt, hatte aber schließlich
auch das unterlassen und sich darauf eingeschränkt, den kahlen, auf die Papiere
hinabgebeugten Kopf anzusehn und sich zu fragen, wann der Fabrikant endlich
erkennen werde, daß seine ganze Rede nutzlos sei. Als er nun verstummte, glaubte
K. zuerst wirklich, es geschehe dies deshalb, um ihm Gelegenheit zu dem
Eingeständnis zu geben, daß er nicht fähig sei, zuzuhören. Nur mit Bedauern
merkte er aber an dem gespannten Blick des offenbar auf alle Entgegnungen
gefaßten Fabrikanten, daß die geschäftliche Besprechung fortgesetzt werden
müsse. Er neigte also den Kopf wie vor einem Befehl und begann mit dem Bleistift
langsam über den Papieren hin- und herzufahren, hie und da hielt er inne und
starrte eine Ziffer an. Der Fabrikant vermutete Einwände, vielleicht waren die
Ziffern wirklich nicht feststehend, vielleicht waren sie nicht das
Entscheidende, jedenfalls bedeckte der Fabrikant die Papiere mit der Hand und
begann von neuem, ganz nahe an K. heranrückend, eine allgemeine Darstellung des
Geschäftes. „Es ist schwierig,“ sagte K., rümpfte die Lippen und sank, da die
Papiere, das einzig Faßbare, verdeckt waren, haltlos gegen die Seitenlehne. Er
blickte sogar nur schwach auf, als sich die Tür des Direktionszimmers öffnete
und dort nicht ganz deutlich, etwa wie hinter einem Gazeschleier, der
Direktor-Stellvertreter erschien. K. dachte nicht weiter darüber nach, sondern
verfolgte nur die unmittelbare Wirkung, die für ihn sehr erfreulich war. Denn
sofort hüpfte der Fabrikant vom Sessel auf und eilte dem Direktor-Stellvertreter
entgegen, K. aber hätte ihn noch zehnmal flinker machen sollen, denn er
fürchtete, der Direktor-Stellvertreter könnte wieder verschwinden. Es war
unnütze Furcht, die Herren trafen sich, reichten einander die Hände und gingen
gemeinsam auf K.s Schreibtisch zu. Der Fabrikant beklagte sich, daß er beim
Prokuristen so wenig Neigung für das Geschäft gefunden habe, und zeigte auf K.,
der sich unter dem Blick des Direktor-Stellvertreters wieder über die Papiere
beugte. Als dann die zwei sich an den Schreibtisch lehnten und der Fabrikant
sich daran machte, den Direktor–Stellvertreter für sich zu erobern, war es K.,
als werde über seinem Kopf von zwei Männern, deren Größe er sich übertrieben
vorstellte, über ihn selbst verhandelt. Langsam suchte er mit vorsichtig
aufwärts gedrehten Augen zu erfahren, was sich oben ereignete, nahm vom
Schreibtisch ohne hinzusehn eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und
hob es allmählich, während er selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte
hiebei an nichts Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefühl, daß er sich so
verhalten müßte, wenn er einmal die große Eingabe fertiggestellt hätte, die ihn
gänzlich entlasten sollte. Der Direktor-Stellvertreter, der sich an dem Gespräch
mit aller Aufmerksamkeit beteiligte, sah nur flüchtig auf das Papier, überlas
gar nicht, was dort stand, denn was dem Prokuristen wichtig war, war ihm
unwichtig, nahm es aus K.s Hand, sagte: „danke, ich weiß schon alles“ und legte
es ruhig wieder auf den Tisch zurück. K. sah ihn verbittert von der Seite an.
Der Direktor-Stellvertreter aber merkte es gar nicht oder wurde, wenn er es
merkte, dadurch nur aufgemuntert, lachte öfters laut auf, brachte einmal durch
eine schlagfertige Entgegnung den Fabrikanten in deutliche Verlegenheit, aus der
er ihn aber sofort riß, indem er sich selbst einen Einwand machte, und lud ihn
schließlich ein, in sein Bureau hinüberzukommen, wo sie die Angelegenheit zu
Ende führen könnten. „Es ist eine sehr wichtige Sache,“ sagte er zu dem
Fabrikanten, „ich sehe das vollständig ein. Und dem Herrn Prokuristen“ – selbst
bei dieser Bemerkung redete er eigentlich nur zum Fabrikanten – „wird es gewiß
lieb sein, wenn wir es ihm abnehmen. Die Sache verlangt ruhige Überlegung. Er
aber scheint heute sehr überlastet zu sein, auch warten ja einige Leute im
Vorzimmer schon stundenlang auf ihn.“ K. hatte gerade noch genügend Fassung,
sich vom Direktor-Stellvertreter wegzudrehn und sein freundliches, aber starres
Lächeln nur dem Fabrikanten zuzuwenden, sonst griff er gar nicht ein, stützte
sich ein wenig vorgebeugt mit beiden Händen auf den Schreibtisch wie ein Kommis
hinter dem Pult und sah zu, wie die zwei Herren unter weiteren Reden die Papiere
vom Tisch nahmen und im Direktionszimmer verschwanden. In der Tür drehte sich
der Fabrikant noch um, sagte, er verabschiede sich noch nicht, sondern werde
natürlich dem Herrn Prokuristen über den Erfolg der Besprechung berichten, auch
habe er ihm noch eine andere kleine Mitteilung zu machen.
Endlich war K.
allein. Er dachte gar nicht daran, irgendeine andere Partei vorzulassen, und nur
undeutlich kam ihm zu Bewußtsein, wie angenehm es sei, daß die Leute draußen in
dem Glauben waren, er verhandle noch mit dem Fabrikanten und es könne aus diesem
Grunde niemand, nicht einmal der Diener, bei ihm eintreten. Er ging zum Fenster,
setzte sich auf die Brüstung, hielt sich mit einer Hand an der Klinke fest und
sah auf den Platz hinaus. Der Schnee fiel noch immer, es hatte sich noch gar
nicht aufgehellt.
Lange saß er so, ohne zu wissen, was ihm eigentlich
Sorgen machte, nur von Zeit zu Zeit blickte er ein wenig erschreckt über die
Schulter hinweg zur Vorzimmertür, wo er irrtümlicherweise ein Geräusch zu hören
geglaubt hatte. Da aber niemand kam, wurde er ruhiger, ging zum Waschtisch,
wusch sich mit kaltem Wasser und kehrte mit freierem Kopf zu seinem Fensterplatz
zurück. Der Entschluß, seine Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen, stellte
sich ihm nun schwerwiegender dar, als er ursprünglich angenommen hatte. Solange
er die Verteidigung auf den Advokaten überwälzt hatte, war er doch noch vom
Prozeß im Grunde wenig betroffen gewesen, er hatte ihn von der Ferne beobachtet
und hatte unmittelbar von ihm kaum erreicht werden können, er hatte nachsehn
können, wann er wollte, wie seine Sache stand, aber er hatte auch den Kopf
wieder zurückziehn können, wann er wollte. Jetzt hingegen, wenn er seine
Verteidigung selbst führen würde, mußte er sich wenigstens für den Augenblick
ganz und gar dem Gericht aussetzen, der Erfolg dessen sollte ja für später seine
vollständige und endgültige Befreiung sein, aber um diese zu erreichen, mußte er
sich vorläufig jedenfalls in viel größere Gefahr begeben als bisher. Hätte er
daran zweifeln wollen, so hätte ihn das heutige Beisammensein mit dem
Direktor-Stellvertreter und dem Fabrikanten hinreichend vom Gegenteil überzeugen
können. Wie war er doch dagesessen, schon vom bloßen Entschluß, sich selbst zu
verteidigen, gänzlich benommen? Wie sollte es aber später werden? Was für Tage
standen ihm bevor! Würde er den Weg finden, der durch alles hindurch zum guten
Ende führte? Bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung – und alles andere
war sinnlos – bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung gleichzeitig die
Notwendigkeit, sich von allem andern möglichst anzuschließen? Würde er das
glücklich überstehn? Und wie sollte ihm die Durchführung in der Bank gelingen?
Es handelte sich ja nicht nur um die Eingabe, für die ein Urlaub vielleicht
genügt hätte, trotzdem die Bitte um einen Urlaub gerade jetzt ein großes Wagnis
gewesen wäre, es handelte sich doch um einen ganzen Prozeß, dessen Dauer
unabsehbar war. Was für ein Hindernis war plötzlich in K.s Laufbahn geworfen
worden!
Und jetzt sollte er für die Bank arbeiten? – Er sah auf den
Schreibtisch hin. – Jetzt sollte er Parteien vorlassen und mit ihnen verhandeln?
Während sein Prozeß weiterrollte, während oben auf dem Dachboden die
Gerichtsbeamten über den Schriften dieses Prozesses saßen, sollte er die
Geschäfte der Bank besorgen? Sah es nicht aus wie eine Folter, die, vom Gericht
anerkannt, mit dem Prozeß zusammenhing und ihn begleitete? Und würde man etwa in
der Bank bei der Beurteilung seiner Arbeit seine besondere Lage berücksichtigen?
Niemand und niemals. Ganz unbekannt war ja sein Prozeß nicht, wenn es auch noch
nicht ganz klar war, wer davon wußte und wieviel. Bis zum
Direktor-Stellvertreter aber war das Gerücht hoffentlich noch nicht gedrungen,
sonst hätte man schon deutlich sehen müssen, wie er es ohne jede Kollegialität
und Menschlichkeit gegen K. ausnützen würde. Und der Direktor? Gewiß, er war K.
gut gesinnt und er hätte wahrscheinlich, sobald er vom Prozeß erfahren hätte,
soweit es an ihm lag, manche Erleichterungen für K. schaffen wollen, aber er
wäre damit gewiß nicht durchgedrungen, denn er unterlag jetzt, da das
Gegengewicht, das K. bisher gebildet hatte, schwächer zu werden anfing, immer
mehr dem Einfluß des Direktor-Stellvertreters, der außerdem auch den leidenden
Zustand des Direktors zur Stärkung der eigenen Macht ausnutzte. Was hatte also
K. zu erhoffen? Vielleicht schwächte er durch solche Überlegungen seine
Widerstandskraft, aber es war doch auch notwendig, sich selbst nicht zu täuschen
und alles so klar zu sehn, als es augenblicklich möglich war.
Ohne
besondern Grund, nur um vorläufig noch nicht zum Schreibtisch zurückkehren zu
müssen, öffnete er das Fenster. Es ließ sich nur schwer öffnen, er mußte mit
beiden Händen die Klinke drehn. Dann zog durch das Fenster in dessen ganzer
Breite und Höhe der mit Rauch vermischte Nebel in das Zimmer und füllte es mit
einem leichten Brandgeruch. Auch einige Schneeflocken wurden hereingeweht. „Ein
häßlicher Herbst,“ sagte hinter K. der Fabrikant, der, vom
Direktor-Stellvertreter kommend, unbemerkt ins Zimmer getreten war. K. nickte
und sah unruhig auf die Aktentasche des Fabrikanten, aus der dieser nun wohl die
Papiere herausziehn würde, um K. das Ergebnis der Verhandlungen mit dem
Direktor-Stellvertreter mitzuteilen. Der Fabrikant aber folgte K.s Blick,
klopfte auf seine Tasche und sagte, ohne sie zu öffnen: „Sie wollen hören, wie
es ausgefallen ist. Ich trage schon fast den Geschäftsabschluß in der Tasche.
