Fabeln von Pestalozzi (1746-1827)
Das Inwendige des Hügels (+)
Das kranke Bäumchen
Das Rachenrecht (+)
Der Berg und die Ebene (+)
Der Vogelsang
Der Kiesel und der Fels
Der Kröten-Trost
Der Löwe, die Schlange ... (+)
Der Nebelmacher
Der Plünderer und das Klostergut
Der Raupenfänger
Der Regentropfen
Ein Kutscher (+)
Die alte Mauer und das Bürgerhaus
Die aufgeopferten Steine
Die Linde und der König
Die reiche Quelle
Die zwei Bären
Hirschenhorn
Hühner, Adler und Mäuse (+)
Löwenschwäche (+)
Nur noch jetzt nicht
Schwamm und Gras
See und Fluss (+)
Sonne und Mond
Von Zäunen mit faulem Holze
Was der Affe bei der Schlange gelernt hat
Zwei Schäfer (+)
Zwei Weiden
(+) Sehr beliebte Fabel
Der Berg und die Ebene
Der Berg sagte zur Ebene: „Ich bin höher als du."
„Kann sein", erwiderte die Ebene; aber ich bin alles, und du bist nur eine
Ausnahme von mir."
Der Teil wäre immer so gerne mehr als das Ganze; das Zufällige erhebt sich so
gerne über das Wesentliche; alles Gemeine spricht so gerne die Eigentümlichkeit
des Vorzüglichen an; der Dachziegel selber scheint sich in seiner Höhe weit mehr
zu fühlen, als die Quaderstücke, auf denen die Mauern seines Hauses ruhen. Das
geht so weit, dass man gewöhnlich in den Anstalten für Blinde und Taubstumme
einen sehr großen psychologischen Takt in ihren Unterrichtsweisen angewandt
findet und allgemein als notwendig anerkennt, indessen man in gewohnten
Volksschulen daran denkt, dass für den Unterricht gemeiner Kinder, die alle fünf
Sinne in Ordnung haben, auch so ein psychologischer Takt in ihrer
Unterrichtsweise notwendig wäre.
Hirschenhorn
Ein Mensch, der noch wenig Tiere gesehen hatte, kam plötzlich in einen
Tiergarten und staunte über die Pracht der zahmen und wilden Geschöpfe; aber das
Horn des Hirschen ging ihm über alles; er sagte zum Wärter: „Die Natur hat
dieses Tier gewiss zum König der Tiere bestimmt." - „Warum meinst du
das?", fragte ihn der Wärter. Der Neuling im Tierreich antwortete: „Sein
mächtiges Horn zeugt von unermesslicher Kraft." — „O nein", erwiderte der
Wärter, es ist nur ein schwülstiger Auswuchs seiner mittelmäßigen Kraft."
Neuling: Ich hielt es für eine Naturkrone, die alle Tiere als das über sein
Haupt emporstrebende Zeichen seiner allgemeinen innern Kraft anerkennen und
respektieren müssen.
Der Wärter erwiderte, die Kraft der Hirsche liege wesentlich in ihren Beinen,
und diese brauchen sie vorzüglich zum Fliehen, wenn sie auch nur einen kleinen
Hund bellen hören.
Ein alter Soldat, der diese Erzählung über das Hirschenhorn und die
Hirschenkraft hörte, sagte darüber: „Ich kenne ein Leibregiment, das auf der
Parade sich auch seiner Kleidung, aber auch in der Schlacht im Fliehen
auszeichnete, wie der Hirsch mit seinem Horn und mit seinen Beinen."
Die reiche Quelle
„Glück auf!“, sagte der Berggott und die Quelle war zehnfach reicher; aber sie
sollte forthin durch die Röhre laufen, die für das zehnfach schwächere Wasser
gemacht war.
Das konnte sie nicht und sagte zu ihrem Meister: „Mache mir jetzt eine größere
Röhre.“
Dieser antwortete: „Bist du nicht vergnügt mit deinem Reichtume, warum willst du
jetzt noch eine Röhre?“
Die Brunnenquelle erwiderte: „Ich will eine, damit sich mein Wasser nicht unnütz
verschütte.“
Aber der Meister schalt sie und sagte: „Ich kenne dich als ungenügsames,
unruhiges, immer weiter greifendes Wesen, aber darum musst du dich auch mit
deiner alten Röhre behelfen.“ — Jetzt behilft sie sich wirklich damit, aber sie
verschüttet nun auch neun Zehnteile ihres Wassers und um sie her ist ein ewiger
Matsch*.
Toren sind's, die dem Volk in einem Lande großen Reichtum und großen Überfluss
wünschen, in welchem die Bildungsmittel, durch die es allein zu dem Willen und
zu der Kraft, einen guten Gebrauch von seinem Überflusse zu machen, erhoben
werden kann, allgemein mangeln.
*im Original: Kot
Der Nebelmacher
Eine Fee verriet ihm das Geheimnis, sich in einen undurchdringlichen Nebel
einzuhüllen.
Also ging er unter seinen Mitbürgern einher; aber sein Geheimnis kam heraus; man
hieß ihn allgemein den Nebelwandler,
Das machte ihn nicht betroffen; er behauptete kühn, der Nebel sei nur in den
Köpfen seiner Mitbürger, die träumen sich Schatten um ihn her, indessen er im
Licht wandle, das sie mit ihren dicken Köpfen nicht zu erkennen vermögen.
Mit dieser Kühnheit brachte er es mit Zeit und Geduld endlich dahin, dass seine
Mitbürger jetzt allgemein glauben, die Kunst des Nebelmachens gehöre zu den
Weisheits- und Kraftmitteln seines Amtes, und auch sie können nur dadurch auf
den Standpunkt einer höheren Aufklärung gelangen, wenn sie an der Kunst des
Nebelmachens, so viel es ihnen immer möglich, auch Mitanteil nehmen.
Ein Mann, der die Geistesbildung des Volkes in einem hohen Grade fürchtete, und
sogar bei der Herzens- und Berufsbildung es mit der Goldwaage abgemessen
wünschte, wie weit man beim Volke darin gehen dürfe, redete doch allen bösen
Künsten des Nebelmachens das Wort, ob es gleich ihm manchmal selber darob angst
ward, das vorschreitende Raffinement an den Künsten des Nebelmachens könnte am
Ende auf eine gefährliche Art auf die Beförderung der Volksaufklärung, die er so
sehr fürchtete, einwirken.
Die alte Mauer und das Bürgerhaus
Eine alte Mauer verachtete das Bürgerhaus, das man auf sie baute und sagte zu
ihm: „Ich stand ehemals unter einem Schlosse. Das Haus antwortete ihr: Das ist
wohl wahr, aber es ist auch wahr, dass die Überreste deiner zerfallenen Hoheit
mich, wie ich jetzt bin, inwendig und auswendig verunstalten, und für meine
Bewohner ein ewiges Hindernis in allem dem sind, was sie jetzt als ihnen bequem
und angenehm suchen.
Das Altertum war freilich in wesentlichen Rücksichten erhaben und groß; aber
alles Irdische und Menschliche, wenn es auch noch so erhaben und groß ist,
zerfällt mit der Zeit, und alles, was einmal bis zur Unbrauchbarkeit zerfallen,
dürfen wir, wenn es auch ehemals noch so groß und noch so erhaben gewesen, nicht
mehr in seiner zerstörten Gestalt, wir dürfen es dann nur noch in dem ewig
lebendigen Geist seiner innern Würde und Größe zurückwünschen und zu erhalten
suchen.
Der Löwe, die Schlange und der Teufel (+)
Der Löwe stritt einst mit der Schlange, wer von beiden eines höhern Geschlechts
sei. Der Löwe sagte: Der große Jupiter schuf mir hinter meinem Rachen eine
sorgenfreie Brust. Die Schlange antwortete: „Und mir gab er eine Kraft zu töten,
die keinen Schein hat und eine Wohnung, zu welcher niemand kommen kann.“ — Der
Teufel hörte ihr Gespräch, und sagte zu sich selber: „Bei meiner Hölle, wenn die
Kräfte, die in diesen zwei Tieren liegen, in einem einzigen vereinigt wären, ich
hätte vor diesem fast so viel als nichts zum Voraus.
Ein Mann, der dieses Gespräch hörte, sagte: „Wenn der Teufel diese doppelte
Tierkraft unter den Menschen gesucht hätte, so hätte er sich hie und da ganz
gewiss vereinigt gefunden. Er setzte dann noch hinzu: Aber gnade Gott einem
jeden Menschen, der unter die Hände einer dieser vereinigten gedoppelten
Tierkraft zu fallen das Unglück hat.“
Zwei Weiden
Die eine war gut; aber des Tages kränkten grinsende Affen die weidenden Tiere
und des Nachts lauerten braune Füchse auf ihr Leben.
Die andere war mager und schlecht, aber kein Affe kränkte die weidenden Tiere,
und kein Wolf und kein Fuchs lauerte auf ihr Leben.
Als die Schafe beides erfuhren, baten sie den Hirten: „Lieber Vater, führ' uns
doch nie mehr auf diese fette Weide; wenn wir sicher und ungekränkt sein können,
so wollen wir wahrlich lieber ein wenig hungern, als unter Unsicherheit und
Kränkung uns täglich voll fressen.“
Heil dem Volk, das von Armut und Reichtum Erfahrungen gemacht hat, die dieser
Schaferfahrung gleichen; und tausend Mal Heil dem Hirten, der die Herzenssprache
aller guten Schafe, die diese Erfahrung ausdrückt, würdiget.
Hühner, Adler und Mäuse (+)
Die Hühner rühmten ihr Gesicht und sagten selber zum Adler: „Auch das kleinste
Korn liegt heiter vor unsern Augen.“ — „Arme Hühner, erwiderte dieser, das erste
Kennzeichen eines guten Gesichts ist dieses, von allem dem nichts zu sehen, was
euch in die Augen fällt.“ — Also sagten auch die Maulwürfe: „Die schreckliche
Sonne ist der Tod alles Lichts, und es ist nur unter dem Boden recht heiter.“ —
Alle Mäuse gaben ihnen Beifall, und eine jede betet täglich zum großen Jupiter:
„Bewahre uns vor dem Blendwerk der Sonne, und erhalte uns das milde Licht
unserer Löcher von nun an bis in Ewigkeit.“
Die vielerlei Arten von Menschen, die bei der Nacht und bei dem Nebel, der sie
umhüllt, mit Blendlaternen umhergehen, und dabei glauben, ihre Blendlaternen
seien helles Sonnenlicht, kommen zu Zeiten auch in den Fall dieser Maulwürfe und
Fledermäuse.
Zwei Schäfer (+)
Der eine hütete die Schafe mit einem Hunde, der ohne Not keinen Laut gab, aber
stark war und Wolf und Fuchs bis in ihre Höhlen verfolgte.
Der andere hütete sie mit einem Hunde, der, wenn sein Meister flötete, ihm
tanzte und wenn er schlief, unter der Herde herum sprang und die Zucht und
Unzucht aller ihrer Ecken und Winkel auskundschaftete.
Das war freilich für die Kurzweile und die Trägheit des Schäfers gut ausgedacht;
aber die Herde hielt diesen Hund für ihren Teufel; und Fuchs und Wolf sagten
unter einander: „Wir haben auf hundert Stunden weit keinen bessern Freund, als
diesen Hund.“
So habe ich oft Bauern in den Schenkhäusern von ihren Vorgesetzten, die viel und
oft in das Oberamt laufen und daselbst an den Gaukeleien der Schlossdienstleute
Teil nehmen, und nebenbei, was in allen Häusern im Dorf getan und geredet wird,
ins Schloss tragen, sagen gehört, sie seien wahre Dorfteufel. Hingegen freut es
sie und sie danken Gott für jeden Vorgesetzten, der ohne Not und ohne Befehl nie
ins Oberamt läuft, und hingegen den ganzen Tag stille seinem Dienst abwartet,
und in jeder Not und Gefahr, die dem Dorfe oder jedem von ihnen, aufstoßt, mit
Rat und Tat für sie bei der Hecke und zu Hause ist.
Von Zäunen mit faulem Holze und von schlechten
Dorfvorgesetzten
Man zäunt hie und da auf den Bergen mit starkem gutem Holze, weil man daselbst
solches im Überfluss hat; im Tal aber, wo es hie und da selten ist, zäunen arme
Leute gar oft mit schwachem, schlechtem und oft halbfaulem Holze. Das antwortete
mir ein Bauer, als ich ihn fragte, warum sein Junker so schlechte Burschen in
seinem Dorfe zu Vorgesetzten mache. Ich erwiderte ihm: „Aber wozu dient denn ein
Zaun, wenn sein Holz faul ist?“ Er antwortete: „Die Sache hat dennoch mehr
Vorteile, als man glaubt; denn erstlich versieht ein solcher Zaun, was ein
guter, so lange kein Stier sein Horn daran stößt und kein Wind bläst. Zweitens:
Was dumm unter dem Vieh ist, ahnet nicht einmal, dass das Zaunholz faul ist,
weil es nur da steht; und endlich glauben die faulen Zaunstöcke, so lange sie
immer noch stehen, sie seien gutes Holz, und dieser Glaube an sich selbst macht
ihnen Freude.
Ich antwortete ihm: „Und so meinst du, denke ich, der Junker mache solche
schlechte Bursche zu Vorgesetzten, weil er keine bessern habe, und die meisten
Bauern merken nicht einmal, ob sie schlecht oder gut seien?“ Er erwiderte: „Das
ist sicher, ein schlechter Zaun ist immer besser als gar keiner. Das meiste und
beste Weidvieh probiert ihn nicht einmal, und weidet in seinen Grenzen so ruhig,
als wenn er der beste wäre.“
Und so ist es auch bei den Menschen; denn man hat die Mittel der öffentlichen
Ordnung notwendig und gerne, auch wenn sie nur halb gut sind, und auch der
schlechteste Bursche, wenn er in einem Dorfe Vorgesetzter oder in einer Stadt
Ratsherr wird, meint von der Stunde an, er sei ein ganz vorzüglicher Mensch, und
dieser Glaube an sich selbst macht auch wirklich, dass mancher in seinem Amte
und durch dasselbe etwas mehr und etwas besser wird, als er ohne seine Stelle
nie geworden wäre.
Das Inwendige des Hügels (+)
Ein Narr sah einen grasreichen Hügel und dachte: „Unter diesem Grase muss bis in
die unterste Tiefe lauter gute Erde liegen; aber ein Mann, der den Hügel in
seiner Tiefe kannte, führte ihn an eine Stelle, da er das Inwendige desselben
sah, das lauter Grien* war.
Die Erdenhügel. wenn sie in ihrer Oberfläche auch noch so grasreich sind, haben
fast immer so harte und unfruchtbare Felsen und Steinhaufen zum Grunde liegend;
und die menschlichen Höhen, zu denen sich unser Geist und unser Herz empor
schwingt, finden in unserm Fleisch und in unserm Blute immer eine Grundlage der
Schlechtheit und Verderbtheit, die mit dem toten unfruchtbaren Grien*, das dem
grasigen Hügel zum Grunde lag, große Ähnlichkeit haben.
Und auch die äußern Höhen der Macht und Ehre haben bei aller Menschlichkeit und
Würde, in der sie oft dastehen, allenthalben die harten und unfruchtbaren Felsen
des Verderbens der Menschennatur zu ihrer sehr belebten Unterlage; darum ist
aber auch in den höchsten Verhältnissen der Menschennatur die große Regel
anwendbar: Wachet und betet, auf dass ihr nicht in Versuchung eingeht; der Geist
ist willig, aber das Fleisch ist schwach.
*Geröll
Die Linde und der König
Als ein König einsam unter seiner Linde an ihren Gipfel emporstaunte, sagte er
zu sich selbst, wenn meine Untertanen auch an mir hingen, wie deine Blätter an
dir!
Die Linde antwortete ihm: „Ich treibt den Saft meines Stammes mit weit mehr
Gewalt in meine Blätter, als ich denselben auch von ihnen in mich selbst
zurücksauge.“
Der König war von der Antwort betroffen, aber mit höchstem innerem Edelmut sagte
er nach einer Weile zu sich selbst: „Ach, könnte ich das auch tun, könnte ich
das auch sagen!“ — Er fühlte tief, dass das Wesen des Heiligtums der königlichen
Gewalt in dieser Kraft bestehe, und sagte dann ferner zu sich selbst: „Ich
wollte einen Finger von der Hand geben, ich fände den Mann, der mir in Treue und
Würde sagen könnte, was ich für diesen Zweck zu tun im Stande sein könnte.“
Das Rachenrecht und seine Folgen (+)
Die Hyäne war bei dem Löwen wegen ihres Überdranges gegen die Tiere verklagt;
aber der Löwe getraute sich aus Furcht, dem Gewaltrecht seines eigenen Rachens
zu nahe zu treten, nicht, den Tieren gegen sie Recht zu verschaffen.
Vom Löwengericht also abgewiesen, jammerten diese, dass kein Recht mehr im
Löwenlande stattfinde.
Aber ein Ritter, der in der Nähe wohnte, und Weiden im Löwenlande hatte, sagte
zu seinem Vieh: „Narren sind, die sich einbilden, dass Tiere Tiere beschränken;
aber traut ihr auf mich.“ - Damit umgürtete er sein Schwert, und tötete zur
Sicherheit seiner Kühe, Stiere und Schafe, beides, den Löwen und die Hyäne.
Ein Einsiedler, der in der Nähe Gott und die Natur verehrte, lobte den Schöpfer
aller Kreaturen und sagte: „Die Gewalt des Tierrechts auf Erden findet nur in
der höhern Gewalt des Menschenrechts ihr Ziel.“
Aber alle Tiere, deren Rachen das Blut liebt, sprachen. unter einander: „Kann
auch in unserm Lande etwas Bedenklicheres geschehen, als dass Löwen und Hyänen
um elender Kühe und Schafe willen sollen getötet werden?“
Ich lobe meinen Ritter, der den schwachen Tieren gegen die Gewalttätigkeit der
starken Hilfe schaffte; aber ich möchte den Einsiedler, der Gott dafür lobte und
den Löwen- und Hyänenmord in seinem Geist mit dem Menschenrecht in Verbindung
brachte, aufmerksam machen, dass auf dem wahren Menschenrecht keine Art von
Blutschuld liegt, und dass das Schwert dem Menschengeschlecht ewig nicht zu
seinem wahren Rechte hilft. Das Menschenrecht in seiner heiligen Reinheit geht
ewig nur aus der Wahrheit in der Liebe hervor, und ewig ist es eine göttliche
Weisung des wahren Wegs, sein Recht unter den Menschen zu suchen. „Stecke dein
Schwert in die Scheide, denn alle, die das Schwert brauchen, werden mit dem
Schwert umkommen.“
Das kranke Bäumchen
Sein Vater hatte es gepflanzt — es wuchs mit ihm auf, er liebte es wie eine
Schwester, und wartete seiner, wie seiner Kaninchen und seiner Schäfchen.
Aber das Bäumchen ward krank; täglich welkten seine Blätter. Das gute Kind
jammerte, riss ihm täglich die welkenden Blätter von seinen Zweigen, und goss
dann auch täglich gutes, nährendes Wasser auf seine Wurzeln.
Aber einmal neigte das leidende Bäumchen seinen Gipfel gegen das liebende Kind
und sagte ihm: „Mein Verderben liegt in meinen Wurzeln; wenn du mir da hilfst,
so werden meine Blätter von selbst wieder grünen.“
Da grub das Kind unter das Bäumchen und fand ein Mäusenest unter seinen Wurzeln.
Wo das Volk darbt und leidet, da sucht nur ein Tor ihm dadurch zu helfen, dass
er die äußern Zeichen seines Elends den Augen oberflächlicher Beobachter
entrückt. Wer nicht Tor ist, der gräbt in jedem Fall, wo er das Volk leiden
sieht, den Mäusen nach, die ihre Nester gerne ins Dunkle unter den Boden
eingraben und ungesehen an den zarten Wurzeln des Volkssegens nagen und sie
verderben.
Der
Raupenfänger
Sie flog vor ihm als Schmetterling einher. Er jagte ihr durch Feld und Flur
nach; aber das Volk, das die Erde baute, klagte, er verderbe ihm mit seinem Tun
sein Gras und sein Korn.
Sie kroch vor ihm auf dem wachsenden Kohlstocke, auf dem blättervollen Baume und
an der grünenden Hecke; er haschte sie wieder; - aber sie starb in seiner Hand
und er warf sie als ein faulendes Aas weg.
Jetzt hing sie am sich entblätternden Baume und an den kahlen Wänden des Hauses
- er haschte sie noch einmal und wartet jetzt, bis ihre tote Larve für ihn
sicher zum Leben erwacht.
Wenn du die Wahrheit suchst, so jage ihr nicht nach, hasche nicht nach ihr,
warte ihrer in Liebe, Ruhe und Geduld. Tust du dieses, sie kommt selbst zu dir;
sie klopft an deiner Tür an und will Wohnung bei dir machen; besonders aber jag'
ihr nicht nach, wenn sie vor dir in den Lüften schwebt, und von dir weg fliegt.
Jagst du ihr dann nach, so zertrittst du mit deinen Jagdsprüngen nach ihr
Segenswahrheiten, die du schon im Besitz hast, und die dir ohne alles Maß mehr
wert sind, als die, denen du nachjagst. Am allerwenigsten reiße die Wahrheit,
wenn sie vor deinen Augen, zu deinen Füßen gedeiht, mit harter, frevelnder
Gewalt von dem Platze weg, auf dem sie Nahrung findet, um sie, ohne Rücksicht
auf ihre Nahrung, hinzutragen, wo es dich gelüstet. Tust du dieses, so wird sie
in deiner Hand zum stinkenden Aas. Nur allein, wenn du der Wahrheit, in welchem
Zustand sie auch vor dir steht, wäre es auch in einer tot scheinenden Hülle, mit
Ruhe, Geduld und Liebe wartest, bis sie für dich sich zum Leben entfaltet, nur
dann wird die Wahrheit, die du suchst, heilige, segnende Wahrheit, nur dann wird
sie für dich wirkliche Wahrheit sein.
Löwenschwäche. Stierenart und Fuchsenlist.
König Löwe wollte einmal allein brüllen, und verbot allem Vieh und namentlich
den Stieren, jemals einen Laut, der dem seinigen gleich scheinen könnte, von
sich hören zu lassen. Aber es war den Stieren nicht möglich, den alten Laut
ihres Rachens zu unterdrücken; wo sie immer glaubten, der Löwe sei nicht nm den
Weg, da brüllten sie forthin, wie sie von Alters her taten und wie es ihre Natur
mitbringt.
Darüber zürnte der Löwe; er fasste ein Paar der stärksten beim Horn und warf sie
in eine dunkle Grube.
Aber als die Gefangenen heilig versprachen, nicht mehr zu brüllen, hatte der
Löwe Mitleid mit ihnen und wollte sie los lassen. Aber der Fuchs missriet ihm
das, und sagte: „Du kannst den Stieren das Brüllen unmöglich ganz abgewöhnen,
ohne sie durch das Entsetzen deiner Standhaftigkeit überall stumm zu machen."
Der Fuchs hatte diese Worte kaum ausgesprochen, so erwachte in der milder
gewordenen Seele des Löwen der alte, böse Sinn der blinden
Regierungsstandhaftigkeit, den Fuchsseelen ihm schon in seiner Unmündigkeit
eingeflößt haben. Und die armen Stieren mussten im Gefolge dieser bösen
Regierungsstandhaftigkeit im Loch verrecken.
Es ist ewig schade, wenn brauchbare Tiere um solcher, von Füchsen
herkommenden Einflüsterungen, in Löchern verrecken müssen.
Der
Regentropfen
Die Erde sagte zu ihm: „Wer bist du?" Er antwortete: „Ich erscheine in meiner
Geburtsstadt als das nichtigste aller verachteten Wesen, ich stehe auf dem Boden
als Nebel, in den Höhen trage ich die Farbe des Elends: - Aber von ihrem
Verderben entzündet, durchblitze ich mich selber im Lichtglanz. Die tote Straße
und den unbesäten Acker verwandele ich in Kot; aber ich segne die Saaten des
Landes, und wenn mich die kalten windigen Höhen der Oberwelt ergreifen und
drängen, so falle ich als verhärteter Stein und als verheerender Guss aus den
Wolken."
Also - was des Segens empfänglich, das segnet der Regentropfen, was aber an
sich selbst in seinem Zustand eines Segens empfänglich, das segnet er nicht, er
kann es in dem Zustand, in dem er ist, nicht segnen, und was den Keim des
Verderbens in sich selbst trägt, dessen Verderben erhöht er durch eben die
Kraft, durch die er das, was des Segens empfänglich, segnet.
Der
Kiesel und der Fels
„Was nützt es, dass du dein Haupt über die Wellen empor hebst? Du hältst seinen
Lauf doch nicht auf." - So sagten neidische Kiesel, die der Strom fortrollte, zu
Felsen, der in den Wellen stehen blieb.
Aber der Fels antwortete ihnen: „Ich liebe das Stehenbleiben, auch wenn ich
nichts nütze." Und ein Kranich, der auf dem Fels stand, rief lächelnd in die
Fluten hinab zu den rollenden Steinen: „Wenn euch der Strom einmal an den Felsen
anlegt und ihr dann selber zum Liegenbleiben kommt, so werdet auch ihr nicht
mehr sagen, dass er nichts nütze.
Wer Kraft hat, gefällt sich in seiner Kraft, auch wenn sie ihm für den
Augenblick nichts nützt.
Er lässt sich auch lieber von einem Vogel, der für seine Ruhe und Sicherheit auf
ihm absitzt, eine Lobrede auf seine Kraft machen, als dass er sie selber macht.
See und Fluss
„Ich ruhe in ewiger Klarheit und Stille in meinem unveränderlichen Selbst." —
„Und ich fließe in ewiger Freiheit ins Weltmeer."
Also streiten sich See und Fluss miteinander. Die Toren! Der See dankt die
Klarheit und Ruhe seines Wassers den Flüssen und Bachen, die in wilden, trüben
Wirbeln in sein Beet hineinströmen; und Fluss und Bach neigen sich in aller
Unruhe ihres Laufes, und mit allem Kot, den sie mit sich führen, zu der Ruhe und
dem Gleichgewicht, in dem sich der See in stiller, klarer Reinheit spiegelt.
Die Selbstsucht der Menschennatur rühmt sich in allen Verhältnissen jeder Kraft
und jedes Vorzugs, die sie in sich selbst fühlt, und ist grenzenlos unaufmerksam
auf die Mittel und Ursachen, durch welche ihr diese Kräfte und Vorzüge eigen
geworden.
Die tote Natur ist unfühlend, und die lebendige, in so fern ihr Leben der
Selbstsucht des Fleisches und des Blutes ausgeht, ist es auf eine Art noch weit
mehr.
Schwamm und Gras
Der Schwamm sagte zum Gras: „Ich schieße in einem Augenblick auf, indessen du
einen ganzen Sommer durch wachsen musst um zu werden, was ich in einem
Augenblick bin."
„Es ist wahr", erwiderte das Gras, „ehe ich etwas wert bin, kann dein ewiger
Unwert hundertmal entstehen und hundertmal wieder vergehen."
Das schnell Entstehende und schnell Vergehende der tausendfältig wechselnden
Treibhausresultate unserer Zeitverkünstelungs-Erscheinungen verhält sich zu dem
Unwandelbaren, Ewigbleibenden, der wahren Entfaltungsmittel der Kräfte und
Anlagen der Menschen-Natur, wie der elende Schwamm, der auf dem Misthaufen in
einer Nacht entsteht, und in der andern wieder vergeht, zu allen Pflanzen der
Erde, die zu ihrem Wachstum Jahre brauchen.
Sonne und Mond
Wenn der Mond sich verdunkelt, so ist er dann nur, wie er in sich selbst ist,
und du achtest es nicht; aber wenn die Sonne in einen Schatten fällt, so
verdunkelt sich das Licht, das in ihrer Natur selbst liegt, und deine ganze
Aufmerksamkeit wird aus den Schatten gerichtet, der auf sie fällt.
Bei dem gemeinen Menschen achtest du es nicht viel, wenn du schon etwas
Schwaches und Gemeines von ihm hörest, aber wenn dir von einem Menschen, den du
hoch achtest, plötzlich eine Schwäche und ein Fehler auffällt, so vergisst du in
diesem Augenblick leicht seinen tief in dir selbst begründeten Wert, und siehst
und fühlst jetzt nur die vorübergehende Blöße, die er sich in diesem Augenblick
gegeben; und wahrlich, je kleiner du selbst bist, desto größer erscheint dir
diese Augenblicksschwäche des Mannes.
Der Vogelsang
Wenn Leander durch einen Wald ging, in welchem Vogelsang war, sagte er: „Hier
ist ein milder Himmel!" Und wenn er auf den Bäumen keine Singvögel antraf, so
sagte er: „Hier wehen die Nordwinde!"
Das ist wohl wahr, aber der Reisende würde sich doch irren, der die frohen
Menschen allgemein in dem milden, von Weihrauch duftenden Dunstkreis des Innern
der Zimmer in hohen Palästen suchte und glaubte, wo Arme in Wind und Regen, in
Hitze und Frost arbeiten müssen, da sei das Menschengeschlecht allgemein
niedergeschlagen und traurig.
Ein
Kutscher, wie es deren viele gibt
Ich will es durchsetzen und den Wagen auf diesem und keinem andern Wege an seine
Stelle bringen - also spricht Nilson, und fährt eine Weile zwischen Wand und
Wellen einher. Er drängt sich fest an den Felsen; aber die Pferde sind wund und
der Wagen leidet Not. Doch es geht. Jetzt muss er schwenken: Der entscheidende
Augenblick ist da; es geht nicht; der Wagen muss zu tief in den Strom; ich sehe
es, es geht nicht; ich sehe es, bei Gott, er schwenkt nicht einmal gut; der
Wagen ist hin — und er — tut, was gut ist und frommt, um nicht zu ertrinken.
Was sollte er anders? Der Wagen war ja nicht sein; er war ja nur Kutscher,
und hatte einen guten Herrn. Er ging, so nass als er aus den Wellen kam, heim;
sein Herr hatte Mitleiden mit ihm und er bekam seinen Abschied, wie Viele, die
als Staatskutscher mit ihrem Staatswagen stark und frech einherfahren und lange
durchsetzen, aber am Ende überschwenken, und dennoch oft nicht einmal ihren
Abschied begehren müssen.
Der
Kröten-Trost
Ein Land ward zum Sumpf, alles, was darin lebte, musste sterben, Kröten und
Würmer wandelten einzig auf ihm herum; nur auf einem Felsen lag noch ein Reh und
ein Schaf, jammernd den Tod erwartend.
Eine Kröte, die sich unten im Sumpf blähte, quakte zu den leidenden Tieren
hinauf: „Was jammert ihr so? Sterbt in Gottes Namen; warum seid ihr nicht Kröten
geworden?"
„Kommt doch in unsere Stadt und wohnet bei uns", sagte einst ein Bürger einer
Stadt, die ganz ominös Krötenburg hieß, zu einem Bauern, der ihm klagte, es sei
so viel Not und so viel Armut in ihrem Dorf, und man könne mit allem Fleiß und
aller Arbeitsamkeit kaum das liebe Brot erwerben.
„Nun, wie habt ihr es denn in eurer Stadt?", erwiderte der magere Bauer. Der
fette Bürger antwortete: „Die Herren auf unserm Rathaus haben einen
Gemeindsäckel, der so reich ist, dass sie jedem dummen Jungen und jedem
Pflastertreter, der Bürger ist, eine Pfrund geben können, und unser Spital hat
so viel Einkünfte, dass er die ganze Stadt mit Wein, Fleisch und Brod versorgen
könnte, und muss es tun, sobald ein Bürger nur um eine Armenpfrund anhaltet.„
Und der magere Bauer antwortete dem dicken Bürger: „Ich möchte bei allem dem
doch nicht Bürger in eurer Krötenburg sein.„ — „Warum, warum?",fragte der
Bürger. Der Bauer aber schwieg und sagte ihm den Grund nicht, der darin bestand:
Die Bürger von Krötenburg waren weit und breit in der ganzen Nachbarschaft als
die dümmsten und anmaßendsten Tröpfe bekannt, die auf Gottes Erdboden herum
gehen.
Die aufgeopferten Steine
Große Quadersteine, die unter ein sinkendes Schloss gebracht wurden, klagten der
Mauer, dass sie ihr also aufgeopfert werden.
Doch ehe noch diese antworten konnte, schrien die Hofauffahrtsteine der Fenster
und Türen: „Wir sind die Prachtsteine des Hauses, und wir wollen, dass man euch
unter uns in den Sumpf lege. Was braucht es weiter? Wir wollen es also." — Aber
die Mauer selber war billiger. Sobald sie vor dem Gebrüll der Prachtsteine reden
konnte, sagte sie zu den in Sumpf und Kot versenkten Quadersteinen: „Liebe,
aufgeopferte Steine! Ich werde niemals vergessen, dass ihr, um mich vor dem
Umsturze zu retten, unter den Boden gebracht worden seid, und dass ich, solange
ich stehe, auf euch ruhen muss, indessen die Hofauffahrtsteine nur an meinem
Rand kleben.
Diese Antwort freute die aufgeopferten Steine; sie hatten sie nicht erwartet,
und antworteten: „Wenn nur die Hofauffahrtsteine, die nur deine Löcher ausfüllen
und selber nichts tragen, mit ihrem „wir wollen, wir wollen", das Maul hielten.
Die Mauer, oder vielmehr das ganze Schloss erwiderte ihnen: „Ich höre ihr
anmaßungsvolles Brüllen selber nicht gerne, aber ich vermag es nicht sie
schweigen zu machen."
Sie setze hinzu: „Es ist, so lange die Welt steht, kaum irgendeiner Kraft
gelungen, dem Maulbrauchen der schwachen Eitelkeit Meister zu werden."
Das war übrigens noch eine Mauer von alter Art. Es gibt jetzt Mauern, und
zwar hohe, große Mauern, die von ihren Hofauffahrtssteinen so umschlungen und so
verblendet werden, dass sie selber zu glauben scheinen, sie seien nur zur
Unterstützung und zum Behufe ihrer Hofauffahrtssteine da, und zu gar keinem
andern Zwecke so hoch aufgetürmt worden.
Nur noch jetzt nicht
Die Woge schwoll; es war keine Rettung für das Dorf, als den Damm im Park zu
durchschneiden und ihn mit allen seinen Rebhühnern, Rehen und Hasen den Wellen
Preis zu geben.
Das Volk bat. „Nur noch jetzt nicht", erwiderte der Junker. Die Gefahr ward
dringender. Das Volk kniete und bat: „Wir sind mit Haus und Hof, mit Weib und
Kind verloren, wenn sie den Damm nicht durchschneiden lassen."
Aber der Junker liebte das Vieh im Park und kannte das Volk im Dorfe kaum. Darum
schien ihm auch ihre Bitte eine sträfliche Unaufmerksamkeit auf den Parkschaden,
den ihm die Durchbrechung des Damms zuziehen müsste. Er hielt deswegen auch ihr
Knien für eine unanständige Zudringlichkeit, schüttelte den Kopf darob und
sprach ernst und unwillig: „Nur noch jetzt nicht — und noch einmal, nur noch
jetzt nicht", war auf seinen Lippen, als der Damm brach und Land und Park und
Rebhühner und Menschen mit einander verschlang.
Der verhärtete Welt- und Tiersinn erkennt die Zeit und Stunde nicht, die zu
seinem Heil und Frieden dient.
Was der Affe bei der Schlange gelernt hat
Ein junger Affe studierte lange und konnte nicht ergründen, was Bescheidenheit
sei; endlich sah er eine Schlange auf dem Boden kriechen und sagte zu seiner
Mutter: „So ohne Hände und Füße sich durch die Welt zu winden, das wird wohl
Bescheidenheit sein?"
Der gute Junge wusste nicht, wie leicht und wie hoch die Schlange ihren Kopf
in die Höhe heben, und wie sie ihren Leib zu einem Kamelrücken machen kann, wenn
sie sich auf Kraftsprünge vorbereitet, mit denen sie nicht bloß schwache Affen,
sondern auch starke Tiere mörderisch anfällt, um den Demutsbauch ihres
kriechenden Leibes vollzustopfen. Glaube doch niemand, dass, wer Gift hinter
seinem Zahn hat und sich bei seinem Kriechen gerne und leicht unsichtbar macht,
demütig sei.
Der
Plünderer und das Klostergut
Als ein Plünderer den Abt Wyler fragte, wozu der Klosterreichtum im Lande diene,
antwortete ihm dieser: „Es ist am Ende doch immer gut, dass auch jemand der
Letzte sei, den ihr plündert."
Und als ich einen Bauern fragte, wozu ein Steinhaufen diene, der vor seinem Haus
lag, antwortete er mir: „Wird er mir weniger dienen, weil ich jetzt noch nicht
weiß, wozu ich ihn brauche?"
Die Sparpfennige der Alten waren eine gute Sache, aber wir kennen sie nicht
mehr. Wie diese ihre Kraft anwandten, Sparpfennige zu besitzen, verwenden wir
sie auf die Kunst, Schulden zu machen, und auf Ausgaben, die uns dazu nötigen,
ohne im Geringsten einen Realwert für unsere Befriedigung zu haben.
Die zwei Bären
Ein Bärenführer führte zwei Bären im Lande herum. Der eine davon war schon
ausgewachsen, als er ihn in einer Grube fing, und es brauchte viele Wochen lang
große Prügelgewalt, ehe er sich daran gewöhnen wollte, auf zwei Beinen zu stehen
und nach der Trommel zu tanzen. Doch endlich und endlich ward er ein
abgerichteter Tanzbär.
Den Zweiten hatte er von einem Jäger bekommen, der ihn noch ganz jung aus seinem
Neste genommen. Dieser lernte, das auf zwei Beinen stehen und nach der Trommel
tanzen, so viel als von sich selbst. Er stand nicht nur sogleich auf seinen zwei
Beinen, wenn der Meister ihm von Ferne einen Bissen Fleisch zeigte, er gewöhnte
sich sogar daran, sobald der Meister nur um den Weg war, sogleich stundenlang
auf seinen zwei Hinterfüßen vor ihm stehen zu bleiben, und so mit ihm
herumzugehen. Dadurch gewöhnte er sich aber auch das Auf-Allen-Vieren-Gehen
endlich ganz ab. Er ging, wie der Orang-Utan, den ganzen Tag mit einem Stocke in
der Tatze seinem Meister nach, wo er immer zum Tanz ihn hinführte.
So einen Tanzbären hatte die Gegend noch nie gesehen. Wenn er in ein Dorf kam,
so liefen alle Bauern aus ihren Häusern! Der Schulmeister ließ sogar die Kinder
aus der Schule, um den Wunderbären zu sehen. Das schien für den Bärenführer ein
großes Glück. Er gewann mehr, als noch je einer mit seinen Tanzbären gewonnen.
Die Bauern fütterten ihm seine zwei Tiere umsonst; aber der Meister machte
keinen guten Gebrauch von seinem Glücke; er besoff und überfraß sich jetzt alle
Tage; damit schwächte er sich nur, bekam geschwollene Beine, und als er einst
mit seinem Bären besoffen über einen Steg musste, glitschte ihm sein Fuß aus; er
fiel in den Bach und verwundete sich tödlich am Kopfe. Beide Bären sprangen ihm
nach, rissen ihn aus dem Wasser und leckten ihm seine Wunden. Aber es half
nichts. Er starb unter ihrer Sorgfalt.
Jetzt hatten die armen Tiere keinen Meister, keine Speise, den Hunger im Leibe
und den Maulkorb um, so dass, wenn sie auch im Hunger den toten Meister hätten
fressen wollen, es ihnen nicht möglich gewesen wäre.
Sie versuchten zwar mit ihren Klauen ihre Körbe vom Maul zu reißen; aber sie
brachten die Körbe nicht los.
Nun ertönte ihr Geheul weit und breit durch die waldige Einöde und lockte
endlich einige ihrer freien Waldbrüder zu ihnen. Diese nahmen ihre Not zu Herzen
und bissen ihnen mit ihren Bärenzähnen die Eisengitter entzwei, hinter denen die
armen Tiere ohne diese Hilfe hätten verhungern müssen.
Darauf gaben sie ihnen zu verstehen, sie müssen mit ihnen in die Tiefe des
Waldes, wo sie Honig und Wildbret finden werden. Aber als der eine dieser
Tanzbären mit der Vordertatze einen Stock vom Boden aufnahm, und so wie ein
Mensch auf den Hinterbeinen ihnen in den Wald folgte, sahen sie dieses
Gaukelwunder von einem Bären mit großem Erstaunen an, und einer sagte zu dem
andern: „Nein, solche widersinnige Kunstnarren hätten wir doch nicht geglaubt,
dass Tiere von unserer Kraft und von unserer Art werden könnten, wenn sie unter
Menschenhände geraten.
Die armen Tanzbären konnten, so sehr sie hungerten, nur nicht mehr wie die
Waldbären zu ihrem Fraß hinlaufen.
Diese mussten ihnen alle Augenblicke warten, damit sie ihnen nachkommen konnten.
Aber als sie endlich zu einem Honigbaum gelangten, machten sie sich mit einem
Eifer hinter den Fraß, dass ein Waldbär zum andern sagte: „Sie können doch auch
noch wie wir fressen." — „Aber mit dem Fressen suchen wird es schwer halten",
erwiderte der andere. Der erste aber meinte, sie werden die Mühe, fressen suchen
zu müssen, gar nicht lange haben. Er sagte: sie können ja nicht gehen; der erste
Jäger, der in den Wald kommt, schießt sie nieder.
Indessen lernte der eine Tanzbär, der in der Jugend im Wald aufgewachsen,
allmählich doch wieder schneller laufen, und sich hie und da etwas Fleisch
erjagen; aber der andere lief ihm und jedem andern Bären, der an einem Fraß
nagte, nach, und meinte, dass ihm jeder Bär aus Mitleiden etwas von dem, was er
selber gerne fraß, zuwerfen müsse.
Das geschah auch zu Zeiten. Aber alle Bären verachteten ihn, und hießen ihn nur
den Bärenbettler oder den Menschenaffen.
Er hatte ein elendes Leben. Indessen geschah auch, was einer der Waldbären
voraussagte. Sein Elend dauerte nicht lange. Der erste Jäger, der in diesem Wald
auf die Bärenjagd ausging, kam ihm bald auf die Spur, und schoss ihn nieder.
Unsere Zeitverkünstlung macht Tausende und Tausende durch ihre Erziehung zu
solchen armseligen, der sittlichen, geistigen und selbst physischen Kräfte ihrer
Selbsterhaltung und Selbstversorgung ganz mangelnden Menschenbettlern und
Menschenaffen. Man schießt sie zwar in unserer Mitte nicht nieder, wie es dem
armen Tanzbären im Wald begegnet; aber sie sind wie er, auch unter uns lästige
Bettler.
Doch sie haben in unserer Mitte nicht allenthalben üble Zeit. Die verkünstelte
Welt hat allgemein Mitleiden mit ihnen, und sie muss wohl; die armen,
verkünstelten Schwächlinge haben ja keine andern, als die allgemeinen
Zeitfehler, die auch vielseitig denjenigen, die ihnen Mitleiden bezeugen, nicht
fremd sind, und die, obwohl sie in Überfluss und Gemächlichkeit leben, in vielen
Rücksichten verkünstelte Schwächlinge, wie sie sind, und durch ihr Leben die
Quellen der Erschlaffung, die die Armen unter ihnen elend machen, täglich mehr
vermehren und verstärken.
Fabeln - berühmte Fabeln von Pestalozzi
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