Fabeln von Gotthold Ephraim Lessing
Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781)
Äsop und der Esel
Das beschütze Lamm
Das Geschenk der Feen
Das Ross und der Stier
Das Schaf
Das Schaf und die Schwalbe
Der Adler
Der Adler und die Eule
Der Adler und der Fuchs (+)
Der Affe und der Fuchs
Der wilde Apfelbaum
Der Bär und der Elefant
Der Besitzer des Bogens (+)
Der Dornstrauch (+)
Die Eiche
Die Eiche und das Schwein
Die Esel
Der Esel und das Jagdpferd
Der Esel mit dem Löwen
Der Esel und der Wolf (+)
Der Fuchs
Der hungrige Fuchs (+)
Der Fuchs und die Larve
Der Fuchs und der Storch
Die Gans
Der Geist des Salomo
Der Geizige
Die Grille und die Nachtigal
Der Hamster und die Ameise
Der junge und der alte Hirsch
Der Hirsch und der Fuchs
Die Hunde
Der Löwe und der Hase
Der Löwe und die Mücke
Der Löwe mit dem Esel
Der Löwe und der Tiger
Der Luchs und der Tiger
Der Mann und der Hund
Der Pelikan
Der Phönix
Der Pfau und der Hahn
Die Pfauen und die Krähe
Der Rabe
Der Rabe
Der Rabe und der Fuchs
Der Rangstreit der Tiere
Der Schäfer und die Nachtigall
Die Schwalbe
Die junge Schwalbe
Die Sperlinge (+)
Der Sperling und der Strauß
Der Stier und der Hirsch (+)
Der Strauß
Der Strauß
Der Tanzbär
Der kriegerische Wolf (+)
Der Wolf und das Schaf
Der Wolf und der Schäfer
Der Wolf auf dem Totenbette
Die Traube
Die Wasserschlange (+)
Die Maus
Die Nachtigall und die Lerche
Die Nachtigall und der Pfau
Die Geschichte des alten Wolfs
Die Ziegen (+)
Jupiter und das Schaf
Merops
Minerva
Zeus und das Schaf
Gotthold Ephraim Lessing
Äsop und der Esel
Der Esel sprach zu Äsop: „Wenn du wieder ein Geschichtchen von mir
ausbringst, so lass mich etwas recht Vernünftiges und Sinnreiches sagen.“
„Dich etwas Sinnreiches!“, sagte Äsop; „wie würde sich das schicken? Würde
man nicht sprechen, du seiest der Sittenlehrer und ich der Esel?“
Gotthold Ephraim Lessing
Der Adler
Man fragte den Adler: „Warum erziehst
du deine Jungen so hoch in der Luft?“
Der Adler antwortete: „Würden sie sich, erwachsen, so nahe zur Sonne wagen,
wenn ich sie tief an der Erde erzöge?“
Gotthold Ephraim Lessing
Der Adler und die Eule
Der Adler Jupiters und Pallas Eule stritten.
„Abscheulich Nachtgespenst!“– „Bescheidner, darf ich bitten.
Der Himmel heget mich und dich;
Was bist du also mehr, als ich?“
Der Adler sprach: Wahr ist's, im Himmel sind wir beide;
Doch mit dem Unterscheide:
Ich kam durch eignen Flug,
Wohin dich deine Göttin trug.
Gotthold Ephraim Lessing
Der Adler und der
Fuchs
„Sei auf deinen Flug nicht so stolz!“, sagte der Fuchs dem Adler. „Du
steigst doch nur deswegen so hoch in die Luft, um dich desto weiter nach
einem Aas umsehen zu können.“
„So kenne ich Männer, die tiefsinnige Weltweise geworden sind, nicht aus
Liebe zur Wahrheit, sondern aus Begierde zu einem einträglichen Lehramt.“
Gotthold Ephraim Lessing
Der Affe und der Fuchs
„Nenne mir ein so geschicktes Tier, dem ich nicht nachahmen könnte!“, so
prahlte der Affe gegen den Fuchs. Der Fuchs aber erwiderte: „Und du nenne
mir ein so geringschätziges Tier, dem es einfallen könnte, dir nachzuahmen.“
Schriftsteller meiner Nation! - - Muss ich mich noch deutlicher erklären?