Ein reizender Mensch, Ihr Direktor-Stellvertreter, aber durchaus nicht
ungefährlich.“ Er lachte, schüttelte K.s Hand und wollte auch ihn zum Lachen
bringen. Aber K. schien es nun wieder verdächtig, daß ihm der Fabrikant die
Papiere nicht zeigen wollte und er fand an der Bemerkung des Fabrikanten nichts
zum Lachen. „Herr Prokurist,“ sagte der Fabrikant, „Sie leiden wohl unter dem
Wetter. Sie sehn heute so bedrückt aus.“ „Ja,“ sagte K. und griff mit der Hand
an die Schläfe, „Kopfschmerzen, Familiensorgen.“ „Sehr richtig,“ sagte der
Fabrikant, der ein eiliger Mensch war und niemanden ruhig anhören konnte, „jeder
hat sein Kreuz zu tragen.“ Unwillkürlich hatte K. einen Schritt gegen die Tür
gemacht, als wolle er den Fabrikanten hinausbegleiten, dieser aber sagte: „Ich
hätte, Herr Prokurist, noch eine kleine Mitteilung für Sie. Ich fürchte sehr,
daß ich Sie gerade heute damit vielleicht belästige, aber ich war schon zweimal
in der letzten Zeit bei Ihnen und habe es jedesmal vergessen. Schiebe ich es
aber noch weiterhin auf, verliert es wahrscheinlich vollständig seinen Zweck.
Das wäre aber schade, denn im Grunde ist meine Mitteilung vielleicht doch nicht
wertlos.“ Ehe K. Zeit hatte zu antworten, trat der Fabrikant nahe an ihn heran,
klopfte mit dem Fingerknöchel leicht an seine Brust und sagte leise: „Sie haben
einen Prozeß, nicht wahr?“ K. trat zurück und rief sofort: „Das hat Ihnen der
Direktor-Stellvertreter gesagt.“ „Ach nein,“ sagte der Fabrikant, „woher sollte
denn der Direktor-Stellvertreter es wissen?“ „Durch Sie?“ fragte K. schon viel
gefaßter. „Ich erfahre hie und da etwas von dem Gericht,“ sagte der Fabrikant,
„das betrifft eben die Mitteilung, die ich Ihnen machen wollte.“ „So viel Leute
sind mit dem Gericht in Verbindung!“ sagte K. mit gesenktem Kopf und führte den
Fabrikanten zum Schreibtisch. Sie setzten sich wieder wie früher und der
Fabrikant sagte: „Es ist leider nicht sehr viel, was ich Ihnen mitteilen kann.
Aber in solchen Dingen soll man nicht das Geringste vernachlässigen. Außerdem
drängt es mich aber, Ihnen irgendwie zu helfen, und sei meine Hilfe noch so
bescheiden. Wir waren doch bisher gute Geschäftsfreunde, nicht? Nun also.“ K.
wollte sich wegen seines Verhaltens bei der heutigen Besprechung entschuldigen,
aber der Fabrikant duldete keine Unterbrechung, schob die Aktentasche hoch unter
die Achsel, um zu zeigen, daß er Eile habe, und fuhr fort: „Von Ihrem Prozeß
weiß ich durch einen gewissen Titorelli. Es ist ein Maler, Titorelli ist nur
sein Künstlername, seinen wirklichen Namen kenne ich gar nicht. Er kommt schon
seit Jahren von Zeit zu Zeit in mein Bureau und bringt kleine Bilder mit, für
die ich ihm – er ist fast ein Bettler – immer eine Art Almosen gebe. Es sind
übrigens hübsche Bilder, Heidelandschaften und dergleichen. Diese Verkäufe – wir
hatten uns schon beide daran gewöhnt – gingen ganz glatt vor sich. Einmal aber
wiederholten sich diese Besuche doch zu oft, ich machte ihm Vorwürfe, wir kamen
ins Gespräch, es interessierte mich, wie er sich allein durch Malen erhalten
könne, und ich erfuhr nun zu meinem Staunen, daß seine Haupteinnahmequelle das
Porträtmalen sei. Er arbeite für das Gericht, sagte er. Für welches Gericht,
fragte ich. Und nun erzählte er mir von dem Gericht. Sie werden sich wohl am
besten vorstellen können, wie erstaunt ich über diese Erzählungen war. Seitdem
höre ich bei jedem seiner Besuche irgendwelche Neuigkeiten vom Gericht und
bekomme so allmählich einen großen Einblick in die Sache. Allerdings ist
Titorelli geschwätzig und ich muß ihn oft abwehren, nicht nur weil er gewiß auch
lügt, sondern vor allem, weil ein Geschäftsmann wie ich, der unter den eigenen
Geschäftssorgen fast zusammenbricht, sich nicht noch viel um fremde Dinge
kümmern kann. Aber das nur nebenbei. Vielleicht – so dachte ich jetzt – kann
Ihnen Titorelli ein wenig behilflich sein, er kennt viele Richter und wenn er
selbst auch keinen großen Einfluß haben sollte, so kann er Ihnen doch Ratschläge
geben, wie man verschiedenen einflußreichen Leuten beikommen kann. Und wenn auch
diese Ratschläge an und für sich nicht entscheidend sein sollten, so werden sie
doch meiner Meinung nach in Ihrem Besitz von großer Bedeutung sein. Sie sind ja
fast ein Advokat. Ich pflege immer zu sagen: Prokurist K. ist fast ein Advokat.
Oh, ich habe keine Sorgen wegen Ihres Prozesses. Wollen Sie nun aber zu
Titorelli gehen? Auf meine Empfehlung hin wird er gewiß alles tun, was ihm
möglich ist. Ich denke wirklich, Sie sollten hingehn. Es muß natürlich nicht
heute sein, einmal, gelegentlich. Allerdings sind Sie – das will ich noch sagen
– dadurch, daß gerade ich Ihnen diesen Rat gebe, nicht im geringsten
verpflichtet, auch wirklich zu Titorelli hinzugehn. Nein, wenn Sie Titorelli
entbehren zu können glauben, ist es gewiß besser, ihn ganz beiseite zu lassen.
Vielleicht haben Sie schon einen ganz genauen Plan und Titorelli könnte ihn
stören. Nein, dann gehn Sie natürlich auf keinen Fall hin. Es kostet gewiß auch
Überwindung, sich von einem solchen Burschen Ratschläge geben zu lassen. Nun,
wie Sie wollen. Hier ist das Empfehlungsschreiben und hier die Adresse.“
Enttäuscht nahm K. den Brief und steckte ihn in die Tasche. Selbst im
günstigsten Falle war der Vorteil, den ihm die Empfehlung bringen konnte,
unverhältnismäßig kleiner als der Schaden, der darin lag, daß der Fabrikant von
seinem Prozeß wußte und daß der Maler die Nachricht weiter verbreitete. Er
konnte sich kaum dazu zwingen, dem Fabrikanten, der schon auf dem Weg zur Tür
war, mit ein paar Worten zu danken. „Ich werde hingehn,“ sagte er, als er sich
bei der Tür vom Fabrikanten verabschiedete, „oder ihm, da ich jetzt sehr
beschäftigt bin, schreiben, er möge einmal zu mir ins Bureau kommen.“ „Ich wußte
ja,“ sagte der Fabrikant, „daß Sie den besten Ausweg finden würden. Allerdings
dachte ich, daß Sie es lieber vermeiden wollen, Leute wie diesen Titorelli in
die Bank einzuladen, um mit ihm hier über den Prozeß zu sprechen. Es ist auch
nicht immer vorteilhaft, Briefe an solche Leute aus der Hand zu geben. Aber Sie
haben gewiß alles durchgedacht und wissen, was Sie tun dürfen.“ K. nickte und
begleitete den Fabrikanten noch durch das Vorzimmer. Aber trotz äußerlicher Ruhe
war er über sich sehr erschrocken. Daß er Titorelli schreiben würde, hatte er
eigentlich nur gesagt, um dem Fabrikanten irgendwie zu zeigen, daß er die
Empfehlung zu schätzen wisse und die Möglichkeiten mit Titorelli
zusammenzukommen sofort überlege, aber wenn er Titorellis Beistand für wertvoll
angesehen hätte, hätte er auch nicht gezögert, ihm wirklich zu schreiben. Die
Gefahren aber, die das zur Folge haben könnte, hatte er erst durch die Bemerkung
des Fabrikanten erkannt. Konnte er sich auf seinen eigenen Verstand tatsächlich
schon so wenig verlassen? Wenn es möglich war, daß er einen fragwürdigen
Menschen durch einen deutlichen Brief in die Bank einlud, um von ihm, nur durch
eine Tür vom Direktor-Stellvertreter getrennt, Ratschläge wegen seines Prozesses
zu erbitten, war es dann nicht möglich und sogar sehr wahrscheinlich, daß er
auch andere Gefahren übersah oder in sie hineinrannte? Nicht immer stand jemand
neben ihm, um ihn zu warnen. Und gerade jetzt, wo er mit gesammelten Kräften
auftreten wollte, mußten derartige, ihm bisher fremde Zweifel an seiner eigenen
Wachsamkeit auftreten! Sollten die Schwierigkeiten, die er bei Ausführung seiner
Bureauarbeit fühlte, nun auch im Prozeß beginnen? Jetzt allerdings begriff er es
gar nicht mehr, wie es möglich gewesen war, daß er an Titorelli hatte schreiben
und ihn in die Bank einladen wollen. Er schüttelte noch den Kopf darüber,
als der Diener an seine Seite trat und ihn auf drei Herren aufmerksam machte,
die hier im Vorzimmer auf einer Bank saßen. Sie warteten schon lange darauf, zu
K. vorgelassen zu werden. Jetzt, da der Diener mit K. sprach, waren sie
aufgestanden und jeder wollte eine günstige Gelegenheit ausnützen, um sich vor
den andern an K. heranzumachen. Da man von seiten der Bank so rücksichtslos war,
sie hier im Wartezimmer ihre Zeit verlieren zu lassen, wollten auch sie keine
Rücksicht mehr üben. „Herr Prokurist,“ sagte schon der eine. Aber K. hatte sich
vom Diener den Winterrock bringen lassen und sagte, während er ihn mit Hilfe des
Dieners anzog, zu allen dreien: „Verzeihen Sie meine Herren, ich habe
augenblicklich leider keine Zeit, Sie zu empfangen. Ich bitte Sie sehr um
Verzeihung, aber ich habe einen dringenden Geschäftsgang zu erledigen und muß
sofort weggehn. Sie haben ja selbst gesehn, wie lange ich jetzt aufgehalten
wurde. Wären Sie so freundlich, morgen oder wann immer wiederzukommen? Oder
wollen wir die Sachen vielleicht telephonisch besprechen? Oder wollen Sie mir
vielleicht jetzt kurz sagen, um was es sich handelt, und ich gebe Ihnen dann
eine ausführliche schriftliche Antwort. Am besten wäre es allerdings, Sie kämen
nächstens.“ Diese Vorschläge K.s brachten die Herren, die nun vollständig
nutzlos gewartet haben sollten, in solches Staunen, daß sie einander stumm
ansahen. „Wir sind also einig?“ fragte K., der sich nach dem Diener umgewendet
hatte, der ihm nun auch den Hut brachte. Durch die offene Tür zu K.s Zimmer sah
man, wie sich draußen der Schneefall sehr verstärkt hatte. K. schlug daher den
Mantelkragen in die Höhe und knöpfte ihn hoch unter dem Halse zu.
Da trat
gerade aus dem Nebenzimmer der Direktor- Stellvertreter, sah lächelnd K. im
Winterrock mit den Herren verhandeln und fragte: „Sie gehn jetzt weg, Herr
Prokurist.“ „Ja,“ sagte K. und richtete sich auf, „ich habe einen Geschäftsgang
zu machen.“ Aber der Direktor-Stellvertreter hatte sich schon den Herren
zugewendet. „Und die Herren?“ fragte er. „Ich glaube, sie warten schon lange.“
„Wir haben uns schon geeinigt,“ sagte K. Aber nun ließen sich die Herren nicht
mehr halten, umringten K. und erklärten, daß sie nicht stundenlang gewartet
hätten, wenn ihre Angelegenheiten nicht wichtig wären und nicht jetzt, und zwar
ausführlich und unter vier Augen besprochen werden müßten. Der
Direktor-Stellvertreter hörte ihnen ein Weilchen zu, betrachtete auch K., der
den Hut in der Hand hielt und ihn stellenweise von Staub reinigte, und sagte
dann: „Meine Herren, es gibt ja einen sehr einfachen Ausweg. Wenn Sie mit mir
vorlieb nehmen wollen, übernehme ich sehr gerne die Verhandlungen statt des
Herrn Prokuristen. Ihre Angelegenheiten müssen natürlich sofort besprochen
werden. Wir sind Geschäftsleute wie Sie und wissen die Zeit von Geschäftsleuten
richtig zu bewerten. Wollen Sie hier eintreten?“ Und er öffnete die Tür, die zu
dem Vorzimmer seines Bureaus führte.
Wie sich doch der
Direktor-Stellvertreter alles anzueignen verstand, was K. jetzt notgedrungen
aufgeben mußte! Gab aber K. nicht mehr auf, als unbedingt nötig war? Während er
mit unbestimmten und, wie er sich eingestehen mußte, sehr geringen Hoffnungen zu
einem unbekannten Maler lief, erlitt hier sein Ansehen eine unheilbare
Schädigung. Es wäre wahrscheinlich viel besser gewesen, den Winterrock wieder
auszuziehn und wenigstens die zwei Herren, die ja nebenan doch noch warten
mußten, für sich zurückzugewinnen. K. hätte es vielleicht auch versucht, wenn er
nicht jetzt in seinem Zimmer den Direktor-Stellvertreter erblickt hätte, wie er
im Bücherständer, als wäre es sein eigener, etwas suchte. Als K. sich erregt der
Tür näherte, rief er: „Ach, Sie sind noch nicht weggegangen.“ Er wandte ihm sein
Gesicht zu, dessen viele straffe Falten nicht Alter, sondern Kraft zu beweisen
schienen, und fing sofort wieder zu suchen an. „Ich suche eine
Vertragsabschrift,“ sagte er, „die sich, wie der Vertreter der Firma behauptet,
bei Ihnen befinden soll. Wollen Sie mir nicht suchen helfen.“ K. machte einen
Schritt, aber der Direktor-Stellvertreter sagte: „Danke, ich habe es schon
gefunden,“ und kehrte mit einem großen Paket Schriften, das nicht nur die
Vertragsabschrift, sondern gewiß noch vieles andere enthielt, wieder in sein
Zimmer zurück.
Jetzt bin ich ihm nicht gewachsen, sagte sich K., wenn aber
meine persönlichen Schwierigkeiten einmal beseitigt sein werden, dann soll er
wahrhaftig der erste sein, der es zu fühlen bekommt, und zwar möglichst bitter.
Durch diesen Gedanken ein wenig beruhigt, gab K. dem Diener, der schon lange die
Tür zum Korridor für ihn offenhielt, den Auftrag, dem Direktor gelegentlich die
Meldung zu machen, daß er sich auf einem Geschäftsgang befinde, und verließ fast
glücklich darüber, sich eine Zeitlang vollständiger seiner Sache widmen zu
können, die Bank.
Er fuhr sofort zum Maler, der in einer Vorstadt wohnte,
die jener, in welcher sich die Gerichtskanzleien befanden, vollständig
entgegengesetzt war. Es war eine noch ärmere Gegend, die Häuser noch dunkler,
die Gassen voll Schmutz, der auf dem zerflossenen Schnee langsam umhertrieb. Im
Hause, in dem der Maler wohnte, war nur ein Flügel des großen Tores geöffnet, in
den andern aber war unten in der Mauer eine Lücke gebrochen, aus der gerade, als
sich K. näherte, eine widerliche gelbe, rauchende Flüssigkeit herausschoß, vor
der sich eine Ratte in den nahen Kanal flüchtete. Unten an der Treppe lag ein
kleines Kind bäuchlings auf der Erde und weinte, aber man hörte es kaum infolge
des alles übertönenden Lärms, der aus einer Klempnerwerkstätte auf der andern
Seite des Torganges kam. Die Tür der Werkstätte war offen, drei Gehilfen standen
im Halbkreis um irgendein Werkstück, auf das sie mit den Hämmern schlugen. Eine
große Platte Weißblech, die an der Wand hing, warf ein bleiches Licht, das
zwischen zwei Gehilfen eindrang und die Gesichter und Arbeitsschürzen erhellte.
K. hatte für alles nur einen flüchtigen Blick, er wollte möglichst rasch hier
fertig werden, nur den Maler mit ein paar Worten ausforschen und sofort wieder
in die Bank zurückgehn. Wenn er hier nur den kleinsten Erfolg hatte, sollte das
auf seine heutige Arbeit in der Bank noch eine gute Wirkung ausüben. Im dritten
Stockwerk mußte er seinen Schritt mäßigen, er war ganz außer Atem, die Treppen
ebenso wie die Stockwerke waren übermäßig hoch, und der Maler sollte ganz oben
in einer Dachkammer wohnen. Auch war die Luft sehr drückend, es gab keinen
Treppenhof, die enge Treppe war auf beiden Seiten von Mauern eingeschlossen, in
denen nur hier und da fast ganz oben kleine Fenster angebracht waren. Gerade als
K. ein wenig stehenblieb, liefen ein paar kleine Mädchen aus einer Wohnung
heraus und eilten lachend die Treppe weiter hinauf. K. folgte ihnen langsam,
holte eines der Mädchen ein, das gestolpert und hinter den andern
zurückgeblieben war, und fragte es, während sie neben einander weiterstiegen:
„Wohnt hier ein Maler Titorelli?“ Das Mädchen, ein kaum dreizenjähriges, etwas
buckliges Mädchen, stieß ihn darauf mit dem Ellbogen an und sah von der Seite zu
ihm auf. Weder ihre Jugend, noch ihr Körperfehler hatte verhindern können, daß
sie schon ganz verdorben war. Sie lächelte nicht einmal, sondern sah K. ernst
mit scharfem, aufforderndem Blicke an. K. tat, als hätte er ihr Benehmen nicht
bemerkt, und fragte: „Kennst du den Maler Titorelli?“ Sie nickte und fragte
ihrerseits: „Was wollen Sie von ihm?“ K. schien es vorteilhaft, sich noch
schnell ein wenig über Titorelli zu unterrichten: „Ich will mich von ihm malen
lassen,“ sagte er. „Malen lassen?“ fragte sie, öffnete übermäßig den Mund,
schlug leicht mit der Hand gegen K., als hätte er etwas außerordentlich
Überraschendes oder Ungeschicktes gesagt, hob mit beiden Händen ihr ohnedies
sehr kurzes Röckchen und lief, so schnell sie konnte, hinter den andern Mädchen
her, deren Geschrei schon undeutlich in der Höhe sich verlor. Bei der nächsten
Wendung der Treppe aber traf K. schon wieder alle Mädchen. Sie waren offenbar
von der Buckligen von K.s Absicht verständigt worden und erwarteten ihn. Sie
standen zu beiden Seiten der Treppe, drückten sich an die Mauer, damit K. bequem
zwischen ihnen durchkomme und glätteten mit der Hand ihre Schürzen. Alle
Gesichter, wie auch diese Spalierbildung stellten eine Mischung von Kindlichkeit
und Verworfenheit dar. Oben an der Spitze der Mädchen, die sich jetzt hinter K.
lachend zusammenschlossen, war die Bucklige, welche die Führung übernahm. K.
hatte es ihr zu verdanken, daß er gleich den richtigen Weg fand. Er wollte
nämlich geradeaus weitersteigen, sie aber zeigte ihm, daß er eine Abzweigung der
Treppe wählen müsse, um zu Titorelli zu kommen. Die Treppe, die zu ihm führte,
war besonders schmal, sehr lang, ohne Biegung, in ihrer ganzen Länge zu übersehn
und oben unmittelbar vor Titorellis Tür abgeschlossen. Diese Tür, die durch ein
kleines, schief über ihr eingesetztes Oberlichtfenster im Gegensatz zur übrigen
Treppe verhältnismäßig hell beleuchtet wurde, war aus nicht übertünchten Balken
zusammengesetzt, auf die der Name Titorelli mit roter Farbe in breiten
Pinselstrichen gemalt war. K. war mit seinem Gefolge noch kaum in der Mitte der
Treppe, als oben, offenbar veranlaßt durch das Geräusch der vielen Schritte, die
Tür ein wenig geöffnet wurde und ein wahrscheinlich nur mit einem Nachthemd
bekleideter Mann in der Türspalte erschien. „Oh!“ rief er, als er die Menge
kommen sah, und verschwand. Die Bucklige klatschte vor Freude in die Hände und
die übrigen Mädchen drängten hinter K., um ihn schneller vorwärtszutreiben.
Sie waren aber noch nicht einmal hinaufgekommen, als oben der Maler die Tür
gänzlich aufriß und mit einer tiefen Verbeugung K. einlud einzutreten. Die
Mädchen dagegen wehrte er ab, er wollte keine von ihnen einlassen, sosehr sie
baten und so sehr sie versuchten, wenn schon nicht mit seiner Erlaubnis, so
gegen seinen Willen einzudringen. Nur der Buckligen gelang es, unter seinem
ausgestreckten Arm durchzuschlüpfen, aber der Maler jagte hinter ihr her, packte
sie bei den Röcken, wirbelte sie einmal um sich herum und setzte sie dann vor
der Tür bei den andern Mädchen ab, die es, während der Maler seinen Posten
verlassen hatte, doch nicht gewagt hatten, die Schwelle zu überschreiten. K.
wußte nicht, wie er das Ganze beurteilen sollte, es hatte nämlich den Anschein,
als ob alles in freundschaftlichem Einvernehmen geschehe. Die Mädchen bei der
Tür streckten eines hinter dem andern die Hälse in die Höhe, riefen dem Maler
verschiedene scherzhaft gemeinte Worte zu, die K. nicht verstand und auch der
Maler lachte, während die Bucklige in seiner Hand fast flog. Dann schloß er die
Tür, verbeugte sich nochmals vor K., reichte ihm die Hand und sagte, sich
vorstellend: „Kunstmaler Titorelli.“ K. zeigte auf die Tür, hinter der die
Mädchen flüsterten und sagte: „Sie scheinen im Hause sehr beliebt zu sein.“
„Ach, die Fratzen!“ sagte der Maler und suchte vergebens sein Nachthemd am Halse
zuzuknöpfen. Er war im übrigen bloßfüßig und nur noch mit einer breiten
gelblichen Leinenhose bekleidet, die mit einem Riemen festgemacht war, dessen
langes Ende frei hin und her schlug. „Diese Fratzen sind mir eine wahre Last,“
fuhr er fort, während er vom Nachthemd, dessen letzter Knopf gerade abgerissen
war, abließ, einen Sessel holte und K. zum Niedersetzen nötigte. „Ich habe eine
von ihnen – sie ist heute nicht einmal dabei – einmal gemalt und seitdem
verfolgen mich alle. Wenn ich selbst hier bin, kommen sie nur herein, wenn ich
es erlaube, bin ich aber einmal weg, dann ist immer zumindest eine da. Sie haben
sich einen Schlüssel zu meiner Tür machen lassen, den sie untereinander
verleihen. Man kann sich kaum vorstellen, wie lästig das ist. Ich komme z. B.
mit einer Dame, die ich malen soll, nach Hause, öffne die Tür mit meinem
Schlüssel und finde etwa die Bucklige dort beim Tischchen, wie sie sich mit dem
Pinsel die Lippen rot färbt, während ihre kleinen Geschwister, die sie zu
beaufsichtigen hat, sich herumtreiben und das Zimmer in allen Ecken
verunreinigen. Oder ich komme, wie es mir erst gestern geschehen ist, spät
abends nach Hause – entschuldigen Sie bitte mit Rücksicht darauf meinen Zustand
und die Unordnung im Zimmer – also ich komme spät abends nach Hause und will ins
Bett steigen, da zwickt mich etwas ins Bein, ich schaue unter das Bett und ziehe
wieder so ein Ding heraus. Warum sie sich so zu mir drängen, weiß ich nicht, daß
ich sie nicht zu mir zu locken suche, dürften Sie eben bemerkt haben. Natürlich
bin ich dadurch auch in meiner Arbeit gestört. Wäre mir dieses Atelier nicht
umsonst zur Verfügung gestellt, ich wäre schon längst ausgezogen.“ Gerade rief
hinter der Tür ein Stimmchen, zart und ängstlich: „Titorelli, dürfen wir schon
kommen?“ „Nein,“ antwortete der Maler. „Ich allein auch nicht?“ fragte es
wieder. „Auch nicht,“ sagte der Maler, ging zur Tür und sperrte sie ab.
K.
hatte sich inzwischen im Zimmer umgesehen, er wäre niemals selbst auf den
Gedanken gekommen, daß man dieses elende kleine Zimmer ein Atelier nennen
könnte. Mehr als zwei lange Schritte konnte man der Länge und Quere nach kaum
hier machen. Alles, Fußboden, Wände und Zimmerdecke, war aus Holz, zwischen den
Balken sah man schmale Ritzen. K. gegenüber stand an der Wand das Bett, das mit
verschiedenfarbigem Bettzeug überladen war. In der Mitte des Zimmers war auf
einer Staffelei ein Bild, das mit einem Hemd verhüllt war, dessen Ärmel bis zum
Boden baumelten. Hinter K. war das Fenster, durch das man im Nebel nicht weiter
sehen konnte als über das mit Schnee bedeckte Dach des Nachbarhauses.
Das
Umdrehn des Schlüssels im Schloß erinnerte K. daran, daß er bald hatte weggehn
wollen. Er zog daher den Brief des Fabrikanten aus der Tasche, reichte ihn dem
Maler und sagte: „Ich habe durch diesen Herrn, Ihren Bekannten, von Ihnen
erfahren und bin auf seinen Rat hin gekommen.“ Der Maler las den Brief flüchtig
durch und warf ihn aufs Bett. Hätte der Fabrikant nicht auf das bestimmteste von
Titorelli als von seinem Bekannten gesprochen, als von einem armen Menschen, der
auf seine Almosen angewiesen war, so hätte man jetzt wirklich glauben können,
Titorelli kenne den Fabrikanten nicht oder wisse sich an ihn wenigstens nicht zu
erinnern. Überdies fragte nun der Maler: „Wollen Sie Bilder kaufen oder sich
selbst malen lassen?“ K. sah den Maler erstaunt an. Was stand denn eigentlich in
dem Brief? K. hatte es als selbstverständlich angenommen, daß der Fabrikant in
dem Brief den Maler davon unterrichtet hatte, daß K. nichts anderes wollte, als
sich hier wegen seines Prozesses zu erkundigen. Er war doch gar zu eilig und
unüberlegt hierhergelaufen! Aber er mußte jetzt dem Maler irgendwie antworten
und sagte mit einem Blick auf die Staffelei: „Sie arbeiten gerade an einem
Bild?“ „Ja,“ sagte der Maler und warf das Hemd, das über der Staffelei hing, dem
Brief nach auf das Bett. „Es ist ein Porträt. Eine gute Arbeit, aber noch nicht
ganz fertig.“ Der Zufall war K. günstig, die Möglichkeit vom Gericht zu reden,
wurde ihm förmlich angeboten, denn es war offenbar das Porträt eines Richters.
Es war übrigens dem Bild im Arbeitszimmer des Advokaten auffallend ähnlich. Es
handelte sich hier zwar um einen ganz andern Richter, einen dicken Mann mit
schwarzem buschigen Vollbart, der seitlich weit die Wangen hinaufreichte, auch
war jenes Bild ein Ölbild, dieses aber mit Pastellfarben schwach und undeutlich
angesetzt. Aber alles übrige war ähnlich, denn auch hier wollte sich gerade der
Richter von seinem Thronsessel, dessen Seitenlehnen er festhielt, drohend
erheben. „Das ist ja ein Richter,“ hatte K. gleich sagen wollen, hielt sich dann
aber vorläufig noch zurück und näherte sich dem Bild, als wolle er es in den
Einzelheiten studieren. Eine große Figur, die in der Mitte über der Rückenlehne
des Thronsessels stand, konnte er sich nicht erklären und fragte den Maler nach
ihr. Sie müsse noch ein wenig ausgearbeitet werden, antwortete der Maler, holte
von einem Tischchen einen Pastellstift und strichelte mit ihm ein wenig an den
Rändern der Figur, ohne sie aber dadurch für K. deutlicher zu machen. „Es ist
die Gerechtigkeit,“ sagte der Maler schließlich. „Jetzt erkenne ich sie schon,“
sagte K., „hier ist die Binde um die Augen und hier die Wage. Aber sind nicht an
den Fersen Flügel und befindet sie sich nicht im Lauf?“ „Ja,“ sagte der Maler,
„ich mußte es über Auftrag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die
Siegesgöttin in einem.“ „Das ist keine gute Verbindung,“ sagte K. lächelnd, „die
Gerechtigkeit muß ruhen, sonst schwankt die Wage und es ist kein gerechtes
Urteil möglich.“ „Ich füge mich darin meinem Auftraggeber,“ sagte der Maler. „Ja
gewiß,“ sagte K., der mit seiner Bemerkung niemanden hatte kränken wollen. „Sie
haben die Figur so gemalt, wie sie auf dem Thronsessel wirklich steht.“ „Nein,“
sagte der Maler, „ich habe weder die Figur noch den Thronsessel gesehn, das
alles ist Erfindung, aber es wurde mir angegeben, was ich zu malen habe.“ „Wie?“
fragte K., er tat absichtlich, als verstehe er den Maler nicht völlig, „es ist
doch ein Richter, der auf dem Richterstuhl sitzt.“ „Ja,“ sagte der Maler, „aber
er ist kein hoher Richter und ist niemals auf einem solchen Thronsessel
gesessen.“ „Und läßt sich doch in so feierlicher Haltung malen? Er sitzt ja da
wie ein Gerichtspräsident.“ „Ja, eitel sind die Herren,“ sagte der Maler. „Aber
sie haben die höhere Erlaubnis, sich so malen zu lassen. Jedem ist genau
vorgeschrieben, wie er sich malen lassen darf. Nur kann man leider gerade nach
diesem Bilde die Einzelheiten der Tracht und des Sitzes nicht beurteilen, die
Pastellfarben sind für solche Darstellungen nicht geeignet.“ „Ja,“ sagte K., „es
ist sonderbar, daß es in Pastellfarben gemalt ist.“ „Der Richter wünschte es
so,“ sagte der Maler, „es ist für eine Dame bestimmt.“ Der Anblick des Bildes
schien ihm Lust zur Arbeit gemacht zu haben, er krempelte die Hemdärmel
aufwärts, nahm einige Stifte in die Hand und K. sah zu, wie unter den zitternden
Spitzen der Stifte anschließend an den Kopf des Richters ein rötlicher Schatten
sich bildete, der strahlenförmig gegen den Rand des Bildes verging. Allmählich
umgab dieses Spiel des Schattens den Kopf wie ein Schmuck oder eine hohe
Auszeichnung. Um die Figur der Gerechtigkeit aber blieb es bis auf eine
unmerkliche Tönung hell, in dieser Helligkeit schien die Figur besonders
vorzudringen, sie erinnerte kaum mehr an die Göttin der Gerechtigkeit, aber auch
nicht an die des Sieges, sie sah jetzt vielmehr vollkommen wie die Göttin der
Jagd aus. Die Arbeit des Malers zog K. mehr an, als er wollte; schließlich aber
machte er sich doch Vorwürfe, daß er so lange schon hier war und im Grunde noch
nichts für seine eigene Sache unternommen hatte. „Wie heißt dieser Richter?“
fragte er plötzlich. „Das darf ich nicht sagen,“ antwortete der Maler, er war
tief zum Bild hinabgebeugt und vernachlässigte deutlich seinen Gast, den er doch
zuerst so rücksichtsvoll empfangen hatte. K. hielt das für eine Laune und
ärgerte sich darüber, weil er dadurch Zeit verlor. „Sie sind wohl ein
Vertrauensmann des Gerichtes?“ fragte er. Sofort legte der Maler die Stifte
beiseite, richtete sich auf, rieb die Hände aneinander und sah K. lächelnd an.
„Nur immer gleich mit der Wahrheit heraus,“ sagte er, „Sie wollen etwas über das
Gericht erfahren, wie es ja auch in Ihrem Empfehlungsschreiben steht, und haben
zunächst über meine Bilder gesprochen, um mich zu gewinnen. Aber ich nehme das
nicht übel, Sie konnten ja nicht wissen, daß das bei mir unangebracht ist. O
bitte!“ sagte er scharf abwehrend, als K. etwas einwenden wollte. Und fuhr dann
fort: „Im übrigen haben Sie mit Ihrer Bemerkung vollständig recht, ich bin ein
Vertrauensmann des Gerichtes.“ Er machte eine Pause, als wolle er K. Zeit
lassen, sich mit dieser Tatsache abzufinden. Man hörte jetzt wieder hinter der
Tür die Mädchen. Sie drängten sich wahrscheinlich um das Schlüsselloch,
vielleicht konnte man auch durch die Ritzen ins Zimmer hineinsehn. K. unterließ
es, sich irgendwie zu entschuldigen, denn er wollte den Maler nicht ablenken,
wohl aber wollte er nicht, daß der Maler sich allzusehr überhebe und sich auf
diese Weise gewissermaßen unerreichbar mache, er fragte deshalb: „Ist das eine
öffentlich anerkannte Stellung?“ „Nein,“ sagte der Maler kurz, als sei ihm
dadurch die weitere Rede verschlagen. K. wollte ihn aber nicht verstummen lassen
und sagte: „Nun, oft sind derartige nicht anerkannte Stellungen einflußreicher
als die anerkannten.“ „Das ist eben bei mir der Fall,“ sagte der Maler und
nickte mit zusammengezogener Stirn. „Ich sprach gestern mit dem Fabrikanten über
Ihren Fall, er fragte mich, ob ich Ihnen nicht helfen wollte, ich antwortete:
„Der Mann kann ja einmal zu mir kommen,“ und nun freue ich mich, Sie so bald
hier zu sehn. Die Sache scheint Ihnen ja sehr nahe zu gehn, worüber ich mich
natürlich gar nicht wundere. Wollen Sie vielleicht zunächst Ihren Rock ablegen?“
Obwohl K. beabsichtigte, nur ganz kurze Zeit hierzubleiben, war ihm diese
Aufforderung des Malers doch sehr willkommen. Die Luft im Zimmer war ihm
allmählich drückend geworden, öfters hatte er schon verwundert auf einen
kleinen, zweifellos nicht geheizten Eisenofen in der Ecke hingesehn, die Schwüle
im Zimmer war unerklärlich. Während er den Winterrock ablegte und auch noch den
Rock aufknöpfte, sagte der Maler sich entschuldigend: „Ich muß Wärme haben. Es
ist hier doch sehr behaglich, nicht? Das Zimmer ist in dieser Hinsicht sehr gut
gelegen.“ K. sagte dazu nichts, aber es war eigentlich nicht die Wärme, die ihm
Unbehagen machte, es war vielmehr die dumpfe, das Atmen fast behindernde Luft,
das Zimmer war wohl schon lange nicht gelüftet. Diese Unannehmlichkeit wurde für
K. dadurch verstärkt, daß ihn der Maler bat, sich auf das Bett zu setzen,
während er selbst sich selbst auf den einzigen Stuhl des Zimmers vor der
Staffelei niedersetzte. Außerdem schien es der Maler mißzuverstehn, warum K. nur
am Bettrand blieb, er bat vielmehr, K. möchte es sich bequem machen und ging, da
K. zögerte, selbst hin und drängte ihn tief in die Betten und Polster hinein.
Dann kehrte er wieder zu seinem Sessel zurück und stellte endlich die erste
sachliche Frage, die K. alles andere vergessen ließ. „Sie sind unschuldig?“
fragte er. „Ja,“ sagte K. Die Beantwortung dieser Frage machte ihm geradezu
Freude, besonders da sie gegenüber einem Privatmann, also ohne jede
Verantwortung erfolgte. Noch niemand hatte ihn so offen gefragt. Um diese Freude
auszukosten, fügte er noch hinzu: „Ich bin vollständig unschuldig.“ „So,“ sagte
der Maler, senkte den Kopf und schien nachzudenken. Plötzlich hob er wieder den
Kopf und sagte: „Wenn Sie unschuldig sind, dann ist ja die Sache sehr einfach.“
K.s Blick trübte sich, dieser angebliche Vertrauensmann des Gerichtes redete wie
ein unwissendes Kind. „Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht,“ sagte K. Er
mußte trotz allem lächeln und schüttelte langsam den Kopf „Es kommt auf viele
Feinheiten an, in die sich das Gericht verliert. Zum Schluß aber zieht es von
irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine große Schuld hervor.“
„Ja, ja, gewiß,“ sagte der Maler, als störe K. unnötigerweise seinen
Gedankengang. „Sie sind aber doch unschuldig?“ „Nun ja,“ sagte K. „Das ist die
Hauptsache.“ sagte der Maler. Er war durch Gegengründe nicht zu beeinflussen,
nur war es trotz seiner Entschiedenheit nicht klar, ob er aus Überzeugung oder
nur aus Gleichgültigkeit so redete. K. wollte das zunächst feststellen und sagte
deshalb: „Sie kennen ja gewiß das Gericht viel besser als ich, ich weiß nicht
viel mehr, als was ich darüber, allerdings von ganz verschiedenen Leuten, gehört
habe. Darin stimmten aber alle überein, daß leichtsinnige Anklagen nicht erhoben
werden, und daß das Gericht, wenn es einmal anklagt, fest von der Schuld des
Angeklagten überzeugt ist und von dieser Überzeugung nur schwer abgebracht
werden kann.“ „Schwer?“ fragte der Maler und warf eine Hand in die Höhe.
„Niemals ist das Gericht davon abzubringen. Wenn ich hier alle Richter
nebeneinander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor dieser Leinwand
verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben, als vor dem wirklichen Gericht.“
„Ja,“ sagte K. für sich und vergaß, daß er den Maler nur hatte ausforschen
wollen.
Wieder begann ein Mädchen hinter der Tür zu fragen: „Titorelli,
wird er denn nicht schon bald weggehn.“ „Schweigt,“ rief der Maler zur Tür hin,
„seht Ihr denn nicht, daß ich mit dem Herrn eine Besprechung habe.“ Aber das
Mädchen gab sich damit nicht zufrieden, sondern fragte: „Du wirst ihn malen?“
Und als der Maler nicht antwortete, sagte sie noch: „Bitte, mal’ ihn nicht,
einen so häßlichen Menschen.“ Ein Durcheinander unverständlicher zustimmender
Zurufe folgte. Der Maler machte einen Sprung zur Tür, öffnete sie bis zu einem
Spalt – man sah die bittend vorgestreckten gefalteten Hände der Mädchen – und
sagte: „Wenn Ihr nicht still seid, werfe ich euch alle die Treppe hinunter.
Setzt Euch hier auf die Stufen und verhaltet Euch ruhig.“ Wahrscheinlich folgten
sie nicht gleich, so daß er kommandieren mußte: „Nieder auf die Stufen!“ Erst
dann wurde es still. „Verzeihen Sie,“ sagte der Maler, als er zu K. wieder
zurückkehrte. K. hatte sich kaum zur Tür hingewendet, er hatte es vollständig
dem Maler überlassen, ob und wie er ihn in Schutz nehmen wollte. Er machte auch
jetzt kaum eine Bewegung, als sich der Maler zu ihm niederbeugte und ihm, um
draußen nicht gehört zu werden, ins Ohr flüsterte: „Auch diese Mädchen gehören
zum Gericht.“ „Wie?“ fragte K., wich mit dem Kopf zur Seite und sah den Maler
an. Dieser aber setzte sich wieder auf seinen Sessel und sagte halb im Scherz,
halb zur Erklärung: „Es gehört ja alles zum Gericht.“ „Das habe ich noch nicht
bemerkt,“ sagte K. kurz, die allgemeine Bemerkung des Malers nahm dem Hinweis
auf die Mädchen alles Beunruhigende. Trotzdem sah K. ein Weilchen lang zur Tür
hin, hinter der die Mädchen jetzt still auf den Stufen saßen. Nur eines hatte
einen Strohhalm durch eine Ritze zwischen den Balken gesteckt und führte ihn
langsam auf und ab.
„Sie scheinen noch keinen Überblick über das Gericht zu
haben,“ sagte der Maler, er hatte die Beine weit auseinandergestreckt und
klatschte mit den Fußspitzen auf den Boden. „Da Sie aber unschuldig sind, werden
Sie ihn auch nicht benötigen. Ich allein hole Sie heraus.“ „Wie wollen Sie das
tun?“ fragte K. „Da Sie doch vor kurzem selbst gesagt haben, daß das Gericht für
Beweisgründe vollständig unzugänglich ist.“ „Unzugänglich nur für Beweisgründe,
die man vor dem Gericht vorbringt,“ sagte der Maler und hob den Zeigefinger, als
habe K. eine feine Unterscheidung nicht bemerkt. „Anders verhält es sich aber
damit, was man in dieser Hinsicht hinter dem öffentlichen Gericht versucht, also
in den Beratungszimmern, in den Korridoren oder z. B. auch hier im Atelier.“ Was
der Maler jetzt sagte, schien K. nicht mehr so unglaubwürdig, es zeigte vielmehr
eine große Übereinstimmung mit dem, was K. auch von andern Leuten gehört hatte.
Ja, es war sogar sehr hoffnungsvoll. War der Richter durch persönliche
Beziehungen wirklich so leicht zu lenken, wie es der Advokat dargestellt hatte,
dann waren die Beziehungen des Malers zu den eitlen Richtern besonders wichtig
und jedenfalls keineswegs zu unterschätzen. Dann fügte sich der Maler sehr gut
in den Kreis von Helfern, die K. allmählich um sich versammelte. Man hatte
einmal in der Bank sein Organisationstalent gerühmt, hier, wo er ganz allein auf
sich gestellt war, zeigte sich eine gute Gelegenheit, es auf das Äußerste zu
erproben. Der Maler beobachtete die Wirkung, die seine Erklärung auf K. gemacht
hatte und sagte dann mit einer gewissen Ängstlichkeit: „Fällt es Ihnen nicht
auf, daß ich fast wie ein Jurist spreche? Es ist der ununterbrochene Verkehr mit
den Herren vom Gericht, der mich so beeinflußt. Ich habe natürlich viel Gewinn
davon, aber der künstlerische Schwung geht zum großen Teil verloren.“ „Wie sind
Sie denn zum erstenmal mit den Richtern in Verbindung gekommen?“ fragte K., er
wollte zuerst das Vertrauen des Malers gewinnen, bevor er ihn geradezu in seine
Dienste nahm. „Das war sehr einfach,“ sagte der Maler, „ich habe diese
Verbindung geerbt. Schon mein Vater war Gerichtsmaler. Es ist das eine Stellung,
die sich immer vererbt. Man kann dafür neue Leute nicht brauchen. Es sind
nämlich für das Malen der verschiedenen Beamtengrade so verschiedene, vielfache
und vor allem geheime Regeln aufgestellt, daß sie überhaupt nicht außerhalb
bestimmter Familien bekannt werden. Dort in der Schublade z. B. habe ich die
Aufzeichnungen meines Vaters, die ich niemandem zeige. Aber nur wer sie kennt,
ist zum Malen von Richtern befähigt. Jedoch selbst wenn ich sie verlieren würde,
blieben mir noch so viele Regeln, die ich allein in meinem Kopfe trage, daß mir
niemand meine Stellung streitig machen könnte. Es will doch jeder Richter so
gemalt werden, wie die alten großen Richter gemalt worden sind, und das kann nur
ich.“ „Das ist beneidenswert,“ sagte K., der an seine Stellung in der Bank
dachte. „Ihre Stellung ist also unerschütterlich?“ „Ja, unerschütterlich,“ sagte
der Maler und hob stolz die Achseln. „Deshalb kann ich es auch wagen, hie und da
einem armen Manne, der einen Prozeß hat, zu helfen.“ „Und wie tun Sie das?“
fragte K., als sei es nicht er, den der Maler soeben einen armen Mann genannt
hatte. Der Maler aber ließ sich nicht ablenken, sondern sagte: „In Ihrem Fall z.
B. werde ich, da Sie vollständig unschuldig sind, Folgendes unternehmen.“ Die
wiederholte Erwähnung seiner Unschuld wurde K. schon lästig. Ihm schien es
manchmal, als mache der Maler durch solche Bemerkungen einen günstigen Ausgang
des Prozesses zur Voraussetzung seiner Hilfe, die dadurch natürlich in sich
selbst zusammenfiel. Trotz diesen Zweifeln bezwang sich aber K. und unterbrach
den Maler nicht. Verzichten wollte er auf die Hilfe des Malers nicht, dazu war
er entschlossen, auch schien ihm diese Hilfe durchaus nicht fragwürdiger als die
des Advokaten zu sein. K. zog sie jener sogar bei weitem vor, weil sie harmloser
und offener dargeboten wurde.
Der Maler hatte seinen Sessel näher zum Bett
gezogen und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Ich habe vergessen, Sie zunächst
zu fragen, welche Art der Befreiung Sie wünschen. Es gibt drei Möglichkeiten,
nämlich die wirkliche Freisprechung, die scheinbare Freisprechung und die
Verschleppung. Die wirkliche Freisprechung ist natürlich das Beste, nur habe ich
nicht den geringsten Einfluß auf diese Art der Lösung. Es gibt meiner Meinung
nach überhaupt keine einzelne Person, die auf die wirkliche Freisprechung
Einfluß hätte. Hier entscheidet wahrscheinlich nur die Unschuld des Angeklagten.
Da Sie unschuldig sind, wäre es wirklich möglich, daß Sie sich allein auf Ihre
Unschuld verlassen. Dann brauchen Sie aber weder mich noch irgendeine andere
Hilfe.“
Diese geordnete Darstellung verblüffte K. anfangs, dann aber sagte
er ebenso leise wie der Maler: „Ich glaube, Sie widersprechen sich.“ „Wie denn?“
fragte der Maler geduldig und lehnte sich lächelnd zurück. Dieses Lächeln
erweckte in K. das Gefühl, als ob er jetzt daran gehe, nicht in den Worten des
Malers, sondern in dem Gerichtsverfahren selbst Widersprüche zu entdecken.
Trotzdem wich er aber nicht zurück und sagte: „Sie haben früher die Bemerkung
gemacht, daß das Gericht für Beweisgründe unzugänglich ist, später haben Sie
dies auf das öffentliche Gericht eingeschränkt und jetzt sagen Sie sogar, daß
der Unschuldige vor dem Gericht keine Hilfe braucht. Darin liegt schon ein
Widerspruch. Außerdem aber haben Sie früher gesagt, daß man die Richter
persönlich beeinflussen kann, stellen aber jetzt in Abrede, daß die wirkliche
Freisprechung, wie Sie sie nennen, jemals durch persönliche Beeinflussung zu
erreichen ist. Darin liegt der zweite Widerspruch.“ „Diese Widersprüche sind
leicht aufzuklären,“ sagte der Maler. „Es ist hier von zwei verschiedenen Dingen
die Rede, von dem, was im Gesetz steht, und von dem, was ich persönlich erfahren
habe, das dürfen Sie nicht verwechseln. Im Gesetz, ich habe es allerdings nicht
gelesen, steht natürlich einerseits, daß der Unschuldige freigesprochen wird,
andererseits steht dort aber nicht, daß die Richter beeinflußt werden können.
Nun habe aber ich gerade das Gegenteil dessen erfahren. Ich weiß von keiner
wirklichen Freisprechung, wohl aber von vielen Beeinflussungen. Es ist natürlich
möglich, daß in allen mir bekannten Fällen keine Unschuld vorhanden war. Aber
ist das nicht unwahrscheinlich? In so vielen Fällen keine einzige Unschuld?
Schon als Kind hörte ich dem Vater genau zu, wenn er zu Hause von Prozessen
erzählte, auch die Richter, die in sein Atelier kamen, erzählten vom Gericht,
man spricht in unseren Kreisen überhaupt von nichts anderem; kaum bekam ich die
Möglichkeit, selbst zu Gericht zu gehn, nützte ich sie immer aus, unzählbare
Prozesse habe ich in wichtigen Stadien angehört und soweit sie sichtbar sind,
verfolgt, und – ich muß es zugeben – nicht einen einzigen wirklichen Freispruch
erlebt.“ „Keinen einzigen Freispruch also,“ sagte K., als rede er zu sich selbst
und zu seinen Hoffnungen. „Das bestätigt aber die Meinung, die ich von dem
Gericht schon habe. Es ist also auch von dieser Seite zwecklos. Ein einziger
Henker könnte das ganze Gericht ersetzen.“ „Sie dürfen nicht verallgemeinern,“
sagte der Maler unzufrieden, „ich habe ja nur von meinen Erfahrungen
gesprochen.“ „Das genügt doch,“ sagte K., „oder haben Sie von Freisprüchen aus
früherer Zeit gehört?“ „Solche Freisprüche,“ antwortete der Maler, „soll es
allerdings gegeben haben. Nur ist es sehr schwer, das festzustellen. Die
abschließenden Entscheidungen des Gerichtes werden nicht veröffentlicht, sie
sind nicht einmal den Richtern zugänglich, infolgedessen haben sich über alte
Gerichtsfälle nur Legenden erhalten. Diese enthalten allerdings sogar in der
Mehrzahl wirkliche Freisprechungen, man kann sie glauben, nachweisbar sind sie
aber nicht. Trotzdem muß man sie nicht ganz vernachlässigen, eine gewisse
Wahrheit enthalten sie wohl gewiß, auch sind sie sehr schön, ich selbst habe
einige Bilder gemalt, die solche Legenden zum Inhalt haben.“ „Bloße Legenden
ändern meine Meinung nicht,“ sagte K., „man kann sich wohl auch vor Gericht auf
diese Legenden nicht berufen?“ Der Maler lachte. „Nein, das kann man nicht,“
sagte er. „Dann ist es nutzlos, darüber zu reden,“ sagte K., er wollte vorläufig
alle Meinungen des Malers hinnehmen, selbst wenn er sie für unwahrscheinlich
hielt und sie andern Berichten widersprachen. Er hatte jetzt nicht die Zeit,
alles, was der Maler sagte, auf die Wahrheit hin zu überprüfen oder gar zu
widerlegen, es war schon das Äußerste erreicht, wenn er den Maler dazu bewog,
ihm in irgendeiner, sei es auch in einer nicht entscheidenden Weise zu helfen.
Darum sagte er: „Sehn wir also von der wirklichen Freisprechung ab, Sie
erwähnten aber noch zwei andere Möglichkeiten.“ „Die scheinbare Freisprechung
und die Verschleppung. Um die allein kann es sich handeln,“ sagte der Maler.
„Wollen Sie aber nicht, ehe wir davon reden, den Rock ausziehn. Es ist Ihnen
wohl heiß.“ „Ja,“ sagte K., der bisher auf nichts als auf die Erklärungen des
Malers geachtet hatte, dem aber jetzt, da er an die Hitze erinnert worden war,
starker Schweiß auf der Stirn ausbrach. „Es ist fast unerträglich.“ Der Maler
nickte, als verstehe er K.s Unbehagen sehr gut. „Könnte man nicht das Fenster
öffnen?“ fragte K. „Nein,“ sagte der Maler. „Es ist bloß eine fest eingesetzte
Glasscheibe, man kann es nicht öffnen.“ Jetzt erkannte K., daß er die ganze Zeit
über darauf gehofft hatte, plötzlich werde der Maler oder er zum Fenster gehn
und es aufreißen. Er war darauf vorbereitet, selbst den Nebel mit offenem Mund
einzuatmen. Das Gefühl, hier von der Luft vollständig abgesperrt zu sein,
verursachte ihm Schwindel. Er schlug leicht mit der Hand auf das Federbett neben
sich und sagte mit schwacher Stimme: „Das ist ja unbequem und ungesund.“ „O
nein,“ sagte der Maler zur Verteidigung seines Fensters. „Dadurch, daß es nicht
aufgemacht werden kann, wird, trotzdem es nur eine einfache Scheibe ist, die
Wärme hier besser festgehalten als durch ein Doppelfenster. Will ich aber
lüften, was nicht sehr notwendig ist, da durch die Balkenritzen überall Luft
eindringt, kann ich eine meiner Türen oder sogar beide öffnen.“ K., durch diese
Erklärung ein wenig getröstet, blickte herum, um die zweite Tür zu finden. Der
Maler bemerkte das und sagte: „Sie ist hinter Ihnen, ich mußte sie durch das
Bett verstellen.“ Jetzt erst sah K. die kleine Türe in der Wand. „Es ist eben
hier alles viel zu klein für ein Atelier,“ sagte der Maler, als wolle er einem
Tadel K.s zuvorkommen. „Ich mußte mich einrichten so gut es ging. Das Bett vor
der Tür steht natürlich an einem sehr schlechten Platz. Der Richter z. B., den
ich jetzt male, kommt immer durch die Tür beim Bett und ich habe ihm auch einen
Schlüssel von dieser Tür gegeben, damit er, auch wenn ich nicht zu Hause bin,
hier im Atelier auf mich warten kann. Nun kommt er aber gewöhnlich früh am
Morgen, während ich noch schlafe. Es reißt mich natürlich immer aus dem tiefsten
Schlaf, wenn sich neben dem Bett die Tür öffnet. Sie würden jede Ehrfurcht vor
den Richtern verlieren, wenn Sie die Flüche hören würden, mit denen ich ihn
empfange, wenn er früh über mein Bett steigt. Ich könnte ihm allerdings den
Schlüssel wegnehmen, aber es würde dadurch nur ärger werden. Man kann hier alle
Türen mit der geringsten Anstrengung aus den Angeln brechen.“ Während dieser
ganzen Rede überlegte K., ob er den Rock ausziehn sollte, er sah aber
schließlich ein, daß er, wenn er es nicht tat, unfähig war, hier noch länger zu
bleiben, er zog daher den Rock aus, legte ihn aber über die Knie, um ihn, falls
die Besprechung zu Ende wäre, wieder anziehn zu können. Kaum hatte er den Rock
ausgezogen, rief eines der Mädchen: „Er hat schon den Rock ausgezogen“ und man
hörte, wie sich alle zu den Ritzen drängten, um das Schauspiel selbst zu sehn.
„Die Mädchen glauben nämlich,“ sagte der Maler, „daß ich Sie malen werde und daß
Sie sich deshalb ausziehn.“ „So,“ sagte K., nur wenig belustigt, denn er fühlte
sich nicht viel besser als früher, trotzdem er jetzt in Hemdärmeln dasaß. Fast
mürrisch fragte er: „Wie nannten Sie die zwei andern Möglichkeiten.“ Er hatte
die Ausdrücke schon wieder vergessen. „Die scheinbare Freisprechung und die
Verschleppung,“ sagte der Maler. „Es liegt an Ihnen, was Sie davon wählen.
Beides ist durch meine Hilfe erreichbar, natürlich nicht ohne Mühe, der
Unterschied in dieser Hinsicht ist der, daß die scheinbare Freisprechung eine
gesammelte zeitweilige, die Verschleppung eine viel geringere aber dauernde
Anstrengung verlangt. Zunächst also die scheinbare Freisprechung. Wenn Sie diese
wünschen sollten, schreibe ich auf einem Bogen Papier eine Bestätigung Ihrer
Unschuld auf. Der Text für eine solche Bestätigung ist mir von meinem Vater
überliefert und ganz unangreifbar. Mit dieser Bestätigung mache ich nun einen
Rundgang bei den mir bekannten Richtern. Ich fange also etwa damit an, daß ich
dem Richter, den ich jetzt male, heute abend, wenn er zur Sitzung kommt, die
Bestätigung vorlege. Ich lege ihm die Bestätigung vor, erkläre ihm, daß Sie
unschuldig sind, und verbürge mich für Ihre Unschuld. Das ist aber keine bloß
äußerliche, sondern eine wirkliche bindende Bürgschaft.“ In den Blicken des
Malers lag es wie ein Vorwurf, daß K. ihm die Last einer solchen Bürgschaft
auferlegen wolle. „Das wäre ja sehr freundlich,“ sagte K. „Und der Richter würde
Ihnen glauben und mich trotzdem nicht wirklich freisprechen?“ „Wie ich schon
sagte,“ antwortete der Maler. „Übrigens ist es durchaus nicht sicher, daß jeder
mir glauben würde, mancher Richter wird z. B. verlangen, daß ich Sie selbst zu
ihm hinführe. Dann müßten Sie also einmal mitkommen. Allerdings ist in einem
solchen Falle die Sache schon halb gewonnen, besonders, da ich Sie natürlich
vorher genau darüber unterrichten würde, wie Sie sich bei dem betreffenden
Richter zu verhalten haben. Schlimmer ist es bei den Richtern, die mich – auch
das wird vorkommen – von vornherein abweisen. Auf diese müssen wir, wenn ich es
auch an mehrfachen Versuchen gewiß nicht fehlen lassen werde, verzichten, wir
dürfen das aber auch, denn einzelne Richter können hier nicht den Ausschlag
geben. Wenn ich nun auf dieser Bestätigung eine genügende Anzahl von
Unterschriften der Richter habe, gehe ich mit dieser Bestätigung zu dem Richter,
der Ihren Prozeß gerade führt. Möglicherweise habe ich auch seine Unterschrift,
dann entwickelt sich alles noch ein wenig rascher als sonst. Im allgemeinen gibt
es aber dann überhaupt nicht mehr viel Hindernisse, es ist dann für den
Angeklagten die Zeit der höchsten Zuversicht. Es ist merkwürdig, aber wahr, die
Leute sind in dieser Zeit zuversichtlicher als nach dem Freispruch. Es bedarf
jetzt keiner besondern Mühe mehr. Der Richter besitzt in der Bestätigung die
Bürgschaft einer Anzahl von Richtern, kann Sie unbesorgt freisprechen und wird
es allerdings nach Durchführung verschiedener Formalitäten mir und andern
Bekannten zu Gefallen zweifellos tun. Sie aber treten aus dem Gericht und sind
frei.“ „Dann bin ich also frei,“ sagte K. zögernd. „Ja,“ sagte der Maler, „aber
nur scheinbar frei oder besser ausgedrückt zeitweilig frei. Die untersten
Richter nämlich, zu denen meine Bekannten gehören, haben nicht das Recht,
endgültig freizusprechen, dieses Recht hat nur das oberste, für Sie, für mich
und für uns alle ganz unerreichbare Gericht. Wie es dort aussieht, wissen wir
nicht und wollen wir, nebenbei gesagt, auch nicht wissen. Das große Recht, von
der Anklage zu befreien, haben also unsere Richter nicht, wohl aber haben sie
das Recht, von der Anklage loszulösen. Das heißt, wenn Sie auf diese Weise
freigesprochen werden, sind Sie für den Augenblick der Anklage entzogen, aber
sie schwebt auch weiterhin über Ihnen und kann, sobald nur der höhere Befehl
kommt, sofort in Wirkung treten. Da ich mit dem Gericht in so guter Verbindung
stehe, kann ich Ihnen auch sagen, wie sich in den Vorschriften für die
Gerichtskanzleien der Unterschied zwischen der wirklichen und der scheinbaren
Freisprechung rein äußerlich zeigt. Bei einer wirklichen Freisprechung sollen
die Prozeßakten vollständig abgelegt werden, sie verschwinden gänzlich aus dem
Verfahren, nicht nur die Anklage, auch der Prozeß und sogar der Freispruch sind
vernichtet, alles ist vernichtet. Anders beim scheinbaren Freispruch. Mit dem
Akt ist keine weitere Veränderung vor sich gegangen, als daß er um die
Bestätigung der Unschuld, um den Freispruch und um die Begründung des
Freispruchs bereichert worden ist. Im übrigen aber bleibt er im Verfahren, er
wird, wie es der ununterbrochene Verkehr der Gerichtskanzleien erfordert, zu den
höhern Gerichten weitergeleitet, kommt zu den niedrigen zurück und pendelt so
mit größeren und kleineren Schwingungen, mit größeren und kleineren Stockungen
auf und ab. Diese Wege sind unberechenbar. Von außen gesehn, kann es manchmal
den Anschein bekommen, daß alles längst vergessen, der Akt verloren und der
Freispruch ein vollkommener ist. Ein Eingeweihter wird das nicht glauben. Es
geht kein Akt verloren, es gibt bei Gericht kein Vergessen. Eines Tages –
niemand erwartet es – nimmt irgendein Richter den Akt aufmerksam in die Hand,
erkennt, daß in diesem Fall die Anklage noch lebendig ist und ordnet die
sofortige Verhaftung an. Ich habe hier angenommen, daß zwischen dem scheinbaren
Freispruch und der neuen Verhaftung eine lange Zeit vergeht, das ist möglich und
ich weiß von solchen Fällen, es ist aber ebensogut möglich, daß der
Freigesprochene vom Gericht nach Hause kommt und dort schon Beauftragte warten,
um ihn wieder zu verhaften. Dann ist natürlich das freie Leben zu Ende.“ „Und
der Prozeß beginnt von neuem?“ fragte K. fast ungläubig. „Allerdings,“ sagte der
Maler, „der Prozeß beginnt von neuem, es besteht aber wieder die Möglichkeit,
ebenso wie früher, einen scheinbaren Freispruch zu erwirken. Man muß wieder alle
Kräfte zusammennehmen und darf sich nicht ergeben.“ Das Letztere sagte der Maler
vielleicht unter dem Eindruck, den K., der ein wenig zusammengesunken war, auf
ihn machte. „Ist aber,“ fragte K., als wolle er jetzt irgendwelchen Enthüllungen
des Malers zuvorkommen, „die Erwirkung eines zweiten Freispruchs nicht
schwieriger als die des ersten?“ „Man kann,“ antwortete der Maler, „in dieser
Hinsicht nichts Bestimmtes sagen. Sie meinen wohl, daß die Richter durch die
zweite Verhaftung in ihrem Urteil zuungunsten des Angeklagten beeinflußt werden?
Das ist nicht der Fall. Die Richter haben ja schon beim Freispruch diese
Verhaftung vorgesehn. Dieser Umstand wirkt also kaum ein. Wohl aber kann aus
zahllosen sonstigen Gründen die Stimmung der Richter sowie ihre rechtliche
Beurteilung des Falles eine andere geworden sein, und die Bemühungen um den
zweiten Freispruch müssen daher den veränderten Umständen angepaßt werden und im
allgemeinen ebenso kräftig sein wie die vor dem ersten Freispruch.“ „Aber dieser
zweite Freispruch ist doch wieder nicht endgültig,“ sagte K. und drehte
abweisend den Kopf. „Natürlich nicht,“ sagte der Maler, „dem zweiten Freispruch
folgt die dritte Verhaftung, dem dritten Freispruch die vierte Verhaftung und so
fort. Das liegt schon im Begriff des scheinbaren Freispruchs.“ K. schwieg. „Der
scheinbare Freispruch scheint Ihnen offenbar nicht vorteilhaft zu sein,“ sagte
der Maler, „vielleicht entspricht Ihnen die Verschleppung besser. Soll ich Ihnen
das Wesen der Verschleppung erklären?“ K. nickte. Der Maler hatte sich breit in
seinen Sessel zurückgelehnt, das Nachthemd war weit offen, er hatte eure Hand
darunter geschoben, mit der er über die Brust und die Seiten strich. „Die
Verschleppung,“ sagte der Maler und sah einen Augenblick vor sich hin, als suche
er eine vollständig zutreffende Erklärung, „die Verschleppung besteht darin, daß
der Prozeß dauernd im niedrigsten Prozeßstadium erhalten wird. Um dies zu
erreichen, ist es nötig, daß der Angeklagte und der Helfer, insbesondere aber
der Helfer in ununterbrochener persönlicher Fühlung mit dem Gericht bleibt. Ich
wiederhole, es ist hierfür kein solcher Kraftaufwand nötig, wie bei der
Erreichung eines scheinbaren Freispruchs, wohl aber ist eine viel größere
Aufmerksamkeit nötig. Man darf den Prozeß nicht aus dem Auge verlieren, man muß
zu dem betreffenden Richter in regelmäßigen Zwischenräumen und außerdem bei
besondern Gelegenheiten gehn und ihn auf jede Weise sich freundlich zu erhalten
suchen; ist man mit dem Richter nicht persönlich bekannt, so muß man durch
bekannte Richter ihn beeinflussen lassen, ohne daß man etwa deshalb die
unmittelbaren Besprechungen aufgeben dürfte. Versäumt man in dieser Hinsicht
nichts, so kann man mit genügender Bestimmtheit annehmen, daß der Prozeß über
sein erstes Stadium nicht hinauskommt. Der Prozeß hört zwar nicht auf, aber der
Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso gesichert, wie wenn er frei
wäre. Gegenüber dem scheinbaren Freispruch hat die Verschleppung den Vorteil,
daß die Zukunft des Angeklagten weniger unbestimmt ist, er bleibt vor dem
Schrecken der plötzlichen Verhaftungen bewahrt und muß nicht fürchten, etwa
gerade zu Zeiten, wo seine sonstigen Umstände dafür am wenigsten günstig sind,
die Anstrengungen und Aufregungen auf sich nehmen zu müssen, welche mit der
Erreichung des scheinbaren Freispruchs verbunden sind. Allerdings hat auch die
Verschleppung für den Angeklagten gewisse Nachteile, die man nicht unterschätzen
darf. Ich denke hierbei nicht daran, daß hier der Angeklagte niemals frei ist,
das ist er ja auch bei der scheinbaren Freisprechung im eigentlichen Sinne
nicht. Es ist ein anderer Nachteil. Der Prozeß kann nicht stillstehn, ohne daß
wenigstens scheinbare Gründe dafür vorliegen. Es muß deshalb im Prozeß nach
außen hin etwas geschehn. Es müssen also von Zeit zu Zeit verschiedene
Anordnungen getroffen werden, der Angeklagte muß verhört werden, Untersuchungen
müssen stattfinden usw. Der Prozeß muß eben immerfort in dem kleinen Kreis, auf
den er künstlich eingeschränkt worden ist, gedreht werden. Das bringt natürlich
gewisse Unannehmlichkeiten für den Angeklagten mit sich, die Sie sich aber
wiederum nicht zu schlimm vorstellen dürfen. Es ist ja alles nur äußerlich, die
Verhöre beispielsweise sind also nur ganz kurz; wenn man einmal keine Zeit oder
keine Lust hat hinzugehn, darf man sich entschuldigen, man kann sogar bei
gewissen Richtern die Anordnungen für eine lange Zeit im voraus gemeinsam
festsetzen, es handelt sich im Wesen nur darum, daß man, da man Angeklagter ist,
von Zeit zu Zeit bei seinem Richter sich meldet.“ Schon während der letzten
Worte hatte K. den Rock über den Arm gelegt und war aufgestanden. „Er steht
schon auf,“ rief es sofort draußen vor der Tür. „Sie wollen schon fortgehn?“
fragte der Maler, der auch aufgestanden war. „Es ist gewiß die Luft, die Sie von
hier vertreibt. Es ist mir sehr peinlich. Ich hätte Ihnen auch noch manches zu
sagen. Ich mußte mich ganz kurz fassen. Ich hoffe aber verständlich gewesen zu
sein.“ „O ja,“ sagte K., dem von der Anstrengung, mit der er sich zum Zuhören
gezwungen hatte, der Kopf schmerzte. Trotz dieser Bestätigung sagte der Maler
alles noch einmal zusammenfassend, als wolle er K. auf den Heimweg einen Trost
mitgeben: „Beide Methoden haben das Gemeinsame, daß sie eine Verurteilung des
Angeklagten verhindern.“ „Sie verhindern aber auch die wirkliche Freisprechung,“
sagte K. leise, als schäme er sich, das erkannt zu haben. „Sie haben den Kern
der Sache erfaßt,“ sagte der Maler schnell. K. legte die Hand auf seinen
Winterrock, konnte sich aber nicht einmal entschließen, den Rock anzuziehn. Am
liebsten hätte er alles zusammengepackt und wäre damit an die frische Luft
gelaufen. Auch die Mädchen konnten ihn nicht dazu bewegen, sich anzuziehn,
trotzdem sie, verfrüht, einander schon zuriefen, daß er sich anziehe. Dem Maler
lag daran, K.s Stimmung irgendwie zu deuten, er sagte deshalb: „Sie haben sich
wohl hinsichtlich meiner Vorschläge noch nicht entschieden. Ich billige das. Ich
hätte Ihnen sogar davon abgeraten, sich sofort zu entscheiden. Die Vorteile und
Nachteile sind haarfein. Man muß alles genau abschätzen. Allerdings darf man
auch nicht zuviel Zeit verlieren.“ „Ich werde bald wiederkommen,“ sagte K., der
in einem plötzlichen Entschluß den Rock anzog, den Mantel über die Schulter warf
und zur Tür eilte, hinter der jetzt die Mädchen zu schreien anfingen. K.
glaubte, die schreienden Mädchen durch die Tür zu sehn. „Sie müssen aber Wort
halten,“ sagte der Maler, der ihm nicht gefolgt war, „sonst komme ich in die
Bank, um selbst nachzufragen.“ „Sperren Sie doch die Tür auf,“ sagte K. und riß
an der Klinke, die die Mädchen, wie er an dem Gegendruck merkte, draußen
festhielten. „Wollen Sie von den Mädchen belästigt werden?“ fragte der Maler.
„Benutzen Sie doch lieber diesen Ausgang,“ und er zeigte auf die Tür hinter dem
Bett. K. war damit einverstanden und sprang zum Bett zurück. Aber statt die Tür
dort zu öffnen, kroch der Maler unter das Bett und fragte von unten: „Nur noch
einen Augenblick. Wollen Sie nicht noch ein Bild sehn, das ich Ihnen verkaufen
könnte?“ K. wollte nicht unhöflich sein, der Maler hatte sich wirklich seiner
angenommen und versprochen, ihm weiterhin zu helfen, auch war infolge der
Vergeßlichkeit K.s über die Entlohnung für die Hilfe noch gar nicht gesprochen
worden, deshalb konnte ihn K. jetzt nicht abweisen und ließ sich das Bild
zeigen, wenn er auch vor Ungeduld zitterte, aus dem Atelier wegzukommen. Der
Maler zog unter dem Bett einen Haufen ungerahmter Bilder hervor, die so mit
Staub bedeckt waren, daß dieser, als ihn der Maler vom obersten Bild wegzublasen
suchte, längere Zeit atemraubend K. vor den Augen wirbelte. „Eine
Heidelandschaft,“ sagte der Maler und reichte K. das Bild. Es stellte zwei
schwache Bäume dar, die weit voneinander entfernt im dunklen Gras standen. Im
Hintergrund war ein vielfarbiger Sonnenuntergang. „Schön,“ sagte K., „ich kaufe
es.“ K. hatte unbedacht sich so kurz geäußert, er war daher froh, als der Maler,
statt dies übelzunehmen, ein zweites Bild vom Boden aufhob. „Hier ist ein
Gegenstück zu diesem Bild,“ sagte der Maler. Es mochte als Gegenstück
beabsichtigt sein, es war aber nicht der geringste Unterschied gegenüber dem
ersten Bild zu merken, hier waren die Bäume, hier das Gras und dort der
Sonnenuntergang. Aber K. lag wenig daran. „Es sind schöne Landschaften,“ sagte
er, „ich kaufe beide und werde sie in meinem Bureau aufhängen.“ „Das Motiv
scheint Ihnen zu gefallen,“ sagte der Maler und holte ein drittes Bild herauf,
„es trifft sich gut, daß ich noch ein ähnliches Bild hier habe.“ Es war aber
nicht ähnlich, es war vielmehr die völlig gleiche alte Heidelandschaft. Der
Maler nutzte diese Gelegenheit, alte Bilder zu verkaufen, gut aus. „Ich nehme
auch dieses noch,“ sagte K. „Wieviel kosten die drei Bilder?“ „Darüber werden
wir nächstens sprechen,“ sagte der Maler. „Sie haben jetzt Eile und wir bleiben
doch in Verbindung. Im übrigen freut es mich, daß Ihnen die Bilder gefallen, ich
werde Ihnen alle Bilder mitgeben, die ich hier unten habe. Es sind lauter
Heidelandschaften, ich habe schon viele Heidelandschaften gemalt. Manche Leute
weisen solche Bilder ab, weil sie zu düster sind, andere aber, und Sie gehören
zu ihnen, lieben gerade das Düstere.“ Aber K. hatte jetzt keinen Sinn für die
beruflichen Erfahrungen des Bettelmalers. „Packen Sie alle Bilder ein,“ rief er,
dem Maler in die Rede fallend, „morgen kommt mein Diener und wird sie holen.“
„Es ist nicht nötig,“ sagte der Maler. „Ich hoffe, ich werde Ihnen einen Träger
verschaffen können, der gleich mit Ihnen gehen wird.“ Und er beugte sich endlich
über das Bett und sperrte die Tür auf. „Steigen Sie ohne Scheu auf das Bett,“
sagte der Maler, „das tut jeder, der hier hereinkommt.“ K. hätte auch ohne diese
Aufforderung keine Rücksicht genommen, er hatte sogar schon einen Fuß mitten auf
das Federbett gesetzt, da sah er durch die offene Tür hinaus und zog den Fuß
wieder zurück. „Was ist das?“ fragte er den Maler. „Worüber staunen Sie?“ fragte
dieser, seinerseits staunend. „Es sind die Gerichtskanzleien. Wußten Sie nicht,
daß hier Gerichtskanzleien sind? Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem
Dachboden, warum sollten sie gerade hier fehlen? Auch mein Atelier gehört
eigentlich zu den Gerichtskanzleien, das Gericht hat es mir aber zur Verfügung
gestellt.“ K. erschrak nicht so sehr darüber, daß er auch hier Gerichtskanzleien
gefunden hatte, er erschrak hauptsächlich über sich, über seine Unwissenheit in
Gerichtssachen. Als eine Grundregel für das Verhalten eines Angeklagten erschien
es ihm, immer vorbereitet zu sein, sich niemals überraschen zu lassen, nicht
ahnungslos nach rechts zu schauen, wenn links der Richter neben ihm stand – und
gerade gegen diese Grundregel verstieß er immer wieder. Vor ihm dehnte sich ein
langer Gang, aus dem eine Luft wehte, mit der verglichen die Luft im Atelier
erfrischend war. Bänke waren zu beiden Seiten des Ganges aufgestellt, genau so
wie im Wartezimmer der Kanzlei, die für K. zuständig war. Es schienen genaue
Vorschriften für die Einrichtung von Kanzleien zu bestehn. Augenblicklich war
der Parteienverkehr hier nicht sehr groß. Ein Mann saß dort halb liegend, das
Gesicht hatte er auf der Bank in seine Arme vergraben und schien zu schlafen;
ein anderer stand im Halbdunkel am Ende des Ganges. K. stieg nun über das Bett,
der Maler folgte ihm mit den Bildern. Sie trafen bald einen Gerichtsdiener – K.
erkannte jetzt schon alle Gerichtsdiener an dem Goldknopf, den diese an ihrem
Zivilanzug unter den gewöhnlichen Knöpfen hatten – und der Maler gab ihm den
Auftrag, K. mit den Bildern zu begleiten. K. wankte mehr als er ging, das
Taschentuch hielt er an den Mund gedrückt. Sie waren schon nahe am Ausgang, da
stürmten ihnen die Mädchen entgegen, die also K. auch nicht erspart geblieben
waren. Sie hatten offenbar gesehn, daß die zweite Tür des Ateliers geöffnet
worden war und hatten den Umweg gemacht, um von dieser Seite einzudringen. „Ich
kann Sie nicht mehr begleiten,“ rief der Maler lachend unter dem Andrang der
Mädchen. „Auf Wiedersehn. Und überlegen Sie nicht zu lange!“ K. sah sich nicht
einmal nach ihm um. Auf der Gasse nahm er den ersten Wagen, der ihm in den Weg
kam. Es lag ihm daran, den Diener loszuwerden, dessen Goldknopf ihm unaufhörlich
in die Augen stach, wenn er auch sonst wahrscheinlich niemandem auffiel. In
seiner Dienstfertigkeit wollte sich der Diener noch auf den Kutschbock setzen.
K. jagte ihn aber herunter. Mittag war schon längst vorüber, als K. vor der Bank
ankam. Er hätte gern die Bilder im Wagen gelassen, fürchtete aber, bei
irgendeiner Gelegenheit genötigt zu werden, sich dem Maler gegenüber mit ihnen
auszuweisen. Er ließ sie daher in das Bureau schaffen und versperrte sie in die
unterste Lade seines Tisches, um sie wenigstens für die allernächsten Tage vor
den Blicken des Direktor-Stellvertreters in Sicherheit zu bringen.
zum 8. Kapitel
Balladen
Fabeln
Märchen
Gedichte
Texte für die Klasse 7, Klasse 8, Klasse 9 und Klasse 10.
Der Prozess von Franz Kafka, Texte von Kafka zum Lesen und Bearbeiten im Deutschunterricht.