Die Novelle - Merkmale und Aufbau
Die Novelle
Die Geschichte der Novelle
In „Decamerone“ (1349/1353) von Giovanni Boccaccio treffen sich nicht weit von Florenz zehn junge Leute, die wegen der Pest aus Florenz geflohen sind. Hier erzählen sie sich an zehn Tagen je zehn Novellen, um sich zu unterhalten. Nach dieser Zeit kehren sie nach Florenz zurück. Mit Heinrich von Kleist wird die Novelle in Deutschland bekannt.
Merkmale der Novelle
Der wichtigste Bestandteil einer Novelle (novella = italienisch für Neuigkeit)
ist ein Ereignis, das über das Erleben des Alltags hinausgeht (unerhörte Begebenheit), aber auch das Brechen gesellschaftlicher Regeln
gehört dazu.
Die Handlung der Novelle beschränkt sich auf ein ungewöhnliches Ereignis, es gibt deshalb keine ausführliche Nebenhandlung.
Aufbau einer Novelle
- Eine Novelle führt zum Wendepunkt der Geschichte hin.
- Handlung, Orte und Zeit werden in zeitlicher Reihenfolge angeordnet.
- Ältere Novellen verfügen über eine Rahmenhandlung.
Unterschied zur Kurzgeschichte
- Es wird in der Novelle nur über ungewöhnliche Ereignisse berichtet.
- Die Kurzgeschichte erzählt von Geschehnissen des Alltags.
Bekannte Novellen
Das Erdbeben in Chili, Heinrich von Kleist (Entstehungsjahr 1807)
Das Bettelweib
von Locarno, Heinrich von Kleist (Entstehungsjahr 1807)
Michael Kohlhaas, Heinrich von Kleist (Entstehungsjahr 1810)
Das Marmorbild, Joseph von Eichendorff (Entstehungsjahr 1818)
Das Fräulein von Scuderi, E.T.A. Hoffmann (Entstehungsjahr 1821)
Novelle, Johann Wolfgang von Goethe
(Entstehungsjahr 1828)
Die Judenbuche, Annette von Droste-Hülshoff (Entstehungsjahr 1842)
Mozart auf der Reise nach Prag, Eduard Mörike (Entstehungsjahr 1856)
Beispiel für eine Novelle
Stefan Zweig
Schachnovelle
Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos
Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der
letzten Stunde. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihren Freunden das
Geleit zu geben, Telegraphenboys mit schiefen Mützen schossen Namen
ausrufend durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt,
Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während das Orchester
unerschütterlich zur Deckshow spielte. Ich stand im Gespräch mit einem
Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als
neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht scharf aufsprühte – anscheinend war
irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern
interviewt und photographiert worden. Mein Freund blickte hin und lächelte.
„Sie haben da einen raren Vogel an Bord, den Czentovic." Und da ich offenbar
ein ziemlich verständnisloses Gesicht zu dieser Mitteilung machte, fügte er
erklärend bei: „Mirko Czentovic, der Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika
von Ost nach West mit Turnierspielen abgeklappert und fährt jetzt zu neuen
Triumphen nach Argentinien."
In der Tat erinnerte ich mich nun dieses jungen Weltmeisters und sogar
einiger Einzelheiten im Zusammenhang mit seiner raketenhaften Karriere –,
mein Freund, ein aufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit einer
ganzen Reihe von Anekdoten ergänzen. Czentovic hatte sich vor etwa einem
Jahr mit einem Schlage neben die bewährtesten Altmeister der Schachkunst,
wie Aljechin, Capablanca, Tartakower, Lasker, Bogoljubow, gestellt; seit dem
Auftreten des siebenjährigen Wunderkindes Rzecewski bei dem Schachturnier
1922 in New York hatte noch nie der Einbruch eines völlig Unbekannten in die
ruhmreiche Gilde derart allgemeines Aufsehen erregt. Denn Czentovics
intellektuelle Eigenschaften schienen ihm keineswegs solch eine blendende
Karriere von vornherein zu weissagen. Bald sickerte das Geheimnis durch,
dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben außerstande war, in
irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler zu schreiben,
und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete, „seine
Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell". Sohn eines blutarmen
südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Barke eines Nachts von einem
Getreidedampfer Überrannt wurde, war der damals Zwölfjährige nach dem Tode
seines Vaters vom Pfarrer des abgelegenen Ortes aus Mitleid aufgenommen
worden, und der gute Pater bemühte sich redlich, durch häusliche Nachhilfe
wettzumachen, was das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind in der
Dorfschule nicht zu erlernen vermochte.
Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirko starrte die schon
hundertmal ihm erklärten Schriftzeichen immer wieder fremd an; auch für die
simpelsten Unterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbeitenden
Gehirn jede festhaltende Kraft. Wenn er rechnen sollte, musste er noch mit
vierzehn Jahren jedes Mal die Finger zu Hilfe nehmen, und ein Buch oder eine
Zeitung zu lesen bedeutete für den schon halbwüchsigen Jungen noch besondere
Anstrengung. Dabei konnte man Mirko keineswegs unwillig oder widerspenstig
nennen. Er tat gehorsam, was man ihm gebot, holte Wasser, spaltete Holz,
arbeitete mit auf dem Felde, räumte die Küche auf und erledigte verlässlich,
wenn auch mit verärgernder Langsamkeit, jeden geforderten Dienst. Was den
guten Pfarrer aber an dem querköpfigen Knaben am meisten verdross, war seine
totale Teilnahmslosigkeit. Er tat nichts ohne besondere Aufforderung,
stellte nie eine Frage, spielte nicht mit anderen Burschen und suchte von
selbst keine Beschäftigung, sofern man sie nicht ausdrücklich anordnete;
sobald Mirko die Verrichtungen des Haushalts erledigt hatte, saß er stur im
Zimmer herum mit jenem leeren Blick, wie ihn Schafe auf der Weide haben,
ohne an den Geschehnissen rings um ihn den geringsten Anteil zu nehmen.
Während der Pfarrer abends, die lange Bauernpfeife schmauchend, mit dem
Gendarmeriewachtmeister seine üblichen drei Schachpartien spielte, hockte
der blondsträhnige Bursche stumm daneben und starrte unter seinen schweren
Lidern anscheinend schläfrig und gleichgültig auf das karierte Brett.
Eines Winterabends klingelten, während die beiden Partner in ihre tägliche
Partie vertieft waren, von der Dorfstraße her die Glöckchen eines Schlittens
rasch und immer rascher heran. Ein Bauer, die Mütze mit Schnee überstäubt,
stapfte hastig herein, seine alte Mutter läge im Sterben, und der Pfarrer
möge eilen, ihr noch rechtzeitig die letzte Ölung zu erteilen. Ohne zu
zögern folgte ihm der Priester. Der Gendarmeriewachtmeister, der sein Glas
Bier noch nicht ausgetrunken hatte, zündete sich zum Abschied eine neue
Pfeife an und bereitete sich eben vor, die schweren Schaftstiefel
anzuziehen, als ihm auffiel, wie unentwegt der Blick Mirkos auf dem
Schachbrett mit der angefangenen Partie haftete.
„Na, willst du sie zu Ende spielen?", spaßte er, vollkommen überzeugt, dass
der schläfrige Junge nicht einen einzigen Stein auf dem Brett richtig zu
rücken verstünde. Der Knabe starrte scheu auf, nickte dann und setzte sich
auf den Platz des Pfarrers. Nach vierzehn Zügen war der
Gendarmeriewachtmeister geschlagen und musste zudem eingestehen, dass
keineswegs ein versehentlich nachlässiger Zug seine Niederlage verschuldet
habe. Die zweite Partie fiel nicht anders aus.
„Bileams Esel!" rief erstaunt bei seiner Rückkehr der Pfarrer aus, dem
weniger bibelfesten Gendarmeriewachtmeister erklärend, schon vor zweitausend
Jahren hätte sich ein ähnliches Wunder ereignet, dass ein stummes Wesen
plötzlich die Sprache der Weisheit gefunden habe. Trotz der vorgerückten
Stunde konnte der Pfarrer sich nicht enthalten, seinen halb analphabetischen
Famulus (Student, der einem Hochschullehrer assistiert) zu einem Zweikampf
herauszufordern. Mirko schlug auch ihn mit Leichtigkeit. Er spielte zäh,
langsam, unerschütterlich, ohne ein einziges Mal die gesenkte breite Stirn
vom Brette aufzuheben. Aber er spielte mit unwiderlegbarer Sicherheit; weder
der Gendarmeriewachtmeister noch der Pfarrer waren in den nächsten Tagen
imstande, eine Partie gegen ihn zu gewinnen. Der Pfarrer, besser als irgend
jemand befähigt, die sonstige Rückständigkeit seines Zöglings zu beurteilen,
wurde nun ernstlich neugierig, wieweit diese einseitige sonderbare Begabung
einer strengeren Prüfung standhalten würde. Nachdem er Mirko bei dem
Dorfbarbier die struppigen strohblonden Haare hatte schneiden lassen, um ihn
einigermaßen präsentabel zu machen, nahm er ihn in seinem Schlitten mit in
die kleine Nachbarstadt, wo er im Café des Hauptplatzes eine Ecke mit
enragierten Schachspielern wusste, denen er selbst erfahrungsgemäß nicht
gewachsen war. Es erregte bei der ansässigen Runde nicht geringes Staunen,
als der Pfarrer den fünfzehnjährigen strohblonden und rotbackigen Burschen
in seinem nach innen getragenen Schafspelz und schweren, hohen
Schaftstiefeln in das Kaffeehaus schob, wo der Junge befremdet mit scheu
nieder geschlagenen Augen in einer Ecke stehen blieb, bis man ihn zu einem
der Schachtische hinrief. In der ersten Partie wurde Mirko geschlagen, da er
die so genannte Sizilianische Eröffnung bei dem guten Pfarrer nie gesehen
hatte. In der zweiten Partie kam er schon gegen den besten Spieler auf Remis
(Unentschieden). Von der dritten und vierten an schlug er sie alle, einen
nach dem andern.
Nun ereignen sich in einer kleinen südslawischen Provinzstadt höchst selten
aufregende Dinge; so wurde das erste Auftreten dieses bäuerlichen Champions
für die versammelten Honoratioren (angesehene Personen in kleinen Orten)
unverzüglich zur Sensation. Einstimmig wurde beschlossen, der Wunderknabe
müsste unbedingt noch bis zum nächsten Tage in der Stadt bleiben, damit man
die anderen Mitglieder des Schachklubs zusammenrufen und vor allem den alten
Grafen Simczic, einen Fanatiker des Schachspiels, auf seinem Schlosse
verständigen könne. Der Pfarrer, der mit einem ganz neuen Stolz auf seinen
Pflegling blickte, aber über seiner Entdeckerfreude doch seinen
pflichtgemäßen Sonntagsgottesdienst nicht versäumen wollte, erklärte sich
bereit, Mirko für eine weitere Probe zurückzulassen. Der junge Czentovic
wurde auf Kosten der Schachecke im Hotel einquartiert und sah an diesem
Abend zum ersten Mal ein Wasserklosett. Am folgenden Sonntagnachmittag war
der Schachraum überfüllt. Mirko, unbeweglich vier Stunden vor dem Brett
sitzend, besiegte, ohne ein Wort zu sprechen oder auch nur aufzuschauen,
einen Spieler nach dem andern; schließlich wurde eine Simultanpartie
(Schachpartie, die ein Einzelner gegen mehrere spielt.)vorgeschlagen.
Es dauerte eine Welle, ehe man dem Unbelehrten begreiflich machen konnte,
dass bei einer Simultanpartie er allein gegen die verschiedenen Spieler zu
kämpfen hätte. Aber sobald Mirko diesen Usus (Brauch) begriffen, fand er
sich rasch in die Aufgabe, ging mit seinen schweren, knarrenden Schuhen
langsam von Tisch zu Tisch und gewann schließlich sieben von den acht
Partien.
Nun begannen große Beratungen. Obwohl dieser neue Champion im strengen Sinne
nicht zur Stadt gehörte, war doch der heimische Nationalstolz lebhaft
entzündet. Vielleicht konnte endlich die kleine Stadt, deren Vorhandensein
auf der Landkarte kaum jemand bisher wahrgenommen, zum ersten Mal sich die
Ehre erwerben, einen berühmten Mann in die Welt zu schicken. Ein Agent
namens Koller, sonst nur Chansonetten und Sängerinnen für das Kabarett der
Garnison vermittelnd, erklärte sich bereit, sofern man den Zuschuss für ein
Jahr leiste, den jungen Menschen in Wien von einem ihm bekannten
ausgezeichneten kleinen Meister fachmäßig in der Schachkunst ausbilden zu
lassen. Graf Simczic, dem in sechzig Jahren täglichen Schachspieles nie ein
so merkwürdiger Gegner entgegengetreten war, zeichnete sofort den Betrag.
Mit diesem Tage begann die erstaunliche Karriere des Schiffersohnes.
Nach einem halben Jahre beherrschte Mirko sämtliche Geheimnisse der
Schachtechnik, allerdings mit einer seltsamen Einschränkung, die später in
den Fachkreisen viel beobachtet und bespöttelt wurde. Denn Czentovic brachte
es nie dazu, auch nur eine einzige Schachpartie auswendig – oder wie man
fachgemäß sagt: blind – zu spielen. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit, das
Schlachtfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen. Er musste
immer das schwarz-weiße Karree (Viereck) mit den vierundsechzig Feldern und
zweiunddreißig Figuren handgreiflich (griffbereit) vor sich haben; noch zur
Zeit seines Weltruhmes führte er ständig ein zusammenlegbares Taschenschach
mit sich, um, wenn er eine Meisterpartie rekonstruieren oder ein Problem für
sich lösen wollte, sich die Stellung optisch vor Augen zu führen. Dieser an
sich unbeträchtliche Defekt verriet einen Mangel an imaginativer
(Einbildung) Kraft und wurde in dem engen Kreise ebenso lebhaft diskutiert,
wie wenn unter Musikern ein hervorragender Virtuose (Meister) oder Dirigent
sich unfähig gezeigt hätte, ohne aufgeschlagene Partitur (Notenschrift) zu
spielen oder zu dirigieren. Aber diese merkwürdige Eigenheit verzögerte
keineswegs Mirkos stupenden Aufstieg. Mit siebzehn Jahren hatte er schon ein
Dutzend Schachpreise gewonnen, mit achtzehn sich die ungarische
Meisterschaft, mit zwanzig endlich die Weltmeisterschaft erobert. Die
verwegensten Champions, jeder einzelne an intellektueller Begabung, an
Phantasie und Kühnheit ihm unermesslich überlegen, erlagen ebenso seiner
zähen und kalten Logik wie Napoleon dem schwerfälligen Kutusow, wie Hannibal
dem Fabius Cunctator, von dem Livius berichtet, dass er gleichfalls in
seiner Kindheit derart auffällige Züge von Phlegma (Antriebslosigkeit) und
Imbezillität (mittlere geistige Behinderung) gezeigt habe. So geschah es,
dass in die illustre (namhafte) Galerie der Schachmeister, die in ihren
Reihen die verschiedensten Typen intellektueller (verstandesmäßiger)
Überlegenheit vereinigt, Philosophen, Mathematiker, kalkulierende,
imaginierende (Einbildungskraft) und oft schöpferische Naturen, zum ersten
Mal ein völliger Outsider (Außenseiter) der geistigen Welt einbrach, ein
schwerer, maulfauler Bauernbursche, aus dem auch nur ein einziges
publizistisch (für die Presse) brauchbares Wort herauszulocken selbst den
gerissensten Journalisten nie gelang. Freilich, was Czentovic den Zeitungen
an geschliffenen Sentenzen (Sinnsprüche) vorenthielt, ersetzte er bald
reichlich durch Anekdoten (meist lustige Geschichte über eine bekannte
Person) über seine Person. Denn rettungslos wurde mit der Sekunde, da er vom
Schachbrette aufstand, wo er Meister ohnegleichen war, Czentovic zu einer
grotesken (lächerlichen) und beinahe komischen Figur; trotz seines
feierlichen schwarzen Anzuges, seiner pompösen Krawatte mit der etwas
aufdringlichen Perlennadel und seiner mühsam manikürten Finger blieb er in
seinem Gehaben und seinen Manieren derselbe beschränkte Bauernjunge, der im
Dorf die Stube des Pfarrers gefegt. Ungeschickt und geradezu schamlos plump
suchte er zum Gaudium und zum Ärger seiner Fachkollegen aus seiner Begabung
und seinem Ruhm mit einer kleinlichen und sogar oft ordinären Habgier
herauszuholen, was an Geld herauszuholen war. Er reiste von Stadt zu Stadt,
immer in den billigsten Hotels wohnend, er spielte in den kläglichsten
Vereinen, sofern man ihm sein Honorar bewilligte, er ließ sich abbilden auf
Seifenreklamen und verkaufte sogar, ohne auf den Spott seiner Konkurrenten
zu achten, die genau wussten, dass er nicht imstande war, drei Sätze richtig
zu schreiben, seinen Namen für eine 'Philosophie des Schachs', die in
Wirklichkeit ein kleiner galizischer Student für den geschäftstüchtigen
Verleger geschrieben. Wie allen zähen Naturen fehlte ihm jeder Sinn für das
Lächerliche; seit seinem Siege im Weltturnier hielt er sich für den
wichtigsten Mann der Welt, und das Bewusstsein, all diese gescheiten,
Intellektuellen, blendenden Sprecher und Schreiber auf ihrem eigenen Feld
geschlagen zu haben, und vor allem die handgreifliche Tatsache, mehr als sie
zu verdienen, verwandelte die ursprüngliche Unsicherheit in einen kalten und
meist plump zur Schau getragenen Stolz.
„Aber wie sollte ein so rascher Ruhm nicht einen so leeren Kopf beduseln?",
schloss mein Freund, der mir gerade einige klassische Proben von Czentovics
kindischer Präpotenz (Überheblichkeit) anvertraut hatte. „Wie sollte ein
einundzwanzigjähriger Bauernbursche aus dem Banat nicht den Eitelkeitskoller
kriegen, wenn er plötzlich mit ein bisschen Figurenherumschieben auf einem
Holzbrett in einer Woche mehr verdient als sein ganzes Dorf daheim mit
Holzfällen und den bittersten Abrackereien in einem ganzen Jahr? Und dann,
ist es nicht eigentlich verflucht leicht, sich für einen großen Menschen zu
halten, wenn man nicht mit der leisesten Ahnung belastet ist, dass ein
Rembrandt, ein Beethoven, ein Dante, ein Napoleon je gelebt haben? Dieser
Bursche weiß in seinem vermauerten Gehirn nur das eine, dass er seit Monaten
nicht eine einzige Schachpartie verloren hat, und da er eben nicht ahnt,
dass es außer Schach und Geld noch andere Werte auf unserer Erde gibt, hat
er allen Grund, von sich begeistert zu sein."
Diese Mitteilungen meines Freundes verfehlten nicht, meine besondere
Neugierde zu erregen. Alle Arten von monomanischen, in eine einzige Idee
verschossenen Menschen haben mich zeitlebens angereizt, denn je mehr sich
einer begrenzt, um so mehr ist er andererseits dem Unendlichen nahe; gerade
solche scheinbar Weltabseitigen bauen in ihrer besonderen Materie sich
termitenhaft eine merkwürdige und durchaus einmalige Abbreviatur der Welt.
So machte ich aus meiner Absicht, dieses sonderbare Spezimen intellektueller
Eingleisigkeit auf der zwölftägigen Fahrt bis Rio näher unter die Lupe zu
nehmen, kein Hehl.
Jedoch: „Da werden Sie wenig Glück haben", warnte mein Freund. „Soviel ich
weiß, ist es noch keinem gelungen, aus Czentovic das Geringste an
psychologischem Material herauszuholen. Hinter all seiner abgründigen
Beschränktheit verbirgt dieser gerissene Bauer die große Klugheit, sich
keine Blößen zu geben, und zwar dank der simplen Technik, dass er außer mit
Landsleuten seiner eigenen Sphäre, die er sich in kleinen Gasthäusern
zusammensucht, jedes Gespräch vermeidet. Wo er einen gebildeten Menschen
spürt, kriecht er in sein Schneckenhaus; so kann niemand sich rühmen, je ein
dummes Wort von ihm gehört oder die angeblich unbegrenzte Tiefe seiner
Unbildung ausgemessen zu haben." Mein Freund sollte in der Tat recht
behalten. Während der ersten Tage der Reise erwies es sich als vollkommen
unmöglich, an Czentovic ohne grobe Zudringlichkeit, die schließlich nicht
meine Sache ist, heranzukommen. Manchmal schritt er zwar über das
Promenadendeck, aber dann immer die Hände auf dem Rücken verschränkt mit
jener stolz in sich versenkten Haltung, wie Napoleon auf dem bekannten
Bilde; außerdem erledigte er immer so eilig und stoßhaft seine
peripatetische Deckrunde, dass man ihm hätte im Trab nachlaufen müssen, um
ihn ansprechen zu können. In den Gesellschaftsräumen wiederum, in der Bar,
im Rauchzimmer zeigte er sich niemals; wie mir der Steward auf vertrauliche
Erkundigung hin mitteilte, verbrachte er den Großteil des Tages in seiner
Kabine, um auf einem mächtigen Brett Schachpartien einzuüben oder zu
rekapitulieren (wiederholen).
Nach drei Tagen begann ich mich tatsächlich zu ärgern, dass seine zähe
Abwehrtechnik geschickter war als mein Wille, an ihn heranzukommen. Ich
hatte in meinem Leben noch nie Gelegenheit gehabt, die persönliche
Bekanntschaft eines Schachmeisters zu machen, und je mehr ich mich jetzt
bemühte, mir einen solchen Typus zu personifizieren, um so unvorstellbarer
schien mir eine Gehirntätigkeit, die ein ganzes Leben lang ausschließlich um
einen Raum von vierundsechzig schwarzen und weißen Feldern rotiert. Ich
wusste wohl aus eigener Erfahrung um die geheimnisvolle Attraktion des
'königlichen Spiels', dieses einzigen unter allen Spielen, die der Mensch
ersonnen, das sich souverän jeder Tyrannis (brutaler Herrscher) des Zufalls
entzieht und seine Siegespalmen einzig dem Geist oder vielmehr einer
bestimmten Form geistiger Begabung zuteilt. Aber macht man sich nicht
bereits einer beleidigenden Einschränkung schuldig, indem man Schach ein
Spiel nennt? Ist es nicht auch eine Wissenschaft, eine Kunst, schwebend
zwischen diesen Kategorien wie der Sarg Mohammeds zwischen Himmel und Erde,
eine einmalige Bindung aller Gegensatzpaare; uralt und doch ewig neu,
mechanisch in der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt in
geometrisch starrem Raum und dabei unbegrenzt in seinen Kombinationen,
ständig sich entwickelnd und doch steril, ein Denken, das zu nichts führt,
eine Mathematik, die nichts errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine
Architektur ohne Substanz und nichtsdestominder erwiesenermaßen dauerhafter
in seinem Sein und Dasein als alle Bücher und Werke, das einzige Spiel, das
allen Völkern und allen Zeiten zugehört und von dem niemand weiß, welcher
Gott es auf die Erde gebracht, um die Langeweile zu töten, die Sinne zu
schärfen, die Seele zu spannen. Wo ist bei ihm Anfang und wo das Ende: jedes
Kind kann seine ersten Regeln erlernen, jeder Stümper sich in ihm versuchen,
und doch vermag es innerhalb dieses unveränderbar engen Quadrats eine
besondere Spezies von Meistern zu erzeugen, unvergleichbar allen anderen,
Menschen mit einer einzig dem Schach zubestimmten Begabung, spezifische
Genies, in denen Vision, Geduld und Technik in einer ebenso genau bestimmten
Verteilung wirksam sind wie im Mathematiker, im Dichter, im Musiker, und nur
in anderer Schichtung und Bindung. In früheren Zeiten physiognomischer
Leidenschaft hätte ein Gall vielleicht die Gehirne solcher Schachmeister
seziert, um festzustellen, ob bei solchen Schachgenies eine besondere
Windung in der grauen Masse des Gehirns, eine Art Schachmuskel oder
Schachhöcker sich intensiver eingezeichnet fände als in anderen Schädeln.
Und wie hätte einen solchen Physiognomiker erst der Fall eines Czentovic
angereizt, wo dies spezifische Genie eingesprengt erscheint in eine absolute
intellektuelle Trägheit wie ein einzelner Faden Gold in einem Zentner tauben
Gesteins. Im Prinzip war mir die Tatsache von jeher verständlich, dass ein
derart einmaliges, ein solches geniales Spiel sich spezifische Matadore
schaffen musste, aber wie schwer, wie unmöglich doch, sich das Leben eines
geistig regsamen Menschen vorzustellen, dem sich die Weit einzig auf die
enge Einbahn zwischen Schwarz und Weiß reduziert, der in einem bloßen Hin
und Her, Vor und Zurück von zweiunddreißig Figuren seine Lebenstriumphe
sucht, einen Menschen, dem bei einer neuen Eröffnung, den Springer
vorzuziehen statt des Bauern, schon Großtat und sein ärmliches Eckchen
Unsterblichkeit im Winkel eines Schachbuches bedeutet – einen Menschen,
einen geistigen Menschen, der, ohne wahnsinnig zu werden, zehn, zwanzig,
dreißig, vierzig Jahre lang die ganze Spannkraft seines Denkens immer und
immer wieder an den lächerlichen Einsatz wendet, einen hölzernen König auf
einem hölzernen Brett in den Winkel zu drängen!
Und nun war ein solches Phänomen, ein solches sonderbares Genie oder ein
solcher rätselhafter Narr mir räumlich zum ersten Mal ganz nahe, sechs
Kabinen weit auf demselben Schiff, und ich Unseliger, für den Neugier in
geistigen Dingen immer zu einer Art Passion ausartet, sollte nicht imstande
sein, mich ihm zu nähern. Ich begann, mir die absurdesten Listen
auszudenken: etwa, ihn in seiner Eitelkeit zu kitzeln, indem ich ihm ein
angebliches Interview für eine wichtige Zeitung vortäuschte, oder bei seiner
Habgier zu packen, dadurch, dass ich ihm ein einträgliches Turnier in
Schottland proponierte (vorschlug). Aber schließlich erinnerte ich mich,
dass die bewährteste Technik der Jäger, den Auerhahn an sich heranzulocken,
darin besteht, dass sie seinen Balzschrei nachahmen; was konnte eigentlich
wirksamer sein, um die Aufmerksamkeit eines Schachmeisters auf sich zu
ziehen, als indem man selber Schach spielte?
Nun bin ich zeitlebens nie ein ernstlicher Schachkünstler gewesen, und zwar
aus dem einfachen Grunde, dass ich mich mit Schach immer bloß leichtfertig
und ausschließlich zu meinem Vergnügen befasste; wenn ich mich für eine
Stunde vor das Brett setze, geschieht dies keineswegs, um mich anzustrengen,
sondern im Gegenteil, um mich von geistiger Anspannung zu entlasten. Ich
'spiele' Schach im wahrsten Sinne des Wortes, während die anderen, die
wirklichen Schachspieler, Schach 'ernsten', um ein verwegenes neues Wort in
die deutsche Sprache einzuführen. Für Schach ist nun, wie für die Liebe, ein
Partner unentbehrlich, und ich wusste zur Stunde noch nicht, ob sich außer
uns andere Schachliebhaber an Bord befanden. Um sie aus ihren Höhlen
herauszulocken, stellte ich im Smoking Room (Raucherraum) eine primitive
Falle auf, indem ich mich mit meiner Frau, obwohl sie noch schwächer spielt
als ich, vogelstellerisch vor ein Schachbrett setzte. Und tatsächlich, wir
hatten noch nicht sechs Züge getan, so blieb schon jemand im Vorübergehen
stehen, ein zweiter erbat die Erlaubnis, zusehen zu dürfen; schließlich fand
sich auch der erwünschte Partner, der mich zu einer Partie herausforderte.
Er hieß McConnor und war ein schottischer Tiefbauingenieur, der, wie ich
hörte, bei Ölbohrungen in Kalifornien sich ein großes Vermögen gemacht
hatte, von äußerem Ansehen ein stämmiger Mensch mit starken, fast
quadratisch harten Kinnbacken, kräftigen Zähnen und einer satten
Gesichtsfarbe, deren prononcierte Rötlichkeit wahrscheinlich, zumindest
teilweise, reichlichem Genuss von Whisky zu verdanken war. Die auffällig
breiten, fast athletisch vehementen Schultern machten sich leider auch im
Spiel charaktermäßig bemerkbar, denn dieser Mister McConnor gehörte zu jener
Sorte selbstbesessener Erfolgsmenschen, die auch im belanglosesten Spiel
eine Niederlage schon als Herabsetzung ihres Persönlichkeitsbewußtseins
empfinden. Gewöhnt, sich im Leben rücksichtslos durchzusetzen, und verwöhnt
vom faktischen Erfolg, war dieser massive Selfmademan derart
unerschütterlich von seiner Überlegenheit durchdrungen, dass jeder
Widerstand ihn als ungebührliche Auflehnung und beinahe Beleidigung erregte.
Als er die erste Partie verlor, wurde er mürrisch und begann umständlich und
diktatorisch zu erklären, dies könne nur durch eine momentane
Unaufmerksamkeit geschehen sein, bei der dritten machte er den Lärm im
Nachbarraum für sein Versagen verantwortlich; nie war er gewillt, eine
Partie zu verlieren, ohne sofort Revanche zu fordern. Anfangs amüsierte mich
diese ehrgeizige Verbissenheit; schließlich nahm ich sie nur mehr als
unvermeidliche Begleiterscheinung für meine eigentliche Absicht hin, den
Weltmeister an unseren Tisch zu locken.
Am dritten Tag gelang es und gelang doch nur halb. Sei es, dass Czentovic
uns vom Promenadendeck aus durch das Bordfenster vor dem Schachbrett
beobachtet oder dass er nur zufälligerweise den Smoking Room mit seiner
Anwesenheit beehrte – jedenfalls trat er, sobald er uns Unberufene seine
Kunst ausüben sah, unwillkürlich einen Schritt näher und warf aus dieser
gemessenen Distanz einen prüfenden Blick auf unser Brett. McConnor war
gerade am Zuge. Und schon dieser eine Zug schien ausreichend, um Czentovic
zu belehren, wie wenig ein weiteres Verfolgen unserer dilettantischen
Bemühungen seines meisterlichen Interesses würdig sei. Mit derselben
selbstverständlichen Geste, mit der unsereiner in einer Buchhandlung einen
angebotenen schlechten Detektivroman weglegt, ohne ihn auch nur
anzublättern, trat er von unserem Tische fort und verließ den Smoking Room.
'Gewogen und zu leicht befunden', dachte ich mir, ein bisschen verärgert
durch diesen kühlen, verächtlichen Blick, und um meinem Unmut irgendwie Luft
zu machen, äußerte ich zu McConnor:
„Ihr Zug scheint den Meister nicht sehr begeistert zu haben."
„Welchen Meister?"
Ich erklärte ihm, jener Herr, der eben an uns vorübergegangen und mit
missbilligendem Blick auf unser Spiel gesehen, sei der Schachmeister
Czentovic gewesen. Nun, fügte ich hinzu, wir beide würden es überstehen und
ohne Herzeleid uns mit seiner illustren Verachtung abfinden; arme Leute
müssten eben mit Wasser kochen. Aber zu meiner Überraschung übte auf
McConnor meine lässige Mitteilung eine völlig unerwartete Wirkung. Er wurde
sofort erregt, vergaß unsere Partie, und sein Ehrgeiz begann geradezu hörbar
zu pochen. Er habe keine Ahnung gehabt, dass Czentovic an Bord sei, und
Czentovic müsse unbedingt gegen ihn spielen. Er habe noch nie im Leben gegen
einen Weltmeister gespielt außer einmal bei einer Simultanpartie mit vierzig
anderen; schon das sei furchtbar spannend gewesen, und er habe damals
beinahe gewonnen. Ob ich den Schachmeister persönlich kenne? Ich verneinte.
Ob ich ihn nicht ansprechen wolle und zu uns bitten? Ich lehnte ab mit der
Begründung, Czentovic sei meines Wissens für neue Bekanntschaften nicht sehr
zugänglich. Außerdem, was für einen Reiz sollte es einem Weltmeister bieten,
mit uns drittklassigen Spielern sich abzugeben?
Nun, das mit den drittklassigen Spielern hätte ich zu einem derart
ehrgeizigen Manne wie McConnor lieber nicht äußern sollen. Er lehnte sich
verärgert zurück und erklärte schroff, er für seinen Tell könne nicht
glauben, dass Czentovic die höfliche Aufforderung eines Gentlemans ablehnen
werde; dafür werde er schon sorgen. Auf seinen Wunsch gab ich ihm eine kurze
Personenbeschreibung des Weltmeisters, und schon stürmte er, unser
Schachbrett gleichgültig im Stich lassend, in unbeherrschter Ungeduld
Czentovic auf das Promenadendeck nach. Wieder spürte ich, dass der Besitzer
dermaßen breiter Schultern nicht zu halten war, sobald er einmal seinen
Willen in eine Sache geworfen.
Ich wartete ziemlich gespannt. Nach zehn Minuten kehrte McConnor zurück,
nicht sehr aufgeräumt, wie mir schien.
„Nun?" fragte ich.
„Sie haben recht gehabt", antwortete er etwas verärgert. „Kein sehr
angenehmer Herr. Ich stellte mich vor, erklärte ihm, wer ich sei. Er reichte
mir nicht einmal die Hand. Ich versuchte, ihm auseinanderzusetzen, wie stolz
und geehrt wir alle an Bord sein würden, wenn er eine Simultanpartie gegen
uns spielen wollte. Aber er hielt seinen Rücken verflucht steif; es täte ihm
leid, aber er habe kontraktliche (vertragliche) Verpflichtungen gegen seinen
Agenten, die ihm ausdrücklich untersagten, während seiner ganzen Tournee
ohne Honorar zu spielen. Sein Minimum sei zweihundertfünfzig Dollar pro
Partie."
Ich lachte. „Auf diesen Gedanken wäre ich eigentlich nie geraten, dass
Figuren von Schwarz auf Weiß zu schieben ein derart einträgliches Geschäft
sein kann. Nun, ich hoffe, Sie haben sich ebenso höflich empfohlen."
Aber McConnor blieb vollkommen ernst. „Die Partie ist für morgen nachmittags
drei Uhr angesetzt. Hier im Rauchsalon. Ich hoffe, wir werden uns nicht so
leicht zu Brei schlagen lassen."
„Wie? Sie haben ihm die zweihundertfünfzig Dollar bewilligt?", rief ich ganz
betroffen aus.
„Warum nicht? C' est son métier. Wäre ich Zahnarzt an Bord, würde ich auch
nicht verlangen, dass er mir den Zahn umsonst ziehen soll. Der Mann hat ganz
recht, dicke Preise zu machen; in jedem Fach sind die wirklichen Könner auch
die besten Geschäftsleute. Und was mich betrifft: je klarer ein Geschäft, um
so besser. Ich zahle lieber in Cash, als mir von einem Herrn Czentovic
Gnaden erweisen zu lassen und mich am Ende noch bei ihm bedanken zu müssen.
Schließlich habe ich in unserem Klub schon mehr an einem Abend verloren als
zweihundertfünfzig Dollar und dabei mit keinem Weltmeister gespielt. Für
'drittklassige' Spieler ist es keine Schande, von einem Czentovic umgelegt
zu werden."
Es amüsierte mich, zu bemerken, wie tief ich McConnors Selbstgefühl mit dem
einen unschuldigen Wort 'drittklassiger Spieler' gekränkt hatte. Aber da er
den teuren Spaß zu bezahlen gesonnen war, hatte ich nichts einzuwenden gegen
seinen deplacierten Ehrgeiz, der mir endlich die Bekanntschaft meines
Kuriosums vermitteln sollte. Wir verständigten eiligst die vier oder fünf
Herren, die sich bisher als Schachspieler deklariert hatten, von dem
bevorstehenden Ereignis und ließen, um von durchgehenden Passanten möglichst
wenig gestört zu werden, nicht nur unseren Tisch, sondern auch die
Nachbartische für das bevorstehende Match im voraus reservieren.
Am nächsten Tage war unsere kleine Gruppe zur vereinbarten Stunde vollzählig
erschienen. Der Mittelplatz gegenüber dem Meister blieb selbstverständlich
McConnor zugeteilt, der seine Nervosität entlud, indem er eine schwere
Zigarre nach der andern anzündete und immer wieder unruhig auf die Uhr
blickte. Aber der Weltmeister ließ – ich hatte nach den Erzählungen meines
Freundes derlei schon geahnt – gute zehn Minuten auf sich warten, wodurch
allerdings sein Erscheinen dann erhöhten Aplomb erhielt. Er trat ruhig und
gelassen auf den Tisch zu. Ohne sich vorzustellen – 'Ihr wisst, wer ich bin,
und wer ihr seid, interessiert mich nicht', schien diese Unhöflichkeit zu
besagen –, begann er mit fachmännischer Trockenheit die sachlichen
Anordnungen. Da eine Simultanpartie hier an Bord mangels an verfügbaren
Schachbrettern unmöglich sei, schlage er vor, dass wir alle gemeinsam gegen
ihn spielen sollten. Nach jedem Zug werde er, um unsere Beratungen nicht zu
stören, sich zu einem anderen Tisch am Ende des Raumes verfügen. Sobald wir
unseren Gegenzug getan, sollten wir, da bedauerlicherweise keine Tischglocke
zur Hand sei, mit dem Löffel gegen ein Glas klopfen. Als maximale Zugzeit
schlage er zehn Minuten vor, falls wir keine andere Einteilung wünschten.
Wir pflichteten selbstverständlich wie schüchterne Schüler jedem Vorschlage
bei. Die Farbenwahl teilte Czentovic Schwarz zu; noch im Stehen tat er den
ersten Gegenzug und wandte sich dann gleich dem von ihm vorgeschlagenen
Warteplatz zu, wo er lässig hingelehnt eine illustrierte Zeitschrift
durchblätterte.
Es hat wenig Sinn, über die Partie zu berichten. Sie endete
selbstverständlich, wie sie enden musste, mit unserer totalen Niederlage,
und zwar bereits beim vierundzwanzigsten Zuge. Dass nun ein
Weltschachmeister ein halbes Dutzend mittlerer oder untermittlerer Spieler
mit der linken Hand niederfegt, war an sich wenig erstaunlich; verdrießlich
wirkte eigentlich auf uns alle nur die präpotente (überhebliche) Art, mit
der Czentovic es uns allzu deutlich fühlen ließ, dass er uns mit der linken
Hand erledigte. Er warf jedes Mal nur einen scheinbar flüchtigen Blick auf
das Brett, sah an uns so lässig vorbei, als ob wir selbst tote Holzfiguren
wären, und diese impertinente Geste erinnerte unwillkürlich an die, mit der
man einem räudigen Hund abgewendeten Blicks einen Brocken zuwirft. Bei
einiger Feinfühligkeit hätte er meiner Meinung nach uns auf Fehler
aufmerksam machen können oder durch ein freundliches Wort aufmuntern. Aber
auch nach Beendigung der Partie äußerte dieser unmenschliche Schachautomat
keine Silbe, sondern wartete, nachdem er „Matt" gesagt, regungslos vor dem
Tische, ob man noch eine zweite Partie von ihm wünsche. Schon war ich
aufgestanden, um hilflos, wie man immer gegen dickfellige Grobheit bleibt,
durch eine Geste anzudeuten, dass mit diesem erledigten Dollargeschäft
wenigstens meinerseits das Vergnügen unserer Bekanntschaft beendet sei, als
zu meinem Ärger neben mir McConnor mit ganz heiserer Stimme sagte:
„Revanche!"
Ich erschrak geradezu über den herausfordernden Ton; tatsächlich bot
McConnor in diesem Augenblick eher den Eindruck eines Boxers vor dem
Losschlagen als den eines höflichen Gentlemans. War es die unangenehme Art
der Behandlung, die uns Czentovic hatte zuteil werden lassen, oder nur sein
pathologisch reizbarer Ehrgeiz – jedenfalls war McConnors Wesen vollkommen
verändert. Rot im Gesicht bis hoch hinauf an das Stirnhaar, die Nüstern von
innerem Druck stark aufgespannt, transpirierte er sichtlich, und von den
verbissenen Lippen schnitt sich scharf eine Falte gegen sein kämpferisch
vorgerecktes Kinn. Ich erkannte beunruhigt in seinem Auge jenes Flackern
unbeherrschter Leidenschaft, wie sie sonst Menschen nur am Roulettetisch
ergreift, wenn zum sechsten- oder siebenten Mal bei immer verdoppeltem
Einsatz nicht die richtige Farbe kommt. In diesem Augenblick wusste ich,
dieser fanatisch Ehrgeizige würde, und sollte es ihn sein ganzes Vermögen
kosten, gegen Czentovic so lange spielen und spielen und spielen, einfach
oder doubliert, bis er wenigstens ein einziges Mal eine Partie gewonnen.
Wenn Czentovic durchhielt, so hatte er an McConnor eine Goldgrube gefunden,
aus der er bis Buenos Aires ein paar tausend Dollar schaufeln konnte.
Czentovic blieb unbewegt. „Bitte", antwortete er höflich. „Die Herren
spielen jetzt Schwarz."
Auch die zweite Partie bot kein verändertes Bild, außer dass durch einige
Neugierige unser Kreis nicht nur größer, sondern auch lebhafter geworden
war. McConnor blickte so starr auf das Brett, als wollte er die Figuren mit
seinem Willen, zu gewinnen, magnetisieren; ich spürte ihm an, dass er auch
tausend Dollar begeistert geopfert hätte für den Lustschrei 'Matt!' gegen
den kaltschnäuzigen Gegner. Merkwürdigerweise ging etwas von seiner
verbissenen Erregung unbewusst in uns über. Jeder einzelne Zug wurde
ungleich leidenschaftlicher diskutiert als vordem, immer hielten wir noch im
letzten Moment einer den andern zurück, ehe wir uns einigten, das Zeichen zu
geben, das Czentovic an unseren Tisch zurückrief. Allmählich waren wir beim
siebenunddreißigsten Zuge angelangt, und zu unserer eigenen Überraschung war
eine Konstellation eingetreten, die verblüffend vorteilhaft schien, weil es
uns gelungen war, den Bauern der c – Linie bis auf das vorletzte Feld c2 zu
bringen; wir brauchten ihn nur vorzuschieben auf c1, um eine neue Dame zu
gewinnen. Ganz behaglich war uns freilich nicht bei dieser allzu
offenkundigen Chance; wir argwöhnten einmütig, dieser scheinbar von uns
errungene Vorteil müsse von Czentovic, der doch die Situation viel
weitblickender übersah, mit Absicht uns als Angelhaken zugeschoben sein.
Aber trotz angestrengtem gemeinsamem Suchen und Diskutieren vermochten wir
die versteckte Finte (Trick) nicht wahrzunehmen. Schließlich, schon knapp am
Rande der verstatteten (erlaubten) Überlegungsfrist, entschlossen wir uns,
den Zug zu wagen. Schon rührte McConnor den Bauern an, um ihn auf das letzte
Feld zu schieben, als er sich jäh am Arm gepackt fühlte und jemand leise und
heftig flüsterte: „Um Gottes willen! Nicht!"
Unwillkürlich wandten wir uns alle um. Ein Herr von etwa fünfundvierzig
Jahren, dessen schmales, scharfes Gesicht mir schon vordem auf der
Deckpromenade durch seine merkwürdige, fast kreidige Blässe aufgefallen war,
musste in den letzten Minuten, indes wir unsere ganze Aufmerksamkeit dem
Problem zuwandten, zu uns getreten sein. Hastig fügte er, unsern Blick
spürend, hinzu:
„Wenn Sie jetzt eine Dame machen, schlägt er sie sofort mit dem Läufer c 1,
Sie nehmen mit dem Springer zurück. Aber inzwischen geht er mit seinem
Freibauern auf d7, bedroht Ihren Turm, und auch wenn Sie mit dem Springer
Schach sagen, verlieren Sie und sind nach neun bis zehn Zügen erledigt. Es
ist beinahe dieselbe Konstellation(angestoßen) hat."
McConnor ließ erstaunt die Hand von der Figur und starrte nicht minder
verwundert als wir alle auf den Mann, der wie ein unvermuteter Engel helfend
vom Himmel kam. Jemand, der auf neun Züge im voraus ein Matt berechnen
konnte, musste ein Fachmann ersten Ranges sein, vielleicht sogar ein
Konkurrent um die Meisterschaft, der zum gleichen Turnier reiste, und sein
plötzliches Kommen und Eingreifen gerade in einem so kritischen Moment hatte
etwas fast Übernatürliches. Als erster fasste sich McConnor.
„Was würden Sie raten?", flüsterte er aufgeregt.
„Nicht gleich vorziehen, sondern zunächst ausweichen! Vor allem mit dem
König abrücken aus der gefährdeten Linie von g8 auf h7. Er wird
wahrscheinlich den Angriff dann auf die andere Flanke hinüberwerfen. Aber
das parieren Sie mit Turm c8 – c4; das kostet ihn zwei Tempi, einen Bauern
und damit die Überlegenheit. Dann steht Freibauer gegen Freibauer, und wenn
Sie sich richtig defensiv halten, kommen Sie noch auf Remis. Mehr ist nicht
herauszuholen."
Wir staunten abermals. Die Präzision nicht minder als die Raschheit seiner
Berechnung hatte etwas Verwirrendes; es war, als ob er die Züge aus einem
gedruckten Buch ablesen würde. Immerhin wirkte die unvermutete Chance, dank
seines Eingreifens unsere Partie gegen einen Weltmeister auf Remis zu
bringen, zauberisch. Einmütig rückten wir zur Seite, um ihm freieren Blick
auf das Brett zu gewähren. Noch einmal fragte McConnor:
„Also König g8 auf h7?"
„Jawohl! Ausweichen vor allem!"
McConnor gehorchte, und wir klopften an das Glas. Czentovic trat mit seinem
gewohnt gleichmütigen Schritt an unseren Tisch und maß mit einem einzigen
Blick den Gegenzug. Dann zog er auf dem Königsflügel den Bauern h2 – h4,
genau wie es unser unbekannter Helfer vorausgesagt. Und schon flüsterte
dieser aufgeregt:
„Turm vor, Turm vor, c8 auf c4, er muss dann zuerst den Bauern decken. Aber
das wird ihm nichts helfen! Sie schlagen, ohne sich um seinen Freibauern zu
kümmern, mit dem Springer d3 – e5, und das Gleichgewicht ist
wiederhergestellt. Den ganzen Druck vorwärts, statt zu verteidigen!"
Wir verstanden nicht, was er meinte. Für uns war, was er sagte, Chinesisch.
Aber schon einmal in seinem Bann, zog McConnor, ohne zu überlegen, wie jener
geboten. Wir schlugen abermals an das Glas, um Czentovic zurückzurufen. Zum
ersten Male entschied er sich nicht rasch, sondern blickte gespannt auf das
Brett. Unwillkürlich schoben sich seine Brauen zusammen. Dann tat er genau
den Zug, den der Fremde uns angekündigt, und wandte sich zum Gehen. Jedoch
ehe er zurücktrat, geschah etwas Neues und Unerwartetes. Czentovic hob den
Blick und musterte unsere Reihen – offenbar wollte er herausfinden, wer ihm
mit einem Male so energischen Widerstand leistete.
Von diesem Augenblick an wuchs unsere Erregung ins Ungemessene. Bisher
hatten wir ohne ernstliche Hoffnung gespielt, nun aber trieb der Gedanke,
den kalten Hochmut Czentovics zu brechen, uns eine fliegende Hitze durch
alle Pulse. Schon aber hatte unser neuer Freund den nächsten Zug angeordnet,
und wir konnten – die Finger zitterten mir, als ich den Löffel an das Glas
schlug – Czentovic zurückrufen. Und nun kam unser erster Triumph. Czentovic,
der bisher immer nur im Stehen gespielt, zögerte, zögerte und setzte sich
schließlich nieder. Er setzte sich langsam und schwerfällig; damit aber war
schon rein körperlich das bisherige Von-oben-herab zwischen ihm und uns
aufgehoben. Wir hatten ihn genötigt, sich wenigstens räumlich auf eine Ebene
mit uns zu begeben. Er überlegte lange, die Augen unbeweglich auf das Brett
gesenkt, so dass man kaum mehr die Pupillen unter den schwarzen Lidern
wahrnehmen konnte, und im angestrengten Nachdenken öffnete sich ihm
allmählich der Mund, was seinem runden Gesicht ein etwas einfältiges
Aussehen gab. Czentovic überlegte einige Minuten, dann tat er seinen Zug und
stand auf. Und schon flüsterte unser Freund:
„Ein Hinhaltezug! Gut gedacht! Aber nicht darauf eingehen! Abtausch
forcieren, unbedingt Abtausch, dann können wir auf Remis, und kein Gott kann
ihm helfen."
McConnor gehorchte. Es begann in den nächsten Zügen zwischen den beiden –
wir andern waren längst zu leeren Statisten herabgesunken – ein uns
unverständliches Hin und Her. Nach etwa sieben Zügen sah Czentovic nach
längerem Nachdenken auf und erklärte: „Remis."
Einen Augenblick herrschte totale Stille. Man hörte plötzlich die Wellen
rauschen und das Radio aus dem Salon herüberjazzen, man vernahm jeden
Schritt vom Promenadendeck und das leise, feine Sausen des Winds, der durch
die Fugen der Fenster fuhr. Keiner von uns atmete, es war zu plötzlich
gekommen und wir alle noch geradezu erschrocken über das Unwahrscheinliche,
dass dieser Unbekannte dem Weltmeister in einer schon halb verlorenen Partie
seinen Willen aufgezwungen haben sollte. McConnor lehnte sich mit einem Ruck
zurück, der zurückgehaltene Atem fuhr ihm hörbar in einem beglückten „Ah!"
von den Lippen. Ich wiederum beobachtete Czentovic. Schon bei den letzten
Zügen hatte mir geschienen, als ob er blässer geworden sei. Aber er verstand
sich gut zusammenzuhalten. Er verharrte in seiner scheinbar gleichmütigen
Starre und fragte nur in lässigster Weise, während er die Figuren mit
ruhiger Hand vom Brette schob:
„Wünschen die Herren noch eine dritte Partie?"
Er stellte die Frage rein sachlich, rein geschäftlich. Aber das Merkwürdige
war: er hatte dabei nicht McConnor angeblickt, sondern scharf und gerade das
Auge gegen unseren Retter gehoben. Wie ein Pferd am festeren Sitz einen
neuen, einen besseren Reiter, musste er an den letzten Zügen seinen
wirklichen, seinen eigentlichen Gegner erkannt haben. Unwillkürlich folgten
wir seinem Blick und sahen gespannt auf den Fremden. jedoch ehe dieser sich
besinnen oder gar antworten konnte, hatte in seiner ehrgeizigen Erregung
McConnor schon triumphierend ihm zugerufen:
„Selbstverständlich! Aber jetzt müssen Sie allein gegen ihn spielen! Sie
allein gegen Czentovic!"
Doch nun ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Der Fremde, der
merkwürdigerweise noch immer angestrengt auf das schon abgeräumte
Schachbrett starrte, schrak auf, da er alle Blicke auf sich gerichtet und
sich so begeistert angesprochen fühlte. Seine Züge verwirrten sich.
„Auf keinen Fall, meine Herren", stammelte er sichtlich betroffen. „Das ist
völlig ausgeschlossen... ich komme gar nicht in Betracht... ich habe seit
zwanzig, nein, fünfundzwanzig Jahren vor keinem Schachbrett gesessen... und
ich sehe erst jetzt, wie ungehörig ich mich betragen habe, indem ich mich
ohne Ihre Verstattung (Erlaubnis) in Ihr Spiel einmengte... Bitte,
entschuldigen Sie meine Vordringlichkeit... ich will gewiss nicht weiter
stören." Und noch ehe wir uns von unserer Überraschung zurechtgefunden,
hatte er sich bereits zurückgezogen und das Zimmer verlassen.
„Aber das ist doch ganz unmöglich!" dröhnte der temperamentvolle McConnor,
mit der Faust aufschlagend. „Völlig ausgeschlossen, dass dieser Mann
fünfundzwanzig Jahre nicht Schach gespielt haben soll! Er hat doch jeden
Zug, jede Gegenpointe auf fünf, auf sechs Züge vorausberechnet. So etwas
kann niemand aus dem Handgelenk. Das ist doch völlig ausgeschlossen – nicht
wahr?"
Mit der letzten Frage hatte sich McConnor unwillkürlich an Czentovic
gewandt. Aber der Weltmeister blieb unerschütterlich kühl.
„Ich vermag darüber kein Urteil abzugeben. jedenfalls hat der Herr etwas
befremdlich und interessant gespielt; deshalb habe ich ihm auch absichtlich
eine Chance gelassen." Gleichzeitig lässig aufstehend, fügte er in seiner
sachlichen Art bei:
„Sollte der Herr oder die Herren morgen eine abermalige Partie wünschen, so
stehe ich von drei Uhr ab zur Verfügung."
Wir konnten ein leises Lächeln nicht unterdrücken. jeder von uns wusste,
dass Czentovic unserem unbekannten Helfer keineswegs großmütig eine Chance
gelassen und diese Bemerkung nichts anderes als eine naive Ausflucht war, um
sein eigenes Versagen zu maskieren. Um so heftiger wuchs unser Verlangen,
einen derart unerschütterlichen Hochmut gedemütigt zu sehen. Mit einemmal
war über uns friedliche, lässige Bordbewohner eine wilde, ehrgeizige
Kampflust gekommen, denn der Gedanke, dass gerade auf unserem Schiff mitten
auf dem Ozean dem Schachmeister die Palme entrungen werden könnte – ein
Rekord, der dann von allen Telegraphenbüros über die ganze Welt hingeblitzt
würde – faszinierte uns in herausforderndster Weise. Dazu kam noch der Reiz
des Mysteriösen, der von dem unerwarteten Eingreifen unseres Retters gerade
im kritischen Momente ausging, und der Kontrast seiner fast ängstlichen
Bescheidenheit mit dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein des
Professionellen. Wer war dieser Unbekannte? Hatte hier der Zufall ein noch
unentdecktes Schachgenie zutage gefördert? Oder verbarg uns aus einem
unerforschlichen Grunde ein berühmter Meister seinen Namen? Alle diese
Möglichkeiten erörterten wir in aufgeregtester Weise, selbst die
verwegensten Hypothesen waren uns nicht verwegen genug, um die rätselhafte
Scheu und das überraschende Bekenntnis des Fremden mit seiner doch
unverkennbaren Spielkunst in Einklang zu bringen. In einer Hinsicht jedoch
blieben wir alle einig: keinesfalls auf das Schauspiel eines neuerlichen
Kampfes zu verzichten. Wir beschlossen, alles zu versuchen, damit unser
Helfer am nächsten Tage eine Partie gegen Czentovic spiele, für deren
materielles Risiko McConnor aufzukommen sich verpflichtete. Da sich
inzwischen durch Umfrage beim Steward herausgestellt hatte, dass der
Unbekannte ein Österreicher sei, wurde mir als seinem Landsmann der Auftrag
zugeteilt, ihm unsere Bitte zu unterbreiten.
Ich benötigte nicht lange, um auf dem Promenadendeck den so eilig
Entflüchteten aufzufinden. Er lag auf seinem Deckchair und las. Ehe ich auf
ihn zutrat, nahm ich die Gelegenheit wahr, ihn zu betrachten. Der
scharfgeschnittene Kopf ruhte in der Haltung leichter Ermüdung auf dem
Kissen –, abermals fiel mir die merkwürdige Blässe des verhältnismäßig
jungen Gesichtes besonders auf, dem die Haare blendend weiß die Schläfen
rahmten; ich hatte, ich weiß nicht warum, den Eindruck, dieser Mann müsse
plötzlich gealtert sein. Kaum ich auf ihn zutrat, erhob er sich höflich und
stellte sich mit einem Namen vor, der mir sofort vertraut war als der einer
hochangesehenen altösterreichischen Familie. Ich erinnerte mich, dass ein
Träger dieses Namens zu dem engsten Freundeskreise Schuberts gehört hatte
und auch einer der Leibärzte des alten Kaisers dieser Familie entstammte.
Als ich Dr. B. unsere Bitte übermittelte, die Herausforderung Czentovics
anzunehmen, war er sichtlich verblüfft. Es erwies sich, dass er keine Ahnung
gehabt hatte, bei jener Partie einen Weltmeister, und gar den zur Zeit
erfolgreichsten, ruhmreich bestanden zu haben. Aus irgendeinem Grunde schien
diese Mitteilung auf ihn besonderen Eindruck zu machen, denn er erkundigte
sich immer und immer wieder von neuem, ob ich dessen gewiss sei, dass sein
Gegner tatsächlich ein anerkannter Weltmeister gewesen. Ich merkte bald,
dass dieser Umstand meinen Auftrag erleichterte, und hielt es nur, seine
Feinfühligkeit spürend, für ratsam, ihm zu verschweigen, dass das materielle
Risiko einer allfälligen Niederlage zu Lasten von McConnors Kasse ginge.
Nach längerem Zögern erklärte sich Dr. B. schließlich zu einem Match bereit,
doch nicht ohne ausdrücklich gebeten zu haben, die anderen Herren nochmals
zu warnen, sie möchten keineswegs auf sein Können übertriebene Hoffnungen
setzen.
„Denn", fügte er mit einem versonnenen Lächeln hinzu, „ich weiß wahrhaftig
nicht, ob ich fähig bin, eine Schachpartie nach allen Regeln richtig zu
spielen. Bitte glauben Sie mir, dass es keineswegs falsche Bescheidenheit
war, wenn ich sagte, dass ich seit meiner Gymnasialzeit, also seit mehr als
zwanzig Jahren, keine Schachfigur mehr berührt habe. Und selbst zu jener
Zeit galt ich bloß als Spieler ohne sonderliche Begabung."
Er sagte dies in einer so natürlichen Weise, dass ich nicht den leisesten
Zweifel an seiner Aufrichtigkeit hegen durfte. Dennoch konnte ich nicht
umhin meiner Verwunderung Ausdruck zu geben, wie genau er an jede einzelne
Kombination der verschiedensten Meister sich erinnern könne; immerhin müsse
er sich doch wenigstens theoretisch mit Schach viel beschäftigt haben. Dr.
B. lächelte abermals in jener merkwürdig traumhaften Art.
„Viel beschäftigt! – Weiß Gott, das kann man wohl sagen, dass ich mich mit
Schach viel beschäftigt habe. Aber das geschah unter ganz besonderen, ja
völlig einmaligen Umständen. Es war dies eine ziemlich komplizierte
Geschichte, und sie könnte allenfalls als kleiner Beitrag gelten zu unserer
lieblichen großen Zeit. Wenn Sie eine halbe Stunde Geduld haben..."
Er hatte auf den Deckchair neben sich gedeutet. Gerne folgte ich seiner
Einladung. Wir waren ohne Nachbarn. Dr. B. nahm die Lesebrille von den
Augen, legte sie zur Seite und begann:
„Sie waren so freundlich, zu äußern, dass Sie sich als Wiener des Namens
meiner Familie erinnerten. Aber ich vermute, Sie werden kaum von der
Rechtsanwaltskanzlei gehört haben, die ich gemeinsam mit meinem Vater und
späterhin allein leitete, denn wir führten keine Causen, die publizistisch
in der Zeitung abgehandelt wurden, und vermieden aus Prinzip neue Klienten.
In Wirklichkeit hatten wir eigentlich gar keine richtige Anwaltspraxis mehr,
sondern beschränkten uns ausschließlich auf die Rechtsberatung und vor allem
Vermögensverwaltung der großen Klöster, denen mein Vater als früherer
Abgeordneter der klerikalen Partei nahestand. Außerdem war uns – heute, da
die Monarchie der Geschichte angehört, darf man wohl schon darüber sprechen
– die Verwaltung der Fonds einiger Mitglieder der kaiserlichen Familie
anvertraut. Diese Verbindungen zum Hof und zum Klerus – mein Onkel war
Leibarzt des Kaisers, ein anderer Abt in Seitenstetten – reichten schon zwei
Generationen zurück; wir hatten sie nur zu erhalten, und es war eine stille,
eine, möchte ich sagen, lautlose Tätigkeit, die uns durch dies ererbte
Vertrauen zugeteilt war, eigentlich nicht viel mehr erfordernd als strengste
Diskretion und Verlässlichkeit, zwei Eigenschaften, die mein verstorbener
Vater im höchsten Maße besaß; ihm ist es tatsächlich gelungen, sowohl in den
Inflationsjahren als in jenen des Umsturzes durch seine Umsicht seinen
Klienten beträchtliche Vermögenswerte zu erhalten. Als dann Hitler in
Deutschland ans Ruder kam und gegen den Besitz der Kirche und der Klöster
seine Raubzüge begann, gingen auch von jenseits der Grenze mancherlei
Verhandlungen und Transaktionen, um wenigstens den mobilen Besitz vor
Beschlagnahme zu retten, durch unsere Hände, und von gewissen geheimen
politischen Verhandlungen der Kurie und des Kaiserhauses wussten wir beide
mehr, als die Öffentlichkeit je erfahren wird. Aber gerade die
Unauffälligkeit unserer Kanzlei – wir führten nicht einmal ein Schild an der
Tür – sowie die Vorsicht, dass wir beide alle Monarchistenkreise ostentativ
mieden, bot sichersten Schutz vor unberufenen Nachforschungen. De facto
(tatsächlich) hat in all diesen Jahren keine Behörde in Österreich jemals
vermutet, dass die geheimen Kuriere des Kaiserhauses ihre wichtigste Post
immer gerade in unserer unscheinbaren Kanzlei im vierten Stock abholten oder
abgaben.
Nun hatten die Nationalsozialisten, längst ehe sie ihre Armeen gegen die
Welt aufrüsteten, eine andere ebenso gefährliche und geschulte Armee in
allen Nachbarländern zu organisieren begonnen, die Legion der
Benachteiligten, der Zurückgesetzten, der Gekränkten. In jedem Amt, in jedem
Betrieb waren ihre so genannten 'Zellen' eingenistet, an jeder Stelle bis
hinauf in die Privatzimmer von Dollfuß und Schuschnigg saßen ihre
Horchposten und Spione. Selbst in unserer unscheinbaren Kanzlei hatten sie,
wie ich leider erst zu spät erfuhr, ihren Mann. Es war freilich nicht mehr
als ein jämmerlicher und talentloser Kanzlist, den ich auf Empfehlung eines
Pfarrers einzig deshalb angestellt hatte, um der Kanzlei nach außen hin den
Anschein eines regulären Betriebes zu geben; in Wirklichkeit verwendeten wir
ihn zu nichts anderem als zu unschuldigen Botengängen, ließen ihn das
Telefon bedienen und die Akten ordnen, das heißt jene Akten, die völlig
gleichgültig und unbedenklich waren. Die Post durfte er niemals öffnen, alle
wichtigen Briefe schrieb ich, ohne Kopien zu hinterlegen, eigenhändig mit
der Maschine, jedes wesentliche Dokument nahm ich selbst nach Hause und
verlegte geheime Besprechungen ausschließlich in die Priorei des Klosters
oder in das Ordinationszimmer meines Onkels. Dank dieser Vorsichtsmaßnahmen
bekam dieser Horchposten von den wesentlichen Vorgängen nichts zu sehen;
aber durch einen unglücklichen Zufall musste der ehrgeizige und eitle
Bursche bemerkt haben, dass man ihm misstraute und hinter seinem Rücken
allerlei Interessantes geschah. Vielleicht hat einmal in meiner Abwesenheit
einer der Kuriere unvorsichtigerweise von 'Seiner Majestät' gesprochen,
statt, wie vereinbart, vom 'Baron Fern', oder der Lump musste Briefe
widerrechtlich geöffnet haben – jedenfalls holte er sich, ehe ich Verdacht
schöpfen konnte, von München oder Berlin Auftrag, uns zu überwachen. Erst
viel später, als ich längst in Haft saß, erinnerte ich mich, dass seine
anfängliche Lässigkeit im Dienst sich in den letzten Monaten in plötzlichen
Eifer verwandelt und er sich mehrfach beinahe zudringlich angeboten hatte,
meine Korrespondenz zur Post zu bringen. Ich kann mich von einer gewissen
Unvorsichtigkeit also nicht freisprechen, aber sind schließlich nicht auch
die größten Diplomaten und Militärs von der Hitlerei heimtückisch überspielt
worden? Wie genau und liebevoll die Gestapo mir längst ihre Aufmerksamkeit
zugewandt hatte, erwies dann äußerst handgreiflich der Umstand, dass noch am
selben Abend, da Schuschnigg seine Abdankung bekannt gab, und einen Tag, ehe
Hitler in Wien einzog, ich bereits von SS-Leuten festgenommen war. Die
allerwichtigsten Papiere war es mir glücklicherweise noch gelungen zu
verbrennen, kaum ich im Radio die Abschiedsrede Schuschniggs gehört, und den
Rest der Dokumente mit den unentbehrlichen Belegen für die im Ausland
deponierten Vermögenswerte der Klöster und zweier Erzherzöge schickte ich
wirklich in der letzten Minute, ehe die Burschen mir die Tür einhämmerten in
einem Waschkorb versteckt durch meine alte, verlässliche Haushälterin zu
meinem Onkel hinüber."
Dr. B. unterbrach, um sich eine Zigarre anzuzünden. Bei dem aufflackernden
Licht bemerkte ich, dass ein nervöses Zucken um seinen rechten Mundwinkel
lief, das mir schon vorher aufgefallen war und, wie ich beobachten konnte,
sich jede paar Minuten wiederholte. Es war nur eine flüchtige Bewegung, kaum
stärker als ein Hauch, aber sie gab dem ganzen Gesicht eine merkwürdige
Unruhe.
„Sie vermuten nun wahrscheinlich, dass ich Ihnen jetzt vom
Konzentrationslager erzählen werde, in das doch alle jene übergeführt
wurden, die unserem alten Österreich die Treue gehalten, von den
Erniedrigungen, Martern, Torturen, die ich dort erlitten. Aber nichts
dergleichen geschah. Ich kam in eine andere Kategorie. Ich wurde nicht zu
jenen Unglücklichen getrieben, an denen man mit körperlichen und seelischen
Erniedrigungen ein lang aufgespartes Ressentiment austobte, sondern jener
anderen, ganz kleinen Gruppe zugeteilt, aus der die Nationalsozialisten
entweder Geld oder wichtige Informationen herauszupressen hofften. An sich
war meine bescheidene Person natürlich der Gestapo völlig uninteressant. Sie
mussten aber erfahren haben, dass wir die Strohmänner, die Verwalter und
Vertrauten ihrer erbittertsten Gegner gewesen, und was sie von mir zu
erpressen hofften, war belastendes Material: Material gegen die Klöster,
denen sie Vermögensverschiebungen nachweisen wollten, Material gegen die
kaiserliche Familie und all jene die in Österreich sich aufopfernd für die
Monarchie eingesetzt. Sie vermuteten – und wahrhaftig nicht zu Unrecht –
dass von jenen Fonds, die durch unsere Hände gegangen waren, wesentliche
Bestände sich noch, ihrer Raublust unzugänglich, versteckten; sie holten
mich darum gleich am ersten Tag heran, um mit ihren bewährten Methoden mir
diese Geheimnisse abzuzwingen. Leute meiner Kategorie, aus denen wichtiges
Material oder Geld herausgepresst werden sollte, wurden deshalb nicht in
Konzentrationslager abgeschoben, sondern für eine besondere Behandlung
aufgespart. Sie erinnern sich vielleicht, dass unser Kanzler und anderseits
der Baron Rothschild, dessen Verwandten sie Millionen abzunötigen hofften,
keineswegs hinter Stacheldraht in ein Gefangenenlager gesetzt wurden,
sondern unter scheinbarer Bevorzugung in ein Hotel, das Hotel Metropole, das
zugleich Hauptquartier der Gestapo war, überführt, wo jeder ein
abgesondertes Zimmer erhielt. Auch mir unscheinbarem Mann wurde diese
Auszeichnung erwiesen.
Ein eigenes Zimmer in einem Hotel – nicht wahr, das klingt an sich äußerst
human? Aber Sie dürfen mir glauben, dass man uns keineswegs eine humanere,
sondern nur eine raffiniertere Methode zudachte, wenn man uns 'Prominente'
nicht zu zwanzig in eine eiskalte Baracke stopfte, sondern in einem leidlich
geheizten und separaten Hotelzimmer behauste. Denn die Pression, mit der man
uns das benötigte 'Material' abzwingen wollte, sollte auf subtilere Weise
funktionieren als durch rohe Prügel oder körperliche Folterung: durch die
denkbar raffinierteste Isolierung. Man tat uns nichts, man stellte uns nur
in das vollkommene Nichts, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden
einen solchen Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts. Indem man uns
jeden einzeln in ein völliges Vakuum sperrte, in ein Zimmer, das hermetisch
von der Außenwelt abgeschlossen war, sollte, statt von außen durch Prügel
und Kälte, jener Druck von innen erzeugt werden, der uns schließlich die
Lippen aufsprengte. Auf den ersten Blick sah das mir zugewiesene Zimmer
durchaus nicht unbehaglich aus. Es hatte eine Tür, ein Bett, einen Sessel,
eine Waschschüssel, ein vergittertes Fenster. Aber die Tür blieb Tag und
Nacht verschlossen, auf dem Tisch durfte kein Buch, keine Zeitung, kein
Blatt Papier, kein Bleistift liegen, das Fenster starrte eine Feuermauer an;
rings um mein Ich und selbst an meinem eigenen Körper war das vollkommene
Nichts konstruiert. Man hatte mir jeden Gegenstand abgenommen, die Uhr,
damit ich nicht wisse um die Zeit, den Bleistift, dass ich nicht etwa
schreiben könne, das Messer, damit ich mir nicht die Adern öffnen könne;
selbst die kleinste Betäubung wie eine Zigarette wurde mir versagt. Nie sah
ich außer dem Wärter, der kein Wort sprechen und auf keine Frage antworten
durfte, ein menschliches Gesicht, nie hörte ich eine menschliche Stimme;
Auge, Ohr, alle Sinne bekamen von morgens bis nachts und von nachts bis
morgens nicht die geringste Nahrung, man blieb mit sich, mit seinem Körper
und den vier oder fünf stummen Gegenständen Tisch, Bett, Fenster,
Waschschüssel rettungslos allein; man lebte wie ein Taucher unter der
Glasglocke im schwarzen Ozean dieses Schweigens und wie ein Taucher sogar,
der schon ahnt, dass das Seil nach der Außenwelt abgerissen ist und er nie
zurückgeholt werden wird aus der lautlosen Tiefe. Es gab nichts zu tun,
nichts zu hören, nichts zu sehen, überall und ununterbrochen war um einen
das Nichts, die völlige raumlose und zeitlose Leere. Man ging auf und ab,
und mit einem gingen die Gedanken auf und ab, auf und ab, immer wieder. Aber
selbst Gedanken, so substanzlos sie scheinen, brauchen einen Stützpunkt,
sonst beginnen sie zu rotieren und sinnlos um sich selbst zu kreisen; auch
sie ertragen nicht das Nichts. Man wartete auf etwas, von morgens bis
abends, und es geschah nichts. Man wartete wieder und wieder. Es geschah
nichts. Man wartete, wartete, wartete, man dachte, man dachte, man dachte,
bis einem die Schläfen schmerzten. Nichts geschah. Man blieb allein. Allein.
Allein.
Das dauerte vierzehn Tage, die ich außerhalb der Zeit, außerhalb der Welt
lebte. Wäre damals ein Krieg ausgebrochen, ich hätte es nicht erfahren;
meine Welt bestand doch nur aus Tisch, Tür, Bett, Waschschüssel, Sessel,
Fenster und Wand, und immer starrte ich auf dieselbe Tapete an derselben
Wand; jede Linie ihres gezackten Musters hat sich wie mit ehernem Stichel
eingegraben bis in die innerste Falte meines Gehirns, so oft habe ich sie
angestarrt. Dann endlich begannen die Verhöre. Man wurde plötzlich
abgerufen, ohne recht zu wissen, ob es Tag war oder Nacht. Man wurde gerufen
und durch ein paar Gänge geführt, man wusste nicht wohin; dann wartete man
irgendwo und wusste nicht wo und stand plötzlich vor einem Tisch, um den ein
paar uniformierte Leute saßen. Auf dem Tisch lag ein Stoß Papier: die Akten,
von denen man nicht wusste, was sie enthielten, und dann begannen die
Fragen, die echten und die falschen, die klaren und die tückischen, die
Deckfragen und Fangfragen, und während man antwortete, blätterten fremde,
böse Finger in den Papieren, von denen man nicht wusste, was sie enthielten,
und fremde, böse Finger schrieben etwas in ein Protokoll, und man wusste
nicht, was sie schrieben. Aber das Fürchterlichste bei diesen Verhören für
mich war, dass ich nie erraten und errechnen konnte, was die Gestapoleute
von den Vorgängen in meiner Kanzlei tatsächlich wussten und was sie erst aus
mir herausholen wollten. Wie ich Ihnen bereits sagte, hatte ich die
eigentlich belastenden Papiere meinem Onkel in letzter Stunde durch die
Haushälterin geschickt. Aber hatte er sie erhalten? Hatte er sie nicht
erhalten? Und wie viel hatte jener Kanzlist verraten? Wie viel hatten sie an
Briefen aufgefangen, wie viel inzwischen in den deutschen Klöstern, die wir
vertraten, einem ungeschickten Geistlichen vielleicht schon abgepresst? Und
sie fragten und fragten. Welche Papiere ich für jenes Kloster gekauft, mit
welchen Banken ich korrespondiert, ob ich einen Herrn Soundso kenne oder
nicht, ob ich Briefe aus der Schweiz erhalten und aus Steenookerzeel? Und da
ich nie errechnen konnte, wie viel sie schon ausgekundschaftet hatten, wurde
jede Antwort zur ungeheuersten Verantwortung. Gab ich etwas zu, was ihnen
nicht bekannt war, so lieferte ich vielleicht unnötig jemanden ans Messer.
Leugnete ich zuviel ab, so schädigte ich mich selbst.
Aber das Verhör war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das
Zurückkommen nach dem Verhör in mein Nichts, in dasselbe Zimmer mit
demselben Tisch, demselben Bett, derselben Waschschüssel, derselben Tapete.
Denn kaum allein mit mir, versuchte ich zu rekonstruieren, was ich am
klügsten hätte antworten sollen und was ich das nächste Mal sagen müsste, um
den Verdacht wieder abzulenken, den ich vielleicht mit einer unbedachten
Bemerkung heraufbeschworen. Ich überlegte, ich durchdachte, ich
durchforschte, ich überprüfte meine eigene Aussage auf jedes Wort, das ich
dem Untersuchungsrichter gesagt, ich rekapitulierte jede Frage, die sie
gestellt, jede Antwort, die ich gegeben, ich versuchte zu erwägen, was sie
davon protokolliert haben könnten, und wusste doch, dass ich das nie
errechnen und erfahren könnte. Aber diese Gedanken, einmal angekurbelt im
leeren Raum, hörten nicht auf, im Kopf zu rotieren, immer wieder von neuem,
in immer anderen Kombinationen, und das ging hinein bis in den Schlaf –,
jedes Mal nach einer Vernehmung durch die Gestapo übernahmen ebenso
unerbittlich meine eigenen Gedanken die Marter des Fragens und Forschens und
Quälens, und vielleicht noch grausamer sogar, denn jene Vernehmungen endeten
doch immerhin nach einer Stunde, und diese nie, dank der tückischen Tortur
dieser Einsamkeit. Und immer um mich nur der Tisch, der Schrank, das Bett,
die Tapete, das Fenster, keine Ablenkung, kein Buch, keine Zeitung, kein
fremdes Gesicht, kein Bleistift, um etwas zu notieren, kein Zündholz, um
damit zu spielen, nichts, nichts, nichts. jetzt erst gewahrte ich, wie
teuflisch sinnvoll, wie psychologisch mörderisch erdacht dieses System des
Hotelzimmers war. Im Konzentrationslager hätte man vielleicht Steine karren
müssen, bis einem die Hände bluteten und die Füße in den Schuhen abfroren,
man wäre zusammengepackt gelegen mit zwei Dutzend Menschen in Stank und
Kälte. Aber man hätte Gesichter gesehen, man hätte ein Feld, einen Karren,
einen Baum, einen Stern, irgend, irgend etwas anstarren können, indes hier
immer dasselbe um einen stand, immer dasselbe, das entsetzliche Dasselbe.
Hier war nichts, was mich ablenken konnte von meinen Gedanken, von meinen
Wahnvorstellungen, von meinem krankhaften Rekapitulieren. Und gerade das
beabsichtigten sie ich sollte doch würgen und würgen an meinen Gedanken, bis
sie mich erstickten und ich nicht anders konnte, als sie schließlich
ausspeien, als auszusagen, alles auszusagen, was sie wollten, endlich das
Material und die Menschen auszuliefern. Allmählich spürte ich, wie meine
Nerven unter diesem grässlichen Druck des Nichts sich zu lockern begannen,
und ich spannte, der Gefahr bewusst, bis zum Zerreißen meine Nerven,
irgendeine Ablenkung zu finden oder zu erfinden. Um mich zu beschäftigen,
versuchte ich alles, was ich jemals auswendig gelernt, zu rezitieren und zu
rekonstruieren, die Volkshymne und die Spielreime der Kinderzeit, den Homer
des Gymnasiums, die Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Dann versuchte
ich zu rechnen, beliebige Zahlen zu addieren, zu dividieren, aber mein
Gedächtnis hatte im Leeren keine festhaltende Kraft. Ich konnte mich auf
nichts konzentrieren. Immer fuhr und flackerte derselbe Gedanke dazwischen:
Was wissen sie? Was habe ich gestern gesagt, was muss ich das nächste Mal
sagen?
Dieser eigentlich unbeschreibbare Zustand dauerte vier Monate. Nun – vier
Monate, das schreibt sich leicht hin: just ein Dutzend Buchstaben! Das
spricht sich leicht aus: vier Monate vier Silben. In einer Viertelsekunde
hat die Lippe rasch so einen Laut artikuliert: vier Monate! Aber niemand
kann schildern, kann messen, kann veranschaulichen, nicht einem andern,
nicht sich selbst, wie lange eine Zeit im Raumlosen, im Zeitlosen währt, und
keinem kann man erklären, wie es einen zerfrisst und zerstört, dieses Nichts
und Nichts und Nichts um einen, dies immer nur Tisch und Bett und
Waschschüssel und Tapete, und immer das Schweigen, immer derselbe Wärter,
der, ohne einen anzusehen, das Essen hereinschiebt, immer dieselben
Gedanken, die im Nichts um das eine kreisen, bis man irre wird. An kleinen
Zeichen wurde ich beunruhigt gewahr, dass mein Gehirn in Unordnung geriet.
Im Anfang war ich bei den Vernehmungen noch innerlich klar gewesen, ich
hatte ruhig und überlegt ausgesagt; jenes Doppeldenken, was ich sagen sollte
und was nicht, hatte noch funktioniert. jetzt konnte ich schon die
einfachsten Sätze nur mehr stammelnd artikulieren, denn während ich
aussagte, starrte ich hypnotisiert auf die Feder, die protokollierend über
das Papier lief, als wollte ich meinen eigenen Worten nachlaufen. Ich
spürte, meine Kraft ließ nach, ich spürte, immer näher rückte der
Augenblick, wo ich, um mich zu retten, alles sagen würde, was ich wusste,
und vielleicht noch mehr, in dem ich, um dem Würgen dieses Nichts zu
entkommen, zwölf Menschen und ihre Geheimnisse verraten würde, ohne mir
selbst damit mehr zu schaffen als einen Atemzug Rast. An einem Abend war es
wirklich schon so weit: als der Wärter zufällig in diesem Augenblick des
Erstickens mir das Essen brachte, schrie ich ihm plötzlich nach: 'Führen Sie
mich zur Vernehmung! Ich will alles sagen! Ich will alles aussagen! Ich will
sagen, wo die Papiere sind, wo das Geld liegt! Alles werde ich sagen,
alles!' Glücklicherweise hörte er mich nicht mehr. Vielleicht wollte er mich
auch nicht hören.
In dieser äußersten Not ereignete sich nun etwas Unvorhergesehenes, was
Rettung bot, Rettung zum mindesten für eine gewisse Zeit. Es war Ende Juli,
ein dunkler, verhangener, regnerischer Tag: ich erinnere mich an diese
Einzelheit deshalb ganz genau, weil der Regen gegen die Scheiben im Gang
trommelte, durch den ich zur Vernehmung geführt wurde. Im Vorzimmer des
Untersuchungsrichters musste ich warten. Immer musste man bei jeder
Vorführung warten: auch dieses Wartenlassen gehörte zur Technik. Erst riss
man einem die Nerven auf durch den Anruf, durch das plötzliche Abholen aus
der Zelle mitten in der Nacht, und dann, wenn man schon eingestellt war auf
die Vernehmung, schon Verstand und Willen gespannt hatte zum Widerstand,
ließen sie einen warten, sinnlos-sinnvoll warten, eine Stunde, zwei Stunden,
drei Stunden vor der Vernehmung, um den Körper müde, um die Seele mürbe zu
machen. Und man ließ mich besonders lange warten an diesem Donnerstag, dem
27. Juli, zwei geschlagene Stunden im Vorzimmer stehend warten; ich erinnere
mich auch an dieses Datum aus einem bestimmten Grunde so genau, denn in
diesem Vorzimmer, wo ich selbstverständlich, ohne mich niedersetzen zu
dürfen zwei Stunden mir die Beine in den Leib stehen musste, hing ein
Kalender, und ich vermag Ihnen nicht zu erklären, wie in meinem Hunger nach
Gedrucktem, nach Geschriebenem ich diese eine Zahl, diese wenigen Worte '27.
Juli' an der Wand anstarrte und anstarrte; ich fraß sie gleichsam in mein
Gehirn hinein. Und dann wartete ich wieder und wartete und starrte auf die
Tür, wann sie sich endlich öffnen würde, und überlegte zugleich, was die
Inquisitoren mich diesmal fragen könnten, und wusste doch, dass sie mich
etwas ganz anderes fragen würden, als worauf ich mich vorbereitete. Aber
trotz alledem war die Qual dieses Wartens und Stehens zugleich eine Wohltat,
eine Lust, weil dieser Raum immerhin ein anderes Zimmer war als das meine,
etwas größer und mit zwei Fenstern statt einem, und ohne das Bett und ohne
die Waschschüssel und ohne den bestimmten Riss am Fensterbrett, den ich
Millionen Mal betrachtet. Die Tür war anders gestrichen, ein anderer Sessel
stand an der Wand und links ein Registerschrank mit Akten sowie eine
Garderobe mit Aufhängern, an denen drei oder vier nasse Militärmäntel, die
Mäntel meiner Folterknechte, hingen. Ich hatte also etwas Neues, etwas
anderes zu betrachten, endlich einmal etwas anderes mit meinen
ausgehungerten Augen, und sie krallten sich gierig an jede Einzelheit. Ich
beobachtete an diesen Mänteln jede Falte, ich bemerkte zum Beispiel einen
Tropfen, der von einem der nassen Kragen niederhing, und so lächerlich es
für Sie klingen mag, ich wartete mit einer unsinnigen Erregung, ob dieser
Tropfen endlich abrinnen wollte, die Falte entlang, oder ob er noch gegen
die Schwerkraft sich wehren und länger haften bleiben würde – ja, ich
starrte und starrte minutenlang atemlos auf diesen Tropfen, als hinge mein
Leben daran. Dann, als er endlich niedergerollt war, zählte ich wieder die
Knöpfe auf den Mänteln nach, acht an dem einen Rock, acht an dem andern,
zehn an dem dritten, dann wieder verglich ich die Aufschläge; alle diese
lächerlichen, unwichtigen Kleinigkeiten betasteten, umspielten, umgriffen
meine verhungerten Augen mit einer Gier, die ich nicht zu beschreiben
vermag. Und plötzlich blieb mein Blick starr an etwas haften. Ich hatte
entdeckt, dass an einem der Mäntel die Seitentasche etwas aufgebauscht war.
Ich trat näher heran und glaubte an der rechteckigen Form der Ausbuchtung zu
erkennen, was diese etwas geschwellte Tasche in sich barg: ein Buch! Mir
begannen die Knie zu zittern: ein BUCH! Vier Monate lang hatte ich kein Buch
in der Hand gehabt, und schon die bloße Vorstellung eines Buches, in dem man
aneinander gereihte Worte sehen konnte, Zeilen, Seiten und Blätter, eines
Buches, aus dem man andere, neue, fremde, ablenkende Gedanken lesen,
verfolgen, sich ins Hirn nehmen könnte, hatte etwas Berauschendes und
gleichzeitig Betäubendes. Hypnotisiert starrten meine Augen auf die kleine
Wölbung, die jenes Buch innerhalb der Tasche formte, sie glühten diese eine
unscheinbare Stelle an, als ob sie ein Loch in den Mantel brennen wollten.
Schließlich konnte ich meine Gier nicht verhalten; unwillkürlich schob ich
mich näher heran. Schon der Gedanke, ein Buch durch den Stoff mit den Händen
wenigstens antasten zu können, machte mir die Nerven in den Fingern bis zu
den Nägeln glühen. Fast ohne es zu wissen, drückte ich mich immer näher
heran. Glücklicherweise achtete der Wärter nicht auf mein gewiss sonderbares
Gehaben; vielleicht auch schien es ihm nur natürlich, dass ein Mensch nach
zwei Stunden aufrechten Stehens sich ein wenig an die Wand lehnen wollte.
Schließlich stand ich schon ganz nahe bei dem Mantel, und mit Absicht hatte
ich die Hände hinter mich auf den Rücken gelegt, damit sie unauffällig den
Mantel berühren könnten. Ich tastete den Stoff an und fühlte tatsächlich
durch den Stoff etwas Rechteckiges, etwas, das biegsam war und leise
knisterte – ein Buch! Ein Buch! Und wie ein Schuss durchzuckte mich der
Gedanke: stiehl dir das Buch! Vielleicht gelingt es, und du kannst dirs in
der Zelle verstecken und dann lesen, lesen, lesen, endlich wieder einmal
lesen! Der Gedanke, kaum in mich gedrungen, wirkte wie ein starkes Gift; mit
einemmal begannen mir die Ohren zu brausen und das Herz zu hämmern, meine
Hände wurden eiskalt und gehorchten nicht mehr. Aber nach der ersten
Betäubung drängte ich mich leise und listig noch näher an den Mantel, ich
drückte, immer dabei den Wächter fixierend, mit den hinter dem Rücken
versteckten Händen das Buch von unten aus der Tasche höher und höher. Und
dann: ein Griff, ein leichter, vorsichtiger Zug, und plötzlich hatte ich das
kleine, nicht sehr umfangreiche Buch in der Hand. jetzt erst erschrak ich
vor meiner Tat. Aber ich konnte nicht mehr zurück. jedoch wohin damit? Ich
schob den Band hinter meinem Rücken unter die Hose an die Stelle, wo sie der
Gürtel hielt, und von dort allmählich hinüber an die Hüfte, damit ich es
beim Gehen mit der Hand militärisch an der Hosennaht festhalten könnte. Nun
galt es die erste Probe. Ich trat von der Garderobe weg, einen Schritt, zwei
Schritte, drei Schritte. Es ging. Es war möglich, das Buch im Gehen
festzuhalten, wenn ich nur die Hand fest an den Gürtel presste.
Dann kam die Vernehmung. Sie erforderte meinerseits mehr Anstrengung als je,
denn eigentlich konzentrierte ich meine ganze Kraft, während ich antwortete,
nicht auf meine Aussage, sondern vor allem darauf, das Buch unauffällig
festzuhalten. Glücklicherweise fiel das Verhör diesmal kurz aus, und ich
brachte das Buch heil in mein Zimmer – ich will Sie nicht aufhalten mit all
den Einzelheiten, denn einmal rutschte es von der Hose gefährlich ab mitten
im Gang, und ich musste einen schweren Hustenanfall simulieren, um mich
niederzubücken und es wieder heil unter den Gürtel zurückzuschieben. Aber
welch eine Sekunde dafür, als ich damit in meine Hölle zurücktrat, endlich
allein und doch nicht mehr allein!
Nun vermuten Sie wahrscheinlich, ich hätte sofort das Buch gepackt,
betrachtet, gelesen. Keineswegs! Erst wollte ich die Vorlust auskosten, dass
ich ein Buch bei mir hatte, die künstlich verzögernde und meine Nerven
wunderbar erregende Lust, mir auszuträumen, welche Art Buch dies gestohlene
am liebsten sein sollte: sehr eng gedruckt vor allem, viele, viele Lettern
enthaltend, viele, viele dünne Blätter, damit ich länger daran zu lesen
hätte. Und dann wünschte ich mir, es sollte ein Werk sein, das mich geistig
anstrengte, nichts Flaches, nichts Leichtes, sondern etwas, das man lernen,
auswendig lernen konnte, Gedichte, und am besten – welcher verwegene Traum!
– Goethe oder Homer. Aber schließlich konnte ich meine Gier, meine Neugier
nicht länger verhalten. Hingestreckt auf das Bett, so dass der Wärter, wenn
er plötzlich die Tür aufmachen sollte, mich nicht ertappen könnte, zog ich
zitternd unter dem Gürtel den Band heraus.
Der erste Blick war eine Enttäuschung und sogar eine Art erbitterter Ärger:
dieses mit so ungeheurer Gefahr erbeutete, mit so glühender Erwartung
aufgesparte Buch war nichts anderes als ein Schachrepetitorium, eine
Sammlung von hundertfünfzig Meisterpartien. Wäre ich nicht verriegelt,
verschlossen gewesen, ich hätte im ersten Zorn das Buch durch ein offenes
Fenster geschleudert, denn was sollte, was konnte ich mit diesem Nonsens
beginnen? Ich hatte als Knabe im Gymnasium wie die meisten anderen mich ab
und zu aus Langeweile vor einem Schachbrett versucht. Aber was sollte mir
dieses theoretische Zeug? Schach kann man doch nicht spielen ohne einen
Partner und schon gar nicht ohne Steine, ohne Brett. Verdrossen blätterte
ich die Seiten durch, um vielleicht dennoch etwas Lesbares zu entdecken,
eine Einleitung, eine Anleitung; aber ich fand nichts als die nackten
quadratischen Schemata der einzelnen Meisterpartien und darunter mir
zunächst unverständliche Zeichen, a2 – a3, S f1 – g3 und so weiter. Alles
das schien mir eine Art Algebra, zu der ich keinen Schlüssel fand. Erst
allmählich enträtselte ich, dass die Buchstaben a, b, c für die Längsreihen,
die Zahlen 1 bis 8 für die Querreihen eingesetzt waren und den Jeweiligen
Stand jeder einzelnen Figur bestimmten; damit bekamen die rein graphischen
Schemata immerhin eine Sprache. Vielleicht, überlegte ich, könnte ich mir in
meiner Zelle eine Art Schachbrett konstruieren und dann versuchen, diese
Partien nachzuspielen; wie ein himmlischer Wink erschien es mir, dass mein
Betttuch sich zufällig als grob kariert erwies. Richtig zusammengefaltet,
ließ es sich am Ende so legen, um vierundsechzig Felder zusammenzubekommen.
Ich versteckte also zunächst das Buch unter der Matratze und riss nur die
erste Seite heraus. Dann begann ich aus kleinen Krümeln, die ich mir von
meinem Brot absparte, in selbstverständlich lächerlich unvollkommener Weise
die Figuren des Schachs, König, Königin und so weiter, zurechtzumodeln; nach
endlosem Bemühen konnte ich es schließlich unternehmen, auf dem karierten
Betttuch die im Schachbuch abgebildete Position zu rekonstruieren. Als ich
aber versuchte, die ganze Partie nachzuspielen, misslang es zunächst
vollkommen mit meinen lächerlichen Krümelfiguren, von denen Ich zur
Unterscheidung die eine Hälfte mit Staub dunkler gefärbt hatte. Ich
verwirrte mich in den ersten Tagen unablässig; fünfmal, zehnmal, zwanzigmal
musste ich diese eine Partie immer wieder von Anfang beginnen. Aber wer auf
Erden verfügte über so viel ungenützte und nutzlose Zeit wie ich, der Sklave
des Nichts, wem stand so viel unermessliche Gier und Geduld zu Gebot? Nach
sechs Tagen spielte ich schon die Partie tadellos zu Ende, nach weiteren
acht Tagen benötigte ich nicht einmal die Krümel auf dem Betttuch mehr, um
mir die Position aus dem Schachbuch zu vergegenständlichen, und nach
weiteren acht Tagen wurde auch das karierte Betttuch entbehrlich;
automatisch verwandelten sich die anfangs abstrakten Zeichen des Buches a1,
a2, c7, c8 hinter meiner Stirn zu visuellen, zu plastischen Positionen. Die
Umstellung war restlos gelungen: ich hatte das Schachbrett mit seinen
Figuren nach innen projiziert und überblickte auch dank der bloßen Formeln
die jeweilige Position, so wie einem geübten Musiker der bloße Anblick der
Partitur schon genügt, um alle Stimmen und ihren Zusammenklang zu hören.
Nach weiteren vierzehn Tagen war ich mühelos imstande, jede Partie aus dem
Buch auswendig – oder, wie der Fachausdruck lautet: blind – nachzuspielen;
jetzt erst begann ich zu verstehen, welche unermessliche Wohltat mein
frecher Diebstahl mir eroberte. Denn ich hatte mit einem Male eine Tätigkeit
– eine sinnlose, eine zwecklose, wenn Sie wollen, aber doch eine, die das
Nichts um mich zunichte machte, ich besaß mit den hundertfünfzig
Turnierpartien eine wunderbare Waffe gegen die erdrückende Monotonie des
Raumes und der Zeit. Um mir den Reiz der neuen Beschäftigung ungebrochen zu
bewahren, teilte ich mir von nun ab jeden Tag genau ein: zwei Partien
morgens, zwei Partien nachmittags, abends dann noch eine rasche
Wiederholung. Damit war mein Tag, der sich sonst wie Gallert formlos dehnte,
ausgefüllt, ich war beschäftigt, ohne mich zu ermüden, denn das Schachspiel
besitzt den wunderbaren Vorzug, durch Bannung der geistigen Energien auf ein
eng begrenztes Feld selbst bei anstrengendster Denkleistung das Gehirn nicht
zu erschlaffen, sondern eher seine Agilität und Spannkraft zu schärfen.
Allmählich begann bei dem zuerst bloß mechanischen Nachspielen der
Meisterpartien ein künstlerisches, ein lusthaftes Verständnis in mir zu
erwachen. Ich lernte die Feinheiten, die Tücken und Schärfen in Angriff und
Verteidigung verstehen, ich erfasste die Technik des Vorausdenkens,
Kombinierens, Ripostierens und erkannte bald die persönliche Note jedes
einzelnen Schachmeisters in seiner individuellen Führung so unfehlbar, wie
man Verse eines Dichters schon aus wenigen Zellen feststellt; was als bloß
zeitfüllende Beschäftigung begonnen, wurde Genuss, und die Gestalten der
großen Schachstrategen, wie Aljechin, Lasker, Bogoljubow, Tartakower, traten
als geliebte Kameraden in meine Einsamkeit. Unendliche Abwechslung beseelte
täglich die stumme Zelle, und gerade die Regelmäßigkeit meiner Exerzitien
gab meiner Denkfähigkeit die schon erschütterte Sicherheit zurück: ich
empfand mein Gehirn aufgefrischt und durch die ständige Denkdisziplin sogar
noch gleichsam neu geschliffen. Dass ich klarer und konziser dachte, erwies
sich vor allem bei den Vernehmungen; unbewusst hatte ich mich auf dem
Schachbrett in der Verteidigung gegen falsche Drohungen und verdeckte
Winkelzüge vervollkommnet; von diesem Zeitpunkt an gab ich mir bei den
Vernehmungen keine Blöße mehr, und mir dünkte sogar, dass die Gestapoleute
mich allmählich mit einem gewissen Respekt zu betrachten begannen.
Vielleicht fragten sie sich im stillen, da sie alle anderen zusammenbrechen
sahen, aus welchen geheimen Quellen ich allein die Kraft solch
unerschütterlichen Widerstands schöpfte.
Diese meine Glückszeit, da ich die hundertfünfzig Partien jenes Buches Tag
für Tag systematisch nachspielte, dauerte etwa zweieinhalb bis drei Monate.
Dann geriet ich unvermuteterweise an einen toten Punkt. Plötzlich stand ich
neuerdings vor dem Nichts. Denn sobald ich jede einzelne Partie zwanzig-
oder dreißigmal durchgespielt hatte, verlor sie den Reiz der Neuheit, der
Überraschung, ihre vordem so aufregende, so anregende Kraft war erschöpft.
Welchen Sinn hatte es, nochmals und nochmals Partien zu wiederholen, die ich
Zug um Zug längst auswendig kannte? Kaum ich die erste Eröffnung getan,
klöppelte sich ihr Ablauf gleichsam automatisch in mir ab, es gab keine
Überraschung mehr, keine Spannungen, keine Probleme. Um mich zu
beschäftigen, um mir die schon unentbehrlich gewordene Anstrengung und
Ablenkung zu schaffen, hätte ich eigentlich ein anderes Buch mit anderen
Partien gebraucht. Da dies aber vollkommen unmöglich war, gab es nur einen
Weg auf dieser sonderbaren Irrbahn: ich musste mir statt der alten Partien
neue erfinden. Ich musste versuchen, mit mir selbst oder vielmehr gegen mich
selbst zu spielen.
Ich weiß nun nicht, bis zu welchem Grade Sie über die geistige Situation bei
diesem Spiel der Spiele nachgedacht haben. Aber schon die flüchtigste
Überlegung dürfte ausreichen, um klarzumachen, dass beim Schach als einem
reinen, vom Zufall abgelösten Denkspiel es logischerweise eine Absurdität
bedeutet, gegen sich selbst spielen zu wollen. Das Attraktive des Schachs
beruht doch im Grunde einzig darin, dass sich seine Strategie in zwei
verschiedenen Gehirnen verschieden entwickelt, dass in diesem geistigen
Krieg Schwarz die jeweiligen Manöver von Weiß nicht kennt und ständig zu
erraten und zu durchkreuzen sucht, während seinerseits wiederum Weiß die
geheimen Absichten von Schwarz zu überholen und parieren strebt. Bildeten
nun Schwarz und Weiß ein und dieselbe Person, so ergäbe sich der
widersinnige Zustand, dass ein und dasselbe Gehirn gleichzeitig etwas wissen
und doch nicht wissen sollte, dass es als Partner Weiß funktionierend, auf
Kommando völlig vergessen könnte, was es eine Minute vorher als Partner
Schwarz gewollt und beabsichtigt. Ein solches Doppeldenken setzt eigentlich
eine vollkommene Spaltung des Bewusstseins voraus, ein beliebiges Auf- und
Abblendenkönnen der Gehirnfunktion wie bei einem mechanischen Apparat; gegen
sich selbst spielen zu wollen, bedeutet also im Schach eine solche
Paradoxie, wie über seinen eigenen Schatten zu springen. Nun, um mich kurz
zu fassen, diese Unmöglichkeit, diese Absurdität habe ich in meiner
Verzweiflung monatelang versucht. Aber ich hatte keine Wahl als diesen
Widersinn, um nicht dem puren Irrsinn oder einem völligen geistigen Marasmus
zu verfallen. Ich war durch meine fürchterliche Situation gezwungen, diese
Spaltung in ein Ich Schwarz und ein Ich Weiß zumindest zu versuchen, um
nicht erdrückt zu werden von dem grauenhaften Nichts um mich."
Dr. B. lehnte sich zurück in den Liegestuhl und schloss für eine Minute die
Augen. Es war, als ob er eine verstörende Erinnerung gewaltsam unterdrücken
wollte. Wieder lief das merkwürdige Zucken, das er nicht zu beherrschen
wusste, um den linken Mundwinkel. Dann richtete er sich in seinem Lehnstuhl
etwas höher auf.
„So – bis zu diesem Punkte hoffe ich, Ihnen alles ziemlich verständlich
erklärt zu haben. Aber ich bin leider keineswegs gewiss, ob ich das Weitere
Ihnen noch ähnlich deutlich veranschaulichen kann. Denn diese neue
Beschäftigung erforderte eine so unbedingte Anspannung des Gehirns, dass sie
jede gleichzeitige Selbstkontrolle unmöglich machte. Ich deutete Ihnen schon
an, dass meiner Meinung nach es an sich schon Nonsens bedeutet, Schach gegen
sich selber spielen zu wollen; aber selbst diese Absurdität hätte immerhin
noch eine minimale Chance mit einem realen Schachbrett vor sich, weil das
Schachbrett durch seine Realität immerhin noch eine gewisse Distanz, eine
materielle Exterritorialisierung erlaubt. Vor einem wirklichen Schachbrett
mit wirklichen Figuren kann man Überlegungspausen einschalten, man kann sich
rein körperlich bald auf die eine Seite, bald auf die andere Seite des
Tisches stellen und damit die Situation bald vom Standpunkt Schwarz, bald
vom Standpunkt Weiß ins Auge fassen. Aber genötigt, wie ich es war, diese
Kämpfe gegen mich selbst oder, wenn Sie wollen, mit mir selbst in einen
imaginären Raum zu projizieren, war ich gezwungen, in meinem Bewusstsein die
jeweilige Stellung auf den vierundsechzig Feldern deutlich festzuhalten und
außerdem nicht nur die momentane Figuration, sondern auch schon die
möglichen weiteren Züge von beiden Partnern mir auszukalkulieren, und zwar –
ich weiß, wie absurd dies alles klingt – mir doppelt und dreifach zu
imaginieren, nein, sechsfach, achtfach, zwölffach, für jedes meiner Ich, für
Schwarz und Weiß immer schon vier und fünf Züge voraus. Ich musste –
verzeihen Sie, dass ich Ihnen zumute, diesen Irrsinn durchzudenken bei
diesem Spiel im abstrakten Raum der Phantasie als Spieler Weiß vier oder
fünf Züge vorausberechnen und ebenso als Spieler Schwarz, also alle sich in
der Entwicklung ergebenden Situationen gewissermaßen mit zwei Gehirnen
vorauskombinieren, mit dem Gehirn Weiß und dem Gehirn Schwarz. Aber selbst
diese Selbstzerteilung war noch nicht das Gefährlichste an meinem abstrusen
Experiment, sondern dass ich durch das selbständige Ersinnen von Partien mit
einemmal den Boden unter den Füßen verlor und ins Bodenlose geriet. Das
bloße Nachspielen der Meisterpartien, wie ich es in den vorhergehenden
Wochen geübt, war schließlich nichts als eine reproduktive Leistung gewesen,
ein reines Rekapitulieren einer gegebenen Materie und als solches nicht
anstrengender, als wenn ich Gedichte auswendig gelernt hätte oder
Gesetzesparagraphen memoriert, es war eine begrenzte, eine disziplinierte
Tätigkeit und darum ein ausgezeichnetes Exercitium mentale. Meine zwei
Partien, die ich morgens, die zwei, die ich nachmittags probte, stellten ein
bestimmtes Pensum dar, das ich ohne jeden Einsatz von Erregung erledigte;
sie ersetzten mir eine normale Beschäftigung, und überdies hatte ich, wenn
ich mich im Ablauf einer Partie irrte oder nicht weiter wusste, an dem Buche
noch immer einen Halt. Nur darum war diese Tätigkeit für meine erschütterten
Nerven eine so heilsame und eher beruhigende gewesen, weil ein Nachspielen
fremder Partien nicht mich selber ins Spiel brachte; ob Schwarz oder Weiß
siegte, blieb mir gleichgültig, es waren doch Aljechin oder Bogoljubow, die
um die Palme des Champions kämpften, und meine eigene Person, mein Verstand,
meine Seele genossen einzig als Zuschauer, als Kenner die Peripetien und
Schönheiten jener Partien. Von dem Augenblick an, da ich aber gegen mich zu
spielen versuchte, begann ich mich unbewusst herauszufordern. jedes meiner
beiden Ich, mein Ich Schwarz und mein Ich Weiß, hatten zu wetteifern
gegeneinander und gerieten jedes für sein Tell in einen Ehrgeiz, in eine
Ungeduld, zu siegen, zu gewinnen; ich fieberte als Ich Schwarz nach jedem
Zuge, was das Ich Weiß nun tun würde. jedes meiner beiden Ich triumphierte,
wenn das andere einen Fehler machte, und erbitterte sich gleichzeitig über
sein eigenes Ungeschick.
Das alles scheint sinnlos, und in der Tat wäre ja eine solche künstliche
Schizophrenie, eine solche Bewusstseinsspaltung mit ihrem Einschuss an
gefährlicher Erregtheit bei einem normalen Menschen in normalem Zustand
undenkbar. Aber vergessen Sie nicht, dass ich aus aller Normalität gewaltsam
gerissen war, ein Häftling, unschuldig eingesperrt, seit Monaten raffiniert
mit Einsamkeit gemartert, ein Mensch, der seine aufgehäufte Wut längst gegen
irgend etwas entladen wollte. Und da ich nichts anderes hatte als dies
unsinnige Spiel gegen mich selbst, fuhr meine Wut, meine Rachelust fanatisch
in dieses Spiel hinein. Etwas in mir wollte recht behalten, und ich hatte
doch nur dieses andere Ich in mir, das ich bekämpfen konnte; so steigerte
ich mich während des Spiels in eine fast manische Erregung. Im Anfang hatte
ich noch ruhig und überlegt gedacht, ich hatte Pausen eingeschaltet zwischen
einer und der andern Partie, um mich von der Anstrengung zu erholen; aber
allmählich erlaubten meine gereizten Nerven mir kein Warten mehr. Kaum hatte
mein Ich Weiß einen Zug getan, stieß schon mein Ich Schwarz fiebrig vor;
kaum war eine Partie beendigt, so forderte ich mich schon zur nächsten
heraus, denn jedes Mal war doch eines der beiden Schach-Ich von dem andern
besiegt und verlangte Revanche. Nie werde ich auch nur annähernd sagen
können, wie viele Partien ich infolge dieser irrwitzigen Unersättlichkeit
während dieser letzten Monate in meiner Zelle gegen mich selbst gespielt –
vielleicht tausend, vielleicht mehr. Es war eine Besessenheit, deren ich
mich nicht erwehren konnte; von früh bis nachts dachte ich an nichts als an
Läufer und Bauern und Turm und König und a und b und c und Matt und Rochade,
mit meinem ganzen Sein und Fühlen stieß es mich in das karierte Quadrat. Aus
der Spielfreude war eine Spiellust geworden, aus der Spiellust ein
Spielzwang, eine Manie, eine frenetische Wut, die nicht nur meine wachen
Stunden, sondern allmählich auch meinen Schlaf durchdrang. Ich konnte nur
Schach denken, nur in Schachbewegungen, Schachproblemen; manchmal wachte ich
mit feuchter Stirn auf und erkannte, dass ich sogar im Schlaf unbewusst
weitergespielt haben musste, und wenn ich von Menschen träumte, so geschah
es ausschließlich in den Bewegungen des Läufers, des Turms, im Vor und
Zurück des Rösselsprungs. Selbst wenn ich zum Verhör gerufen wurde, konnte
ich nicht mehr konzis an meine Verantwortung denken; ich habe die
Empfindung, dass bei den letzten Vernehmungen ich mich ziemlich konfus
ausgedrückt haben muss, denn die Verhörenden blickten sich manchmal
befremdet an. Aber in Wirklichkeit wartete ich, während sie fragten und
berieten, in meiner unseligen Gier doch nur darauf, wieder zurückgeführt zu
werden in meine Zelle, um mein Spiel, mein irres Spiel, fortzusetzen, eine
neue Partie und noch eine und noch eine. jede Unterbrechung wurde mir zur
Störung; selbst die Viertelstunde, da der Wärter die Gefängniszelle
aufräumte, die zwei Minuten, da er mir das Essen brachte, quälten meine
fiebrige Ungeduld; manchmal stand abends der Napf mit der Mahlzeit noch
unberührt, ich hatte über dem Spiel vergessen zu essen. Das einzige, was ich
körperlich empfand, war ein fürchterlicher Durst; es muss wohl schon das
Fieber dieses ständigen Denkens und Spielens gewesen sein; ich trank die
Flasche leer in zwei Zügen und quälte den Wärter um mehr und fühlte dennoch
im nächsten Augenblick die Zunge schon wieder trocken im Munde. Schließlich
steigerte sich meine Erregung während des Spielens und ich tat nichts
anderes mehr von morgens bis nachts – zu solchem Grade, dass ich nicht einen
Augenblick mehr stillzusitzen vermochte; ununterbrochen ging ich, während
ich die Partien überlegte, auf und ab, immer schneller und schneller und
schneller auf und ab, auf und ab, und immer hitziger, je mehr sich die
Entscheidung der Partie näherte; die Gier, zu gewinnen, zu siegen, mich
selbst zu besiegen, wurde allmählich zu einer Art Wut, ich zitterte vor
Ungeduld, denn immer war dem einen Schach-Ich in mir das andere zu langsam.
Das eine trieb das andere an; so lächerlich es Ihnen vielleicht scheint, ich
begann mich zu beschimpfen – 'schneller, schneller!' oder 'vorwärts,
vorwärts!' –, wenn das eine Ich in mir mit dem andern nicht rasch genug
ripostierte. Selbstverständlich bin ich mir heute ganz im klaren, dass
dieser mein Zustand schon eine durchaus pathologische Form geistiger
Überreizung war, für die ich eben keinen andern Namen finde als den bisher
medizinisch unbekannten: eine Schachvergiftung. Schließlich begann diese
monomanische Besessenheit nicht nur mein Gehirn, sondern auch meinen Körper
zu attackieren. Ich magerte ab, ich schlief unruhig und verstört, ich
brauchte beim Erwachen jedes Mal eine besondere Anstrengung, die bleiernen
Augenlider aufzuzwingen; manchmal fühlte ich mich derart schwach, dass, wenn
ich ein Trinkglas anfasste, ich es nur mit Mühe bis zu den Lippen brachte,
so zitterten mir die Hände; aber kaum das Spiel begann, überkam mich eine
wilde Kraft: ich lief auf und ab mit geballten Fäusten, und wie durch einen
roten Nebel hörte ich manchmal meine eigene Stimme, wie sie heiser und böse
'Schach' oder 'Matt!' sich selber zuschrie.
Wie dieser grauenhafte, dieser unbeschreibbare Zustand zur Krise kam, vermag
ich selbst nicht zu berichten. Alles, was ich darüber weiß, ist, dass ich
eines Morgens aufwachte, und es war ein anderes Erwachen als sonst. Mein
Körper war gleichsam abgelöst von mir, ich ruhte weich und wohlig. Eine
dichte, gute Müdigkeit, wie ich sie seit Monaten nicht gekannt, lag auf
meinen Lidern, lag so warm und wohltätig auf ihnen, dass ich mich zuerst gar
nicht entschließen konnte, die Augen aufzutun. Minuten lag ich schon wach
und genoss noch diese schwere Dumpfheit, dies laue Liegen mit wollüstig
betäubten Sinnen. Auf einmal war mir, als ob ich hinter mir Stimmen hörte,
lebendige menschliche Stimmen, die Worte sprachen, und Sie können sich mein
Entzücken nicht ausdenken, denn ich hatte doch seit Monaten, seit bald einem
Jahr keine anderen Worte gehört als die harten, scharfen und bösen von der
Richterbank. 'Du träumst', sagte ich mir. 'Du träumst! Tu keinesfalls die
Augen auf! Lass ihn noch dauern, diesen Traum, sonst siehst du wieder die
verfluchte Zelle um dich, den Stuhl und den Waschtisch und den Tisch und die
Tapete mit dem ewig gleichen Muster. Du träumst – träume weiter!'
Aber die Neugier behielt die Oberhand. Ich schlug langsam und vorsichtig die
Lider auf. Und Wunder: es war ein anderes Zimmer, in dem ich mich befand,
ein Zimmer, breiter, geräumiger als meine Hotelzelle. Ein ungegittertes
Fenster ließ freies Licht herein und einen Blick auf Bäume, grüne, im Wind
wogende Bäume statt meiner starren Feuermauer, weiß und glatt glänzten die
Wände, weiß und hoch hob sich über mir die Decke – wahrhaftig, ich lag in
einem neuen, einem fremden Bett, und wirklich, es war kein Traum, hinter mir
flüsterten leise menschliche Stimmen. Unwillkürlich muss ich mich in meiner
Überraschung heftig geregt haben, denn schon hörte ich hinter mir einen
nahenden Schritt. Eine Frau kam weichen Gelenks heran, eine Frau mit weißer
Haube über dem Haar, eine Pflegerin, eine Schwester. Ein Schauer des
Entzückens fiel über mich: ich hatte seit einem Jahr keine Frau gesehen. Ich
starrte die holde Erscheinung an, und es muss ein wilder, ekstatischer
Aufblick gewesen sein, denn 'Ruhig! Bleiben Sie ruhig!' beschwichtigte mich
dringlich die Nahende. Ich aber lauschte nur auf ihre Stimme – war das nicht
ein Mensch, der sprach? Gab es wirklich noch auf Erden einen Menschen, der
mich nicht verhörte, nicht quälte? Und dazu noch – unfassbares Wunder! –
eine weiche, warme, eine fast zärtliche Frauenstimme. Gierig starrte ich auf
ihren Mund, denn es war mir in diesem Höllenjahr unwahrscheinlich geworden,
dass ein Mensch gütig zu einem andern sprechen könnte. Sie lächelte mir zu –
ja, sie lächelte, es gab noch Menschen, die gütig lächeln konnten –, dann
legte sie den Finger mahnend auf die Lippen und ging leise weiter. Aber ich
konnte ihrem Gebot nicht gehorchen. Ich hatte mich noch nicht sattgesehen an
dem Wunder. Gewaltsam versuchte ich mich in dem Bette aufzurichten, um ihr
nachzublicken, diesem Wunder eines menschlichen Wesens nachzublicken, das
gütig war. Aber wie ich mich am Bettrande aufstützen wollte, gelang es mir
nicht. Wo sonst meine rechte Hand gewesen, Finger und Gelenk, spürte ich
etwas Fremdes, einen dicken, großen, weißen Bausch, offenbar einen
umfangreichen Verband. Ich staunte dieses Weiße, Dicke, Fremde an meiner
Hand zuerst verständnislos an, dann begann ich langsam zu begreifen, wo ich
war, und zu überlegen, was mit mir geschehen sein mochte. Man musste mich
verwundet haben, oder ich hatte mich selbst an der Hand verletzt. Ich befand
mich in einem Hospital.
Mittags kam der Arzt, ein freundlicher älterer Herr. Er kannte den Namen
meiner Familie und erwähnte derart respektvoll meinen Onkel, den
kaiserlichen Leibarzt, dass mich sofort das Gefühl überkam, er meine es gut
mit mir. Im weiteren Verlauf richtete er allerhand Fragen an mich, vor allem
eine, die mich erstaunte – ob ich Mathematiker sei oder Chemiker. Ich
verneinte.
'Sonderbar', murmelte er. 'Im Fieber haben Sie immer so sonderbare Formeln
geschrieen – c3, c4. Wir haben uns alle nicht ausgekannt.'
Ich erkundigte mich, was mit mir vorgegangen sei. Er lächelte merkwürdig.
'Nichts Ernstliches. Eine akute Irritation der Nerven', und fügte, nachdem
er sich zuvor vorsichtig umgeblickt hatte, leise bei: 'Schließlich eine
recht verständliche. Seit dem 13. März, nicht wahr?'
Ich nickte.
'Kein Wunder bei dieser Methode', murmelte er.
'Sie sind nicht der erste. Aber sorgen Sie sich nicht.'
An der Art, wie er mir dies beruhigend zuflüsterte, und dank seines
begütigenden Blicks wusste ich, dass ich bei ihm gut geborgen war.
Zwei Tage später erklärte mir der gütige Doktor ziemlich freimütig, was
vorgefallen war. Der Wärter hatte mich in meiner Zelle laut schreien gehört
und zunächst geglaubt, dass jemand eingedrungen sei, mit dem ich streite.
Kaum er sich aber an der Tür gezeigt, hätte ich mich auf ihn gestürzt und
ihn mit wilden Ausrufen angeschrieen, die ähnlich klangen wie: 'Zieh schon
einmal, du Schuft, du Feigling!', ihn bei der Gurgel zu fassen gesucht und
schließlich so wild angefallen, dass er um Hilfe rufen musste. Als man mich
in meinem tollwütigen Zustand dann zur ärztlichen Untersuchung schleppte,
hätte ich mich plötzlich losgerissen, auf das Fenster im Gang gestürzt, die
Scheibe eingeschlagen und mir dabei die Hand zerschnitten – Sie sehen noch
die tiefe Narbe hier. Die ersten Nächte im Hospital hatte ich in einer Art
Gehirnfieber verbracht, aber jetzt finde er mein Sensorium völlig klar.
'Freilich', fügte er leise bei, 'werde ich das lieber nicht den Herrschaften
melden, sonst holt man Sie am Ende noch einmal dorthin zurück. Verlassen Sie
sich auf mich, ich werde mein Bestes tun.'
Was dieser hilfreiche Arzt meinen Peinigern über mich berichtet hat,
entzieht sich meiner Kenntnis. jedenfalls erreichte er, was er erreichen
wollte: meine Entlassung. Mag sein, dass er mich als unzurechnungsfähig
erklärt hat, oder vielleicht war ich inzwischen schon der Gestapo unwichtig
geworden, denn Hitler hatte seitdem Böhmen besetzt, und damit war der Fall
Österreich für ihn erledigt. So brauchte ich nur die Verpflichtung zu
unterzeichnen, unsere Heimat innerhalb von vierzehn Tagen zu verlassen, und
diese vierzehn Tage waren dermaßen erfüllt mit all den tausend Formalitäten,
die heutzutage der einstmalige Weltbürger zu einer Ausreise benötigt –
Militärpapiere, Polizei, Steuer, Pass, Visum, Gesundheitszeugnis –, dass ich
keine Zeit hatte, über das Vergangene viel nachzusinnen. Anscheinend wirken
in unserem Gehirn geheimnisvoll regulierende Kräfte, die, was der Seele
lästig und gefährlich werden kann, selbsttätig ausschalten, denn immer, wenn
ich zurückdenken wollte an meine Zellenzeit, erlosch gewissermaßen in meinem
Gehirn das Licht; erst nach Wochen und Wochen, eigentlich erst hier auf dem
Schiff, fand ich wieder den Mut, mich zu besinnen, was mir geschehen war.
Und nun werden Sie begreifen, warum ich mich so ungehörig und wahrscheinlich
unverständlich Ihren Freunden gegenüber benommen. Ich schlenderte doch nur
ganz zufällig durch den Rauchsalon, als ich Ihre Freunde vor dem Schachbrett
sitzen sah; unwillkürlich fühlte ich den Fuß angewurzelt vor Staunen und
Schrecken. Denn ich hatte total vergessen, dass man Schach spielen kann an
einem wirklichen Schachbrett und mit wirklichen Figuren, vergessen, dass bei
diesem Spiel zwei völlig verschiedene Menschen einander leibhaftig
gegenübersitzen. Ich brauchte wahrhaftig ein paar Minuten, um mich zu
erinnern, dass, was diese Spieler dort taten, im Grunde dasselbe Spiel war,
das ich in meiner Hilflosigkeit monatelang gegen mich selbst versucht. Die
Chiffren, mit denen ich mich beholfen während meiner grimmigen Exerzitien,
waren doch nur Ersatz gewesen und Symbol für diese beinernen Figuren; meine
Überraschung, dass dieses Figurenrücken auf dem Brett dasselbe sei wie mein
imaginäres Phantasieren im Denkraum, mochte vielleicht der eines Astronomen
ähnlich sein, der sich mit den kompliziertesten Methoden auf dem Papier
einen neuen Planeten errechnet hat und ihn dann wirklich am Himmel erblickt
als einen weißen, klaren, substantiellen Stern. Wie magnetisch festgehalten
starrte ich auf das Brett und sah dort meine Schemata, Pferd, Turm, König,
Königin und Bauern als reale Figuren, aus Holz geschnitzt; um die Stellung
der Partie zu überblicken, musste ich sie unwillkürlich erst zurückmutieren
aus meiner abstrakten Ziffernwelt in die der bewegten Steine. Allmählich
überkam mich die Neugier, ein solches reales Spiel zwischen zwei Partnern zu
beobachten. Und da passierte das Peinliche, dass ich, alle Höflichkeit
vergessend, mich einmengte in Ihre Partie. Aber dieser falsche Zug Ihres
Freundes traf mich wie ein Stich ins Herz. Es war eine reine
Instinkthandlung, dass ich ihn zurückhielt, ein impulsiver Zugritt, wie man,
ohne zu überlegen, ein Kind fasst, das sich über ein Geländer beugt. Erst
später wurde mir die grobe Ungehörigkeit klar, deren ich mich durch meine
Vordringlichkeit schuldig gemacht."
Ich beeilte mich, Dr. B. zu versichern, wie sehr wir alle uns freuten,
diesem Zufall seine Bekanntschaft zu verdanken, und dass es für mich nach
all dem, was er mir anvertraut, nun doppelt interessant sein werde, ihm
morgen bei dem improvisierten Turnier zusehen zu dürfen. Dr. B. machte eine
unruhige Bewegung.
„Nein, erwarten Sie wirklich nicht zu viel. Es soll nichts als eine Probe
für mich sein... eine Probe, ob ich... ob ich überhaupt fähig bin, eine
normale Schachpartie zu spielen, eine Partie auf einem wirklichen
Schachbrett mit faktischen Figuren und einem lebendigen Partner... denn ich
zweifle jetzt immer mehr daran, ob jene Hunderte und vielleicht Tausende
Partien, die ich gespielt habe, tatsächlich regelrechte Schachpartien waren
und nicht bloß eine Art Traumschach, ein Fieberschach, ein Fieberspiel, in
dem wie immer im Traum Zwischenstufen übersprungen wurden. Sie werden mir
doch hoffentlich nicht im Ernst zumuten, dass ich mir anmaße, einem
Schachmeister, und gar dem ersten der Welt, Paroli bieten zu können. Was
mich interessiert und intrigiert, ist einzig die posthume Neugier,
festzustellen, ob das in der Zelle damals noch Schachspiel oder schon
Wahnsinn gewesen, ob ich damals noch knapp vor oder schon jenseits der
gefährlichen Klippe mich befand – nur dies, nur dies allein."
Vom Schiffsende tönte in diesem Augenblick der Gong, der zum Abendessen rief
Wir mussten – Dr. B. hatte mir alles viel ausführlicher berichtet, als ich
es hier zusammenfasse – fast zwei Stunden verplaudert haben. Ich dankte ihm
herzlich und verabschiedete mich. Aber noch war ich nicht das Deck entlang,
so kam er mir schon nach und fügte sichtlich nervös und sogar etwas stottrig
bei:
„Noch eines! Wollen Sie den Herren gleich im voraus ausrichten, damit ich
nachträglich nicht unhöflich erscheine: ich spiele nur eine einzige
Partie... sie soll nichts als der Schlussstrich unter eine alte Rechnung
sein – eine endgültige Erledigung und nicht ein neuer Anfang ... Ich möchte
nicht ein zweites Mal in dieses leidenschaftliche Spielfieber geraten, an
das ich nur mit Grauen zurückdenken kann... und übrigens... übrigens hat
mich damals auch der Arzt gewarnt... ausdrücklich gewarnt. jeder, der einer
Manie verfallen war, bleibt für immer gefährdet, und mit einer – wenn auch
ausgeheilten – Schachvergiftung soll man besser keinem Schachbrett nahe
kommen... Also Sie verstehen – nur diese eine Probepartie für mich selbst
und nicht mehr."
Pünktlich um die vereinbarte Stunde, drei Uhr, waren wir am nächsten Tage im
Rauchsalon versammelt. Unsere Runde hatte sich noch um zwei Liebhaber der
königlichen Kunst vermehrt, zwei Schiffsoffiziere, die sich eigens Urlaub
vom Borddienst erbeten, um dem Turnier zusehen zu können. Auch Czentovic
ließ nicht wie am vorhergehenden Tage auf sich warten, und nach der
obligaten Wahl der Farben begann die denkwürdige Partie dieses Homo
obscurissimus gegen den berühmten Weltmeister. Es tut mir leid, dass sie nur
für uns durchaus unkompetente Zuschauer gespielt war und ihr Ablauf für die
Annalen der Schachkunde ebenso verloren ist wie Beethovens
Klavierimprovisationen für die Musik. Zwar haben wir an den nächsten
Nachmittagen versucht, die Partie gemeinsam aus dem Gedächtnis zu
rekonstruieren, aber vergeblich; wahrscheinlich hatten wir alle während des
Spiels zu passioniert auf die beiden Spieler statt auf den Gang des Spiels
geachtet. Denn der geistige Gegensatz im Habitus der beiden Partner wurde im
Verlauf der Partie immer mehr körperlich plastisch. Czentovic, der
Routinier, blieb während der ganzen Zeit unbeweglich wie ein Block, die
Augen streng und starr auf das Schachbrett gesenkt; Nachdenken schien bei
ihm eine geradezu physische Anstrengung, die alle seine Organe zu äußerster
Konzentration nötigte. Dr. B. dagegen bewegte sich vollkommen locker und
unbefangen. Als der rechte Dilettant im schönsten Sinne des Wortes, dem im
Spiel nur das Spiel, das 'diletto' Freude macht, ließ er seinen Körper
völlig entspannt, plauderte während der ersten Pausen erklärend mit uns,
zündete sich mit leichter Hand eine Zigarette an und blickte immer nur
gerade, wenn an ihn die Reihe kam, eine Minute auf das Brett. Jedes Mal
hatte es den Anschein, als hätte er den Zug des Gegners schon im voraus
erwartet.
Die obligaten Eröffnungszüge ergaben sich ziemlich rasch. Erst beim
siebenten oder achten schien sich etwas wie ein bestimmter Plan zu
entwickeln. Czentovic verlängerte seine Überlegungspausen; daran spürten
wir, dass der eigentliche Kampf um die Vorhand einzusetzen begann. Aber um
der Wahrheit die Ehre zu geben, bedeutete die allmähliche Entwicklung der
Situation wie jede richtige Turnierpartie für uns Laien eine ziemliche
Enttäuschung. Denn je mehr sich die Figuren zu einem sonderbaren Ornament
ineinander verflochten, um so undurchdringlicher wurde für uns der
eigentliche Stand. Wir konnten weder wahrnehmen, was der eine Gegner noch
was der andere beabsichtigte, und wer von den beiden sich eigentlich im
Vorteil befand. Wir merkten bloß, dass sich einzelne Figuren wie Hebel
vorschoben, um die feindliche Front aufzusprengen, aber wir vermochten nicht
– da bei diesen überlegenen Spielern jede Bewegung immer auf mehrere Züge
vorauskombiniert war –, die strategische Absicht in diesem Hin und Wider zu
erfassen. Dazu gesellte sich allmählich eine lähmende Ermüdung, die
hauptsächlich durch die endlosen Überlegungspausen Czentovics verschuldet
war, die auch unseren Freund sichtlich zu irritieren begannen. Ich
beobachtete beunruhigt, wie er, je länger die Partie sich hinzog, immer
unruhiger auf seinem Sessel herumzurücken begann, bald aus Nervosität eine
Zigarette nach der anderen anzündend, bald nach dem Bleistift greifend, um
etwas zu notieren. Dann wieder bestellte er ein Mineralwasser, das er Glas
um Glas hastig hinabstürzte; es war offenbar, dass er hundertmal schneller
kombinierte als Czentovic. jedes Mal, wenn dieser nach endlosem Überlegen
sich entschloss, mit seiner schweren Hand eine Figur vorwärtszurücken,
lächelte unser Freund nur wie jemand, der etwas lang Erwartetes eintreffen
sieht, und ripostierte bereits. Er musste mit seinem rapid arbeitenden
Verstand im Kopf alle Möglichkeiten des Gegners vorausberechnet haben; je
länger darum Czentovics Entschließung sich verzögerte, um so mehr wuchs
seine Ungeduld, und um seine Lippen presste sich während des Wartens ein
ärgerlicher und fast feindseliger Zug. Aber Czentovic ließ sich keineswegs
drängen. Er überlegte stur und stumm und pausierte immer länger, je mehr
sich das Feld von Figuren entblößte. Beim zweiundvierzigsten Zuge, nach
geschlagenen zweidreiviertel Stunden, saßen wir schon alle ermüdet und
beinahe teilnahmslos um den Turniertisch. Einer der Schiffsoffiziere hatte
sich bereits entfernt, ein anderer ein Buch zur Lektüre genommen und blickte
nur bei jeder Veränderung für einen Augenblick auf. Aber da geschah
plötzlich bei einem Zuge Czentovics das Unerwartete. Sobald Dr. B. merkte,
dass Czentovic den Springer fasste, um ihn vorzuziehen, duckte er sich
zusammen wie eine Katze vor dem Ansprung. Sein ganzer Körper begann zu
zittern, und kaum hatte Czentovic den Springerzug getan, schob er scharf die
Dame vor, sagte laut triumphierend: „So! Erledigt!", lehnte sich zurück,
kreuzte die Arme über der Brust und sah mit herausforderndem Blick auf
Czentovic. Ein heißes Licht glomm plötzlich in seiner Pupille.
Unwillkürlich beugten wir uns über das Brett, um den so triumphierend
angekündigten Zug zu verstehen. Auf den ersten Blick war keine direkte
Bedrohung sichtbar. Die Äußerung unseres Freundes musste sich also auf eine
Entwicklung beziehen, die wir kurzdenkenden Dilettanten noch nicht errechnen
konnten. Czentovic war der einzige unter uns, der sich bei jener
herausfordernden Ankündigung nicht gerührt hatte; er saß so
unerschütterlich, als ob er das beleidigende 'Erledigt!' völlig überhört
hätte. Nichts geschah. Man hörte, da wir alle unwillkürlich den Atem
anhielten, mit einemmal das Ticken der Uhr, die man zur Feststellung der
Zugzeit auf den Tisch gelegt hatte. Es wurden drei Minuten, sieben Minuten,
acht Minuten – Czentovic rührte sich nicht, aber mir war, als ob sich von
einer inneren Anstrengung seine dicken Nüstern noch breiter dehnten. Unserem
Freunde schien dieses stumme Warten ebenso unerträglich wie uns selbst. Mit
einem Ruck stand er plötzlich auf und begann im Rauchzimmer auf und ab zu
gehen, erst langsam, dann schneller und immer schneller. Alle blickten wir
ihm etwas verwundert zu, aber keiner beunruhigter als ich, denn mir fiel
auf, dass seine Schritte trotz aller Heftigkeit dieses Auf und Ab immer nur
die gleiche Spanne Raum ausmaßen; es war, als ob er jedes Mal mitten im
leeren Zimmer an eine unsichtbare Schranke stieße, die ihn nötigte
umzukehren. Und schaudernd erkannte ich, es reproduzierte unbewusst dieses
Auf und Ab das Ausmaß seiner einstmaligen Zelle; genau so musste er in den
Monaten des Eingesperrtseins auf und ab gerannt sein wie ein eingesperrtes
Tier im Käfig, genau so die Hände verkrampft und die Schultern eingeduckt;
so und nur so musste er dort tausendmal auf und nieder gelaufen sein, die
roten Lichter des Wahnsinns im starren und doch fiebernden Blick. Aber noch
schien sein Denkvermögen völlig intakt, denn von Zeit zu Zeit wandte er sich
ungeduldig dem Tisch zu, ob Czentovic sich inzwischen schon entschieden
hätte. Aber es wurden neun, es wurden zehn Minuten. Dann endlich geschah,
was niemand von uns erwartet hatte. Czentovic hob langsam seine schwere
Hand, die bisher unbeweglich auf dem Tisch gelegen. Gespannt blickten wir
alle auf seine Entscheidung. Aber Czentovic tat keinen Zug, sondern sein
gewendeter Handrücken schob mit einem entschiedenen Ruck alle Figuren
langsam vom Brett. Erst im nächsten Augenblick verstanden wir: Czentovic
hatte die Partie aufgegeben. Er hatte kapituliert, um nicht vor uns sichtbar
mattgesetzt zu werden. Das Unwahrscheinliche hatte sich ereignet, der
Weltmeister, der Champion zahlloser Turniere hatte die Fahne gestrichen vor
einem Unbekannten, einem Manne, der zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre kein
Schachbrett angerührt. Unser Freund, der Anonymus, der Ignotus, hatte den
stärksten Schachspieler der Erde in offenem Kampfe besiegt!
Ohne es zu merken, waren wir in unserer Erregung einer nach dem anderen
aufgestanden. jeder von uns hatte das Gefühl, er müsste etwas sagen oder
tun, um unserem freudigen Schrecken Luft zu machen. Der einzige, der
unbeweglich in seiner Ruhe verharrte, war Czentovic. Erst nach einer
gemessenen Pause hob er den Kopf und blickte unseren Freund mit steinernem
Blick an.
„Noch eine Partie?", fragte er.
„Selbstverständlich", antwortete Dr. B. mit einer mir unangenehmen
Begeisterung und setzte sich, noch ehe ich ihn an seinen Vorsatz mahnen
konnte, es bei einer Partie bewenden zu lassen, sofort nieder und begann mit
fiebriger Hast die Figuren neu aufzustellen. Er rückte sie mit solcher
Hitzigkeit zusammen, dass zweimal ein Bauer durch die zitternden Finger zu
Boden glitt; mein schon früher peinliches Unbehagen angesichts seiner
unnatürlichen Erregtheit wuchs zu einer Art Angst. Denn eine sichtbare
Exaltiertheit war über den vorher so stillen und ruhigen Menschen gekommen;
das Zucken fuhr immer öfter um seinen Mund, und sein Körper zitterte wie von
einem jähen Fieber geschüttelt.
„Nicht!", flüsterte ich ihm leise zu. „Nicht jetzt! Lassen Sie's für heute
genug sein! Es ist für Sie zu anstrengend."
„Anstrengend! Ha!", lachte er laut und boshaft. „Siebzehn Partien hätte ich
unterdessen spielen können statt dieser Bummelei! Anstrengend ist für mich
einzig, bei diesem Tempo nicht einzuschlafen! – Nun! Fangen Sie doch schon
einmal an!"
Diese letzten Worte hatte er in heftigem, beinahe grobem Ton zu Czentovic
gesagt. Dieser blickte ihn ruhig und gemessen an, aber sein steinern starrer
Blick hatte etwas von einer geballten Faust. Mit einemmal stand etwas Neues
zwischen den beiden Spielern; eine gefährliche Spannung, ein
leidenschaftlicher Hass. Es waren nicht zwei Partner mehr, die ihr Können
spielhaft aneinander proben wollten, es waren zwei Feinde, die sich
gegenseitig zu vernichten geschworen. Czentovic zögerte lange, ehe er den
ersten Zug tat, und mich überkam das deutliche Gefühl, er zögerte mit
Absicht so lange. Offenbar hatte der geschulte Taktiker schon
herausgefunden, dass er gerade durch seine Langsamkeit den Gegner ermüdete
und irritierte. So setzte er nicht weniger als vier Minuten aus, ehe er die
normalste, die simpelste aller Eröffnungen machte, indem er den Königsbauern
die üblichen zwei Felder vorschob. Sofort fuhr unser Freund mit seinem
Königsbauern ihm entgegen, aber wieder machte Czentovic eine endlose, kaum
zu ertragende Pause; es war, wie wenn ein starker Blitz niederfährt und man
pochenden Herzens auf den Donner wartet, und der Donner kommt und kommt
nicht. Czentovic rührte sich nicht. Er überlegte still, langsam und, wie ich
immer gewisser fühlte, boshaft langsam; damit aber gab er mir reichlich
Zeit, Dr. B. zu beobachten. Er hatte eben das dritte Glas Wasser
hinabgestürzt; unwillkürlich erinnerte ich mich, dass er mir von seinem
fiebrigen Durst in der Zelle erzählte. Alle Symptome einer anomalen Erregung
zeichneten sich deutlich ab; ich sah seine Stirne feucht werden und die
Narbe auf seiner Hand röter und schärfer als zuvor. Aber noch beherrschte er
sich. Erst als beim vierten Zug Czentovic wieder endlos überlegte, verließ
ihn die Haltung, und er fauchte ihn plötzlich an:
„So spielen Sie doch schon endlich einmal!"
Czentovic blickte kühl auf. „Wir haben meines Wissens zehn Minuten Zugzeit
vereinbart. Ich spiele prinzipiell nicht mit kürzerer Zeit."
Dr. B. bis sich die Lippe; ich merkte, wie unter dem Tisch seine Sohle
unruhig und immer unruhiger gegen den Boden wippte, und wurde selbst
unaufhaltsam nervöser durch das drückende Vorgefühl, dass sich irgend etwas
Unsinniges in ihm vorbereitete. In der Tat ereignete sich bei dem achten Zug
ein zweiter Zwischenfall. Dr. B., der immer unbeherrschter gewartet hatte,
konnte seine Spannung nicht mehr verhalten; er rückte hin und her und begann
unbewusst mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln. Abermals hob Czentovic
seinen schweren bäurischen Kopf.
„Darf ich Sie bitten, nicht zu trommeln? Es stört mich. Ich kann so nicht
spielen."
„Ha!", lachte Dr. B. kurz. „Das sieht man."
Czentovics Stirn wurde rot. „Was wollen Sie damit sagen?" fragte er scharf
und böse.
Dr. B. lachte abermals knapp und boshaft. „Nichts. Nur dass Sie offenbar
sehr nervös sind."
Czentovic schwieg und beugte seinen Kopf nieder. Erst nach sieben Minuten
tat er den nächsten Zug, und in diesem tödlichen Tempo schleppte sich die
Partie fort. Czentovic versteinte gleichsam immer mehr; schließlich
schaltete er immer das Maximum der vereinbarten Überlegungspause ein, ehe er
sich zu einem Zug entschloss, und von einem Intervall zum andern wurde das
Benehmen unseres Freundes sonderbarer. Es hatte den Anschein, als ob er an
der Partie gar keinen Anteil mehr nehme, sondern mit etwas ganz anderem
beschäftigt sei. Er ließ sein hitziges Aufundniederlaufen und blieb an
seinem Platz regungslos sitzen. Mit einem stieren und fast irren Blick ins
Leere vor sich starrend, murmelte er ununterbrochen unverständliche Worte
vor sich hin; entweder verlor er sich in endlosen Kombinationen, oder er
arbeitete – dies war mein innerster Verdacht – sich ganz andere Partien aus,
denn jedes Mal, wenn Czentovic endlich gezogen hatte, musste man ihn aus
seiner Geistesabwesenheit zurückmahnen. Dann brauchte er immer einige
Minuten, um sich in der Situation wieder zurechtzufinden; immer mehr
beschlich mich der Verdacht, er habe eigentlich Czentovic und uns alle
längst vergessen in dieser kalten Form des Wahnsinns, der sich plötzlich in
irgendeiner Heftigkeit entladen konnte. Und tatsächlich, bei dem neunzehnten
Zug brach die Krise aus. Kaum dass Czentovic seine Figur bewegt, stieß Dr.
B. plötzlich, ohne recht auf das Brett zu blicken, seinen Läufer drei Felder
vor und schrie derart laut, dass wir alle zusammenfahren:
„Schach! Schach dem König!"
Wir blickten in der Erwartung eines besonderen Zuges sofort auf das Brett.
Aber nach einer Minute geschah, was keiner von uns erwartet. Czentovic hob
ganz, ganz langsam den Kopf und blickte – was er bisher nie getan – in
unserem Kreise von einem zum andern. Er schien irgend etwas unermesslich zu
genießen, denn allmählich begann auf seinen Lippen ein zufriedenes und
deutlich höhnisches Lächeln. Erst nachdem er diesen seinen uns noch
unverständlichen Triumph bis zur Neige genossen, wandte er sich mit falscher
Höflichkeit unserer Runde zu.
„Bedaure – aber ich sehe kein Schach. Sieht vielleicht einer von den Herren
ein Schach gegen meinen König?"
Wir blickten auf das Brett und dann beunruhigt zu Dr. B. hinüber. Czentovics
Königsfeld war tatsächlich – ein Kind konnte das erkennen durch einen Bauern
gegen den Läufer völlig gedeckt, also kein Schach dem König möglich. Wir
wurden unruhig. Sollte unser Freund in seiner Hitzigkeit eine Figur
danebengestoßen haben, ein Feld zu weit oder zu nah? Durch unser Schweigen
aufmerksam gemacht, starrte jetzt auch Dr. B. auf das Brett und begann
heftig zu stammeln:
„Aber der König gehört doch auf f7... er steht falsch, ganz falsch. Sie
haben falsch gezogen! Alles steht ganz falsch auf diesem Brett... der Bauer
gehört doch auf g5 und nicht auf g 4... das ist ja eine ganz andere
Partie... Das ist..."
Er stockte plötzlich. Ich hatte ihn heftig am Arm gepackt oder vielmehr ihn
so hart in den Arm gekniffen, dass er selbst in seiner fiebrigen
Verwirrtheit meinen Griff spüren musste. Er wandte sich um und starrte mich
wie ein Traumwandler an.
„Was... was wollen Sie?"
Ich sagte nichts als „Remember!" und fuhr ihm gleichzeitig mit dem Finger
über die Narbe seiner Hand. Er folgte unwillkürlich meiner Bewegung, sein
Auge starrte glasig auf den blutroten Strich. Dann begann er plötzlich zu
zittern, und ein Schauer lief über seinen ganzen Körper.
„Um Gottes willen", flüsterte er mit blassen Lippen. „Habe ich etwas
Unsinniges gesagt oder getan... bin ich am Ende wieder...?"
„Nein", flüsterte ich leise. „Aber Sie müssen sofort die Partie abbrechen,
es ist höchste Zeit. Erinnern Sie sich, was der Arzt Ihnen gesagt hat!"
Dr. B. stand mit einem Ruck auf. „Ich bitte um Entschuldigung für meinen
dummen Irrtum", sagte er mit seiner alten höflichen Stimme und verbeugte
sich vor Czentovic. „Es ist natürlich purer Unsinn, was ich gesagt habe.
Selbstverständlich bleibt es Ihre Partie." Dann wandte er sich zu uns. „Auch
die Herren muss ich um Entschuldigung bitten. Aber ich hatte Sie gleich im
voraus gewarnt, Sie sollten von mir nicht zuviel erwarten. Verzeihen Sie die
Blamage – es war das letzte Mal, dass ich mich im Schach versucht habe."
Er verbeugte sich und ging, in der gleichen bescheidenen und geheimnisvollen
Weise, mit der er zuerst erschienen. Nur ich wusste, warum dieser Mann nie
mehr ein Schachbrett berühren würde, indes die andern ein wenig verwirrt
zurückblieben mit dem ungewissen Gefühl, mit knapper Not etwas Unbehaglichem
und Gefährlichem entgangen zu sein. „Damned fool!" knurrte McConnor in
seiner Enttäuschung. Als letzter erhob sich Czentovic von seinem Sessel und
warf noch einen Blick auf die halbbeendete Partie.
„Schade", sagte er großmütig. „Der Angriff war gar nicht so übel disponiert.
Für einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt."
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