Gotthold Ephraim Lessing
Der wilde Apfelbaum
In den hohlen Stamm eines wilden Apfelbaumes ließ sich ein Schwarm Bienen
nieder. Sie füllten ihn mit den Schätzen ihres Honigs, und der Baum war so
stolz darauf, dass er alle anderen Bäume verachtete.
Da rief ihm ein Rosenstock zu: „Elender Stolz auf geliehene Süßigkeiten! Ist
deine Frucht darum weniger herbe? In diese treibe den Honig herauf, wenn du
es vermagst; und dann erst wird der Mensch dich segnen!“
Gotthold Ephraim Lessing
Der Bär und der Elefant
„Die unverständigen Menschen!“, sagte der Bär zu dem Elefanten. „Was fordern
sie nicht alles von uns besseren Tieren! Ich muss nach der Musik tanzen,
ich, der ernsthafte Bär! Und sie wissen es doch nur zu gut, dass sich solche
Possen zu meinem ehrwürdigen Wesen nicht schicken; denn warum lachten sie
sonst, wenn ich tanze?“
„Ich tanze auch nach der Musik“, versetzte der gelehrige Elefant, „und
glaube ebenso ernsthaft und ehrwürdig zu sein wie du. Gleichwohl haben die
Zuschauer nie über mich gelacht, freudige Bewunderung bloß war auf ihren
Gesichtern zu lesen. Glaube mir also, Bär, die Menschen lachen nicht
darüber, dass du tanzt, sondern darüber, dass du dich so albern dazu
anschickst.“
Gotthold Ephraim Lessing
Der Besitzer des Bogens
Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit
und sicher schoss, und den er ungemein wert hielt. Einst aber, als er ihn
aufmerksam betrachtete, sprach er: „Ein wenig zu plump bist du doch! Alle
deine Zierde ist die Glätte. Schade! Doch dem ist abzuhelfen!“, fiel ihm
ein.
„Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen
lassen.“ - Er ging hin; und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den
Bogen; und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt als eine Jagd?
Der Mann war voller Freude. „Du verdienst diesen Zierrat, mein lieber
Bogen!“ - Nun will er ihn versuchen; er spannt, und der Bogen - zerbricht.
Gotthold Ephraim Lessing
Der Dornstrauch
„Aber sage mir doch“, fragte die Weide den Dornstrauch, „warum du nach den
Kleidern des vorbeigehenden Menschen so begierig bist? Was willst du damit?
Was können sie dir helfen?“
„Nichts!“, sagte der Dornstrauch. „Ich will sie ihm auch nicht nehmen: ich
will sie ihm nur zerreißen.“
Gotthold Ephraim Lessing
Die Eiche
Der rasende Nordwind hatte seine Stärke in einer stürmischen Nacht an einer
erhabenen Eiche bewiesen. Nun lag sie gestreckt, und eine Menge niedriger
Sträucher lagen unter ihr zerschmettert. Ein Fuchs, der seine Grube nicht
weit davon hatte, sah sie des Morgens darauf. „Was für ein Baum!“, rief er.
„Hätte ich doch nie gedacht, dass er so groß gewesen wäre!“
Gotthold Ephraim Lessing
Die Eiche und das Schwein
Ein gefräßiges Schwein mästete sich unter einer hohen Eiche mit der herabgefallenen Frucht.
Während es die eine Eichel zerbiss, verschluckte es bereits
eine andere mit dem Auge.
„Undankbares Vieh!“, rief endlich der Eichbaum herab. „Du nährst dich von
meinen Früchten, ohne einen einzigen dankbaren Blick auf mich in die Höhe zu
richten.“
Das Schwein hielt einen Augenblick inne und grunzte zur Antwort: „Meine
dankbaren Blicke sollten nicht außen bleiben, wenn ich nur wüsste, dass du
deine Eicheln meinetwegen hättest fallen lassen.“
Gotthold Ephraim Lessing
Die Esel
Die Esel beklagten sich bei Zeus, dass die Menschen mit ihnen zu grausam
umgingen. „Unser starker Rücken“, sagten sie, „trägt ihre Lasten, unter
welchen sie und jedes schwächere Tier erliegen müssten. Und doch wollen sie
uns, durch unbarmherzige Schläge, zu einer Geschwindigkeit nötigen, die uns
durch die Last unmöglich gemacht würde, wenn sie uns auch die Natur nicht
versagt hätte. Verbiete ihnen, Zeus, so unbillig zu sein, wenn sich die
Menschen anders etwas Böses verbieten lassen. Wir wollen ihnen dienen, weil
es scheint, dass du uns dazu erschaffen hast; allein geschlagen wollen wir
ohne Ursache nicht sein.“
„Mein Geschöpf“, antwortete Zeus ihrem Sprecher, „die Bitte ist nicht
ungerecht: aber ich sehe keine Möglichkeit, die Menschen zu überzeugen, dass
eure natürliche Langsamkeit keine Faulheit sei. Und so lange sie dieses
glauben, werdet ihr geschlagen werden. Doch ich möchte euer Schicksal zu
erleichtern. — Die Unempfindlichkeit soll von nun an euer Teil sein; eure
Haut soll sich gegen die Schläge erhärten und den Arm des Treibers ermüden.“
„Zeus“, schrieen die Esel, „du bist allezeit weise und gnädig!“ — Sie gingen
erfreut von seinem Thron, als dem Thron der allgemeinen Liebe.
Der Esel und das Jagdpferd
Ein Esel maßte sich an, mit einem Jagdpferd um die Wette zu laufen. Die Probe
fiel erbärmlich aus, und der Esel wurde ausgelacht. „Ich merke nun wohl“,
sagte der Esel, „woran es gelegen hat; ich trat mir vor einigen Monaten
einen Dorn in den Fuß und der schmerzt mich noch.“
„Entschuldigen Sie mich“, sagte der Kanzelredner Liederhold, „wenn meine
heutige Predigt so gründlich und erbaulich nicht gewesen, als man sie von
dem glücklichen Nachahmer eines Mosheims erwartet hätte; ich habe, wie Sie
hören, einen heiseren Hals, und den schon seit acht Tagen.“
Der Esel mit dem Löwen
Als der Esel mit dem Löwen des Äsops, der ihn statt seines Jägerhorns
brauchte, in den Wald ging, begegnete ihm ein andrer Esel von seiner
Bekanntschaft und rief ihm zu: „Guten Tag, mein Bruder!“, —
„Unverschämter!“, war die Antwort.
„Und warum das?“, fuhr jener Esel fort. „Bist du deswegen, weil du mit einem
Löwen gehst, besser als ich? Mehr als ein Esel?“
Der Esel und der Wolf
Ein Esel begegnete einem hungrigen Wolfe. „Habe Mitleid mit mir“, sagte der
zitternde Esel, „ich bin ein armes krankes Tier; sieh nur, was für einen
Dorn ich mir in den Fuß getreten habe!“
„Wahrhaftig, ich bemitleide dich“, versetzte der Wolf. „Und ich finde mich
in meinem Gewissen verbunden, dich von deinen Schmerzen zu befreien.“
Kaum war das Wort gesagt, so wurde der Esel zerrissen.
Der Fuchs
Ein verfolgter Fuchs rettete sich auf eine Mauer. Um auf der anderen Seite
gut herabzukommen, ergriff er einen nahen Dornstrauch. Er ließ sich auch
glücklich daran nieder, nur dass ihn die Dornen schmerzlich verwundeten.
„Elende Helfer“, rief der Fuchs, „die nicht helfen können, ohne zugleich zu
schaden!“
Der hungrige Fuchs
„Ich bin zu einer unglücklichen Stunde geboren!“, so klagte ein junger Fuchs
einem alten. „Fast keiner von meinen Anschlägen will mir gelingen.“
„Deine Anschläge“, sagte der ältere Fuchs, „werden ohne Zweifel doch klug
sein. Lass doch hören, wann machst du deine Anschläge?“
„Wann ich sie mache? Wann anders, als wenn mich hungert?“
„Wenn dich hungert?“, fuhr der alte Fuchs fort. „Ja! Da haben wir es! Hunger
und Überlegung sind nie beisammen. Mache sie künftig, wenn du satt bist, und
sie werden besser ausfallen.“
Der Fuchs und die Larve
Vor alten Zeiten fand ein Fuchs die hohle, einen weiten Mund aufreißende
Larve eines Schauspielers. „Welch ein Kopf!“, sagte der betrachtende Fuchs.
„Ohne Gehirn, und mit einem offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines
Schwätzers gewesen sein?“
Dieser Fuchs kannte euch, ihr ewigen Redner, ihr Strafgerichte des
unschuldigsten unserer Sinne!
Der Fuchs und der Storch
„Erzähle mir doch etwas von den fremden Ländern, die du alle gesehen hast“,
sagte der Fuchs zu dem weit gereisten Storch.
Hierauf fing der Storch an, ihm jede Pfütze und jede feuchte Wiese zu
nennen, wo er die schmackhaftesten Würmer und die fettesten Frösche
geschmaust.
„Sie sind lange in Paris gewesen“, mein Herr. „Wo speist man da am besten?
Was für Weine haben Sie da am meisten nach ihrem Geschmacke gefunden?“
Die Gans
Die Federn einer Gans beschämten den neugeborenen Schnee. Stolz auf dieses
blendende Geschenk der Natur, glaubte sie eher zu einem Schwan, als zu dem,
was sie war, geboren zu sein. Sie sonderte sich von ihresgleichen ab und
schwamm einsam und majestätisch auf dem Teiche herum. Bald dehnte sie ihren
Hals, dessen verräterischer Kürze sie mit aller Macht abhelfen wollte. Bald
suchte sie ihm die prächtige Biegung zu geben, in welcher der Schwan das
würdigste Ansehen eines Vogels des Apollo hat. Doch vergebens; er war zu
steif, und mit aller ihrer Bemühung brachte sie es nicht weiter, als dass
sie eine lächerliche Gans wurde, ohne ein Schwan zu werden.
Der Geist des Salomo
Ein ehrlicher Greis trug des Tages Last und Hitze, sein Feld mit eigener Hand
zu pflügen und mit eigener Hand den reinen Samen in den lockeren Schoß der
willigen Erde zu streuen.
Auf einmal stand unter dem breiten Schatten einer Linde eine göttliche
Erscheinung vor ihm da! Der Greis stutzte.
„Ich bin Salomo“, sagte mit vertraulicher Stimme das Phantom. „Was machst du
hier, Alter?“
„Wenn du Salomo bist“, versetzte der Alte, „wie kannst du fragen? Du
schicktest mich in meiner Jugend zu der Ameise; ich sah ihren Wandel, und
lernte von ihr fleißig sein und sammeln. Was ich da lernte, das tue ich
noch.“ —
„Du hast deine Lektion nur halb gelernt: Versetzte der Geist. Geh noch
einmal hin zur Ameise, und lerne nun auch von ihr in dem Winter deiner Jahre
ruhen und des Gesammelten genießen.“
Der Geizige
„Ich Unglücklicher!“, klagte ein Geizhals seinem Nachbar. „Man hat mir den
Schatz, den ich in meinem Garten vergraben hatte, diese Nacht entwendet und
einen verdammten Stein an dessen Stelle gelegt.“
„Du würdest“, antwortete ihm der Nachbar, „deinen Schatz doch nicht genutzt
haben. Bilde dir also ein, der Stein sei dein Schatz; und du bist nichts
ärmer.“
„Wäre ich schon nichts ärmer“, erwiderte der Geizhals; „ist ein anderer
nicht um so viel reicher? Ein anderer um so viel reicher! Ich möchte rasend
werden.“
Das Geschenk der Feen
Zu der Wiege eines jungen Prinzen, der in der Folge einer der größten
Regenten seines Landes wurde, traten zwei wohltätige Feen.
„Ich schenke diesem meinem Lieblinge“, sagte die eine, „den scharfsichtigen
Blick des Adlers, dem in seinem weiten Reiche auch die kleinste Mücke nicht
entgeht.“
„Das Geschenk ist schön“, unterbrach sie die zweite Fee. „Der Prinz wird ein
einsichtsvoller Monarch werden. Aber der Adler besitzt nicht allein
Scharfsichtigkeit, die kleinsten Mücken zu bemerken; er besitzt auch eine
edle Verachtung, ihnen nicht nachzujagen. Und diese nehme der Prinz von mir
zum Geschenk!“
„Ich danke dir, Schwester, für diese weise Einschränkung“, versetzte die
erste Fee. „Es ist wahr; viele würden weit größere Könige gewesen sein, wenn
sie sich weniger mit ihrem durchdringenden Verstand bis zu den kleinsten
Angelegenheiten hätten erniedrigen wollen.“
Die
Grille und die Nachtigall
„Ich versichere dich“, sagte die Grille zu der Nachtigall, „dass es meinem
Gesang gar nicht an Bewunderern fehlt.“ — „Nenne mir sie doch“, sprach die
Nachtigall. „Die arbeitsamen Schnitter*“, versetzte die Grille, „hören mich
mit vielem Vergnügen, und dass dieses die nützlichsten Leute in der
menschlichen Republik sind, das wirst du doch nicht leugnen wollen?“
„Das will ich nicht leugnen“, sagte die Nachtigall; „aber deswegen darfst du
auf ihren Beifall nicht stolz sein. Ehrlichen Leuten, die alle ihre Gedanken
bei der Arbeit haben, müssen ja wohl die feineren Empfindungen fehlen. Bilde
dir also ja nichts eher auf dein Lied ein, als bis ihm der sorglose Schäfer,
der selbst auf seiner Flöte sehr lieblich spielt, mit stillem Entzücken
lauscht.“
*Schnitter - Erntehelfer bei der Getreideernte
Der Hamster und die Ameise
„Ihr armseligen Ameisen“, sagte ein Hamster. „Lohnt es die Mühe, dass ihr
den ganzen Sommer arbeitet, um ein so Weniges einzusammeln? Wenn ihr meinen
Vorrat sehen solltet! - -“
„Höre“, antwortete eine Ameise, „wenn er größer ist, als du ihn brauchst, so
ist es schon recht, dass die Menschen dir nachgraben, deine Scheuern
ausleeren und dich deinen räuberischen Geiz mit dem Leben büßen lassen!“
Die Hunde
„Wie ausgeartet ist hierzulande unser Geschlecht!“, sagte ein gereister
Pudel. „In dem fernen Weltteile, welches die Menschen Indien nennen, da, da
gibt es noch rechte Hunde; Hunde, meine Brüder – – ihr werdet es mir nicht
glauben, und doch habe ich es mit meinen Augen gesehen – die auch einen
Löwen nicht fürchten und kühn mit ihm anbinden.“
„Aber“, fragte den Pudel ein gesetzter Jagdhund, „überwinden sie ihn denn
auch, den Löwen?“
„Überwinden?“, war die Antwort. „Das kann ich nun eben nicht sagen.
Gleichwohl, bedenke nur, einen Löwen anzufallen!“ – –
„Oh!“, fuhr der Jagdhund fort, „wenn sie ihn nicht überwinden, so sind deine
gepriesene Hunde in Indien – besser als wir, so viel wie nichts – aber ein
guter Teil dümmer.“
Der junge und der alte Hirsch
Ein Hirsch, den die gütige Natur Jahrhunderte hat leben lassen, sagte einst
zu einem seiner Enkel: „Ich kann mich der Zeit noch sehr wohl erinnern, da
der Mensch das donnernde Feuerrohr noch nicht erfunden hatte.“
„Welche glückliche Zeit muss das für unser Geschlecht gewesen sein!“,
seufzte der Enkel.
„Du schließest zu geschwind!“, sagte der alte Hirsch. „Die Zeit war anders,
aber nicht besser. Der Mensch hatte da, anstatt des Feuerrohrs, Pfeile und
Bogen und wir waren ebenso schlimm daran als jetzt.“
Der Hirsch und der Fuchs
„Hirsch, wahrlich, das begreif ich nicht“,
Hört ich den Fuchs zum Hirsche sagen,
„Wie dir der Mut so sehr gebricht?
Der kleinste Windhund kann dich jagen.
Besieh dich doch, wie groß du bist!
Und sollt es dir an Stärke fehlen?
Den größten Hund, so stark er ist,
Kann dein Geweih mit einem Stoß entseelen.
Uns Füchsen muss man wohl die Schwachheit übersehn;
Wir sind zu schwach zum Widerstehn.
Doch dass ein Hirsch nicht weichen muss,
Ist sonnenklar. Hör meinen Schluss.
Ist jemand stärker, als sein Feind,
Der braucht sich nicht vor ihm zurückzuziehen;
Du bist den Hunden nun weit überlegen, Freund:
Und folglich darfst du niemals fliehen.“
„Gewiss, ich hab es nie so reiflich überlegt.
Von nun an“, sprach der Hirsch, „sieht man mich unbewegt,
Wenn Hund' und Jäger auf mich fallen;
Nun widersteh ich allen.“
Zum Unglück, dass Dianens Schar
So nah mit ihren Hunden war.
Sie bellen, und sobald der Wald
Von ihrem Bellen widerschallt,
Fliehn schnell der schwache Fuchs und starke Hirsch davon.
Natur tut allzeit mehr als Demonstration.
Jupiter und das Schaf
Ein Schafweibchen lebte in einer spärlich bewachsenen Gebirgsgegend. Es
musste viel von anderen Tieren erleiden und war ständig auf der Flucht vor
Feinden. Ein Adler kreiste oft über diesem Gebiet, und das Schafweibchen war
gezwungen, immer wieder ihr kleines Schäfchen zu verstecken. Auch musste es
Acht geben, dass der Wolf es nicht entdeckte, denn dieser strolchte auf dem
dicht bebuschten Nachbarhügel herum. Außerdem war es wirklich ein Wunder,
dass der Bär aus der waldigen Schlucht unter ihm es und sein Kind mit seinen
riesigen Pranken noch nicht erwischt hatte.
An einem Sonntag beschloss das Schaf, zum Himmelsgott zu wandern und ihn um
Hilfe zu bitten. Demütig trat es vor Jupiter und schilderte ihm sein Leid.
„Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf, dass ich dich allzu schutzlos
geschaffen habe“, sprach der Gott freundlich, „darum will ich dir auch
helfen. Aber du musst selber wählen, was für eine Waffe ich dir zu deiner
Verteidigung geben soll. Willst du vielleicht, dass ich dein Gebiss mit
scharfen Fang- und Reißzähnen ausrüste und deine Füße mit spitzen Krallen
bewaffne?“
Das Schaf schauderte. „O nein, gütiger Vater, ich möchte mit den wilden,
mörderischen Raubtieren nichts gemein haben.“
„Soll ich deinen Mund mit Giftwerkzeugen wappnen?“ Das Schaf wich bei dieser
Vorstellung einen Schritt zurück. „Bitte nicht, gnädiger Herrscher, die
Giftnattern werden ja überall so sehr gehasst.“
„Nun, was willst du dann haben?“, fragte Jupiter geduldig. „Ich könnte
Hörner auf deine Stirn pflanzen, würde dir das gefallen?“
„Auch das bitte nicht“, wehrte das Schaf schüchtern ab, „mit meinem Gehörn
könnte ich so streitsüchtig oder gewalttätig werden wie ein Bock.“
„Mein liebes Schaf“, belehrte Jupiter sein sanftmütiges Geschöpf, „wenn du
willst, dass andere dir keinen Schaden zufügen, so musst du gezwungener
Weise selber schaden können.“
„Muss ich das?“, seufzte das Schaf und wurde nachdenklich. Nach einer Weile
sagte es: „Gütiger Vater, lass mich doch lieber so sein, wie ich bin. Ich
fürchte, dass ich die Waffen nicht nur zur Verteidigung gebrauchen würde,
sondern dass mit der Kraft und den Waffen zugleich auch die Lust zum Angriff
erwacht.“
Jupiter warf einen liebevollen Blick auf das Schaf, und es trabte in das
Gebirge zurück. Von dieser Stunde an klagte das Schaf nie mehr über sein
Schicksal.
Das beschützte Lamm
Hylax, aus dem Geschlecht der Wolfshunde, bewachte ein frommes Lamm. Ihn
erblickte Lykobes, der gleichfalls an Haar, Schnauze und Ohren einem Wolf
ähnlicher war, als einem Hund und fuhr auf ihn los. „Wolf“, schrie er,
„was machst du mit diesem Lamm?“ —
„Wolf selbst!“, versetzte Hylax. (Die Hunde verkannten sich beide.) „Geh!
oder du sollst es erfahren, dass ich sein Beschützer bin!“
Doch Lykobes will das Lamm dem Hylax mit Gewalt nehmen; Hylax will es mit
Gewalt behaupten, und das arme Lamm — Treffliche Beschützer! — wird darüber
zerrissen.
Der Löwe mit dem Esel
Als des Äsops Löwe mit dem Esel, der ihm durch seine fürchterliche Stimme
die Tiere sollte jagen helfen, nach dem Wald ging, rief ihm eine naseweise
Krähe von dem Baum zu: „Ein schöner Gesellschafter! Schämst du dich nicht,
mit einem Esel zu gehen?“ — „Wen ich brauchen kann“, versetzte der Löwe,
„dem kann ich ja wohl meine Seite gönnen.“
So denken die Großen alle, wenn sie einen Niedrigen ihrer Gemeinschaft
würdigen.
Der Löwe und der Hase
Ein Löwe würdigte einen drolligen Hasen seiner näheren Bekanntschaft. „Aber
ist es denn wahr“, fragte ihn einst der Hase, „dass euch Löwen ein elender
krähender Hahn so leicht verjagen kann?“
„Allerdings ist es wahr“, antwortete der Löwe; „und es ist eine allgemeine
Anmerkung, dass wir große Tiere durchgängig eine gewisse kleine Schwachheit
an uns haben. So wirst du, zum Exempel, von dem Elefanten gehört haben, dass
ihm das Grunzen eines Schweins Schauder und Entsetzen erweckt.“
„Wahrhaftig?“, unterbrach ihn der Hase. „Ja, nun begreife ich auch, warum
wir Hasen uns so entsetzlich vor den Hunden fürchten.“
Der Löwe und die Mücke
Ein junger Held vom muntern Heere,
Das nur der Sonnenschein belebt,
Und das mit saugendem Gewehre
Nach Ruhm gestochner Beulen strebt,
Doch die man noch zum großen Glücke
Durch zwei Paar Strümpfe hindern kann,
Der junge Held war eine Mücke.
Hört meines Helden Taten an!
Auf ihren Kreuz- und Ritterzügen
Fand sie, entfernt von ihrer Schar,
Im Schlummer einen Löwen liegen,
Der von der Jagd entkräftet war.
Seht, Schwestern, dort den Löwen schlafen,
Schrie sie die Schwestern gaukelnd an.
Jetzt will ich hin, und will ihn strafen.
Er soll mir bluten, der Tyrann!
Sie eilt, und mit verwegnem Sprunge
Setzt sie sich auf des Königs Schwanz.
Sie sticht, und flieht mit schnellem Schwunge,
Stolz auf den sauern Lorbeerkranz.
Der Löwe will sich nicht bewegen?
Wie? Ist er tot? Das heiß ich Wut!
Zu mördrisch war der Mücke Degen:
Doch sagt, ob er nicht Wunder tut?
„Ich bin es, die den Wald befreiet,
Wo seine Mordsucht sonst getobt.
Seht, Schwestern, den der Tiger scheuet,
Der stirbt! Mein Stachel sei gelobt!“
Die Schwestern jauchzen, voll Vergnügen,
Um ihre laute Siegerin.
Wie? Löwen, Löwen zu besiegen!
Wie, Schwester, kam dir das in Sinn?
„Ja, Schwestern, wagen muss man! wagen!
Ich hätt es selber nicht gedacht.
Auf! lasset uns mehr Feinde schlagen.
Der Anfang ist zu schön gemacht.“
Doch unter diesen Siegesliedern,
Da jede von Triumphen sprach,
Erwacht der matte Löwe wieder,
Und eilt erquickt dem Raube nach.
Der Löwe und der Tiger
Der Löwe und der Hase, beide schlafen mit offenen Augen. Und so schlief
jener, ermüdet von der gewaltigen Jagd, einst vor dem Eingang seiner
fürchterlichen Höhle.
Da sprang ein Tiger vorbei und lachte des leichten Schlummers. Der nichts
fürchtende Löwe rief: „Schläft er nicht mit offenen Augen, natürlich wie der
Hase?“
„Wie der Hase?“, brüllt der aufspringende Löwe und war dem Spötter an der
Gurgel. Der Tiger wälzte sich in seinem Blut und der beruhigte Sieger
legte sich wieder schlafen.
Gotthold Ephraim Lessing über Fabeln
Ich hatte mich bei keiner Gattung von Gedichten länger verweilt, als bei der
Fabel. Es gefiel mir auf diesem gemeinschaftlichen Raine (Gebiet) der Poesie
und der Moral. Ich hatte die alten und neuen Fabulisten (Erzähler) so
ziemlich alle und die besten von ihnen mehr als einmal gelesen. Ich hatte
über die Theorie der Fabel nachgedacht. Ich hatte mich oft gewundert, dass
die gerade auf die Wahrheit führende Bahn des Aesopus, von den Neuern für
die blumenreichen Abwege der schwatzhaften Gabe zu erzählen, so sehr
verlassen werde. Ich hatte eine Menge Versuche in der einfältigen Art ...
gemacht. — Kurz, ich glaubte mich in diesem Fache so reich, dass ich, für's
Erste meinen Fabeln mit leichter Mühe eine neue Gestalt geben könnte.
Ich griff zum Werke. — Wie sehr ich mich aber wegen der leichten Mühe geirrt
hatte, das weiß ich selbst am besten. Anmerkungen, die man während des
Studierens macht und nur aus Misstrauen in sein Gedächtnis auf das Papier
wirft; Gedanken, die man sich nur zu haben begnügt, ohne ihnen durch den
Ausdruck die nötige Präzision zu geben; Versuchen, die man nur zu seiner
Übung wagt, fehlt noch sehr viel zu einem Buch. Was nun endlich für eins
daraus geworden; — hier ist es! ...
Quelle: Gotthold Ephraim Lessings Fabeln, Drey Bücher, Berlin 1777
Fabeln - berühmte Fabeln von Lessing
Quelle: Gotthold Ephraim Lessings Fabeln, 1759. Die Rechtschreibung wurde angepasst